Auf dem Lieferschein: tausendfacher Tod
Deutschland räumt Bundeswehr-Altdepots und rüstet mit den Waffen vier kurdische Großverbände aus
Von René Heilig *
Es mangelt nicht an Waffen in Irak, hört man aus Kreisen der Opposition, daher müsse man auch an die Kurden keine liefern. Doch was die Bundesregierung nun beschloss, ist von ganz anderer Qualität.
Dass an die Peschmerga-Kämpfer, die in Nordirak den anstürmenden Milizen des Islamischen Staates (IS) Widerstand leisten, en masse Schutzausrüstung geliefert werden, war klar. Doch nun kommen zu den 4000 Gefechtshelmen, den Kampfwesten, Infrarotoptiken, Funkgeräten und Minensuchgeräten die eigentlichen brisanten Stücke hinzu. Insgesamt will man 8000 G 3- und ebenso viele G 36-Sturmgewehre, 8000 P 1-Pistolen, 40 MG-3-Maschinengewehre samt Munition sowie 240 Panzerfäuste und 30 Werfer für »Milan«-Panzerabwehr-Raketen liefern. Dazu kommen einige Millionen Schuss Munition, 500 Lenkraketen, 10 000 Handgranaten sowie 106 geländegängige Fahrzeuge, darunter fünf Dingo-Radpanzer.
Die Waffen sollen in drei Tranchen geliefert werden. Man fliegt die Rüstungsgüter zunächst für einen kurzen Stopp nach Bagdad. Dort werden sie von der Zentralregierung inspiziert. Danach starten die Maschinen ins Kurdenzentrum nach Erbil. Damit kommt die Bundesregierung der völkerrechtlichen Verpflichtung nach, solche Rüstungslieferungen nur mit dazu legitimierten Regierung abzuwickeln. Andere Staaten, die Waffen und Munition liefern, würden genau so verfahren, hieß es aus dem Verteidigungsministerium, das damit auf die grundsätzlich rechtlich korrekte Abwicklung hinweisen will.
Die Lage in Irak sei »äußerst kritisch«. Deshalb bleibe die Weltgemeinschaft gefordert, »diejenigen zu schützen, die verfolgt werden, aber eben auch diejenigen zu unterstützen, die sich dem IS entgegenstellen«. Sich dabei zu engagieren, sei sowohl »in unserer humanitären Verantwortung als auch in unserem sicherheitspolitischen Interesse«, sagte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am späten Sonntagabend.
Bis zum Ende der vergangenen Woche sei humanitäre Hilfe im Wert von 50 Millionen Euro geleistet worden. Rund 150 Tonnen humanitärer Güter habe vor allem die Bundeswehr nach Nordirak geliefert. Doch viele Länder wollten sich »robuster engagieren. Auch Deutschland«. Man stimme alles mit den Partnern ab, es gebe also »keinen deutschen Sonderweg«.
Zunächst will Deutschland einen Großverband mit 4000 Mann »konzeptionell und durchgehend ausstatten«. Dafür gibt es in der ersten Lieferung 4000 ältere G 3-Sturmgewehre mit einer Million Schuss, 20 MG 3 mit 500 000 Schuss, 4000 Pistolen, 20 Panzerabwehrlenkraketensysteme Milan mit 300 Raketen und 100 Panzerfäuste vom Typ Panzerfaust 3 mit 1250 Schuss, sowie eine schwerere Variante mit 500 Schuss. 50 Signalpistolen haben man ebenfalls dabei. Dazu kommen 30 gepanzerte, aber auch ungeschützte Mercedes-Geländewagen sowie 20 UNIMOG-Laster.
Die Lieferung dieser Waffen werde voraussichtlich den September über dauern, sagte von der Leyen. Doch man wolle »nicht über den Bedarf hinaus« liefern. Bevor die zwei weiter geplanten Tranchen auf den Weg geschickt werden, wolle man »lageabhängig« prüfen, was gebraucht werde. Mit der abschnittsweise organisierten Lieferung der Munition will man sich eine weitere Kontrollmöglichkeit offen halten. Denn natürlich weiß man in Berlin, dass die Kurden neben der Abwehr der IS-Angreifer auch andere Ziele verfolgen. Natürlich wisse man, dass Waffen unkontrolliert weitergegeben werden könnten, hieß es. Wohl auch deshalb will man die modernen G 36 samt den vier Millionen Schuss erst als dritte Tranche liefern. Falls überhaupt.
Anzahl wie Art der Waffen haben selbst Fachleute erstaunt. Immerhin lassen sich damit vier kampfstarke Infanterie-Verbände mit je 4000 Mann ausstatten. Doch das ist nur die rechnerische Variante. Die Ausrüstung mit bestimmten Waffen zwingen zu taktischen Einsatzvarianten, die man quasi nebenbei mitliefert. Und so ist wohl auch die Feststellung aus dem Verteidigungsministerium zu verstehen, dass die Peschmerga mit Hilfe der deutschen Waffen, Gerätschaften und Fahrzeuge – unterstützt durch US-Luftangriffe – nicht nur ihr bislang gesichertes Territorium halten können, sondern »gegebenenfalls« auch verlorengegangene Gebiete zurückerobern können.
Wozu freilich eine gewisse Ausbildung notwendig ist. Bei den Handfeuerwaffen reichen sicher Einweisungen im Stundenbereich. Anders wird das bei den Panzerfäusten und den Milan-Raketen. Dazu will man dem Vernehmen nach »kurdische Multiplikatoren« für jeweils eine Woche nach Deutschland holen. Als Trainingsort in Rede steht der Truppenübungsplatz Hammelburg.
Bis auf wenige Ausnahmen liefert Deutschland älteres Material, das die Depots der Bundeswehr belastet. Das mag Haushälter des Bundestages interessieren, wenn sie demnächst über Ersatzbeschaffungen zu befinden haben. Milan-Raketen beispielsweise sollen bis 2016 ausgesondert werden. Der deutsch-französische Waffentyp ist auch in der jetzt als Adresse beschriebenen Region durchaus bekannt. Bereits 1978 hat die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt (SPD) 4400 Stück nach Syrien liefern lassen. Möglich, dass IS-Trupps sich einige davon angeeignet haben. Auch Katar und Saudi-Arabien lieferten Material an die IS. denkbar also, dass demnächst islamistische Terroristen wie Kurden mit Raketen aus Deutschland aufeinander feuern.
* Aus: neues deutschland, Dienstag 2. September 2014
»Wenn der Irak etwas genug hat, sind es Waffen«
Gysi in Bundestagsdebatte: Am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen über deutsche Waffenlieferungen zu reden, ist »stillos«
Von Fabian Lambeck **
Der Bundestag unterstützt die militärischen Lieferungen an die irakischen Kurden. Nur die LINKE erwies sich als konsequente Gegnerin solcher Exporte und militärischer Interventionen.
In mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich war die Sondersitzung des Bundestages. Zum einen kamen die Abgeordneten erstmals zusammen, um über deutsche Waffenexporte an eine aktive Kriegspartei zu beraten. Zum anderen waren die drei Entschließungsanträge von Koalition, LINKEN und Grünen, über die abgestimmt wurde, symbolischer Natur. Denn die Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden waren längst abgesegnet. Zudem jährte sich der Überall auf Polen durch die deutsche Wehrmacht am Montag zum 75. Mal.
Die Kanzlerin ging in ihrer Regierungserklärung ausführlich auf den 1. September 1939 ein. Deutschland trage die geschichtliche Verantwortung und dazu bekenne sich die Bundesregierung, so Merkel. Die Kanzlerin vermied es in den ersten zehn Minuten ihrer Rede tunlichst, die umstrittenen Waffenexporte zu erwähnen. Nach langen Exkursen über den Krieg in der Ukraine und vergangene Kontroversen über Bundeswehreinsätze in Jugoslawien oder Afghanistan leitete die, für ihr Konzept der strategischen Demobilisierung bekannte Regierungschefin auf die aktuelle Diskussion über. Kein Konflikt lasse sich nur militärisch lösen. Doch es gebe »Situationen, in denen nur noch militärische Mittel helfen, um wieder diplomatische Optionen zu haben«. Zwar sei der Waffenexport »eine Entscheidung, die sorgsam abzuwägen ist«. Durch Waffen aus Bundeswehrbeständen habe man die Chance, »weitere Massenmorde in Irak zu verhindern«. Schließlich versprach Merkel »die zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen«.
Gregor Gysi, der als Chef der größten Oppositionsfraktion direkt nach der Kanzlerin redete, kritisierte es als »stillos«, am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen über Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet zu diskutieren. Gysi forderte, deutsche Waffenexporte generell zu verbieten. Er rügte, dass man den Bundestag in dieser Frage lediglich debattieren lasse: »Wir sind das höchste Organ und wir hätten entscheiden müssen.« Er bezweifelte den Sinn der Lieferungen: »Wenn der Irak etwas genug hat, sind es Waffen«. Allerdings seien deutsche Ausfuhren in Kriegsgebiete nichts Neues. Die Linksfraktion fordert die Regierung auf, umgehend die Befassung des UN-Sicherheitsrat zu fordern, um – gemäß deren Charta – den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren.
Dann machte Gysi eine bemerkenswerte Rechnung auf: Während die Waffen, die man an die Kurden liefern wolle, 70 Millionen Euro wert seien, würden für Hilfsgüter nur 50 Millionen ausgegeben.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann wies diesen Vorwurf zurück. »Wir werden dafür sorgen, dass die humanitäre Hilfe immer höher als die militärische ist«, versprach er. Allerdings musste er einräumen, dass diese Waffen »keinen Rückholschein« hätten. Damit gab der Sozialdemokrat jenen Warnern recht, die fürchten, dass die Kurden die Waffen später einsetzen könnten, um sich vom irakischen Zentralstaat unabhängig zu machen. Oppermann relativierte diese Vorwürfe. Die Gefahr eines fortgesetzten Völkermordes sei größer, als das Risiko durch exportierte Waffen. Der Grünen Fraktionschef Anton Hofreiter offenbarte in seinen elf Minuten Redezeit, wie gern die Grünen dem Entschließungsantrag von Union und SPD zugestimmt hätten. Doch da die ehemaligen Pazifisten derzeit Oppositionspartei sind, hatten die Grünen einen eigenen Antrag erarbeitet. Ausdrücklich lobte Hofreiter die Luftschläge der USA in Nordirak und betonte: »Der Einsatz militärischer Mittel ist manchmal auch geboten«.
Wer mit Bauchschmerzen Kriegseinsätzen zustimmt, hat im Zweifelsfall auch nichts gegen die Ausfuhr von Kriegsgerät. Man müsse aber jeden Einzelfall betrachten, so Hofreiter. Denn »Waffen könnten der Treibstoff für künftige innerirakische Konflikte sein«. Nicht mehr als eine Fußnote war die Abstimmung zu den Anträgen. Mit großer Mehrheit ging der Regierungsentwurf durch.
** Aus: neues deutschland, Dienstag 2. September 2014
Geschenke für den Krieg
Deutschland liefert Waffen an Kurden-Milizen – Ukraine möchte auch welche haben
Von Jürgen Reents ***
Die Bundesregierung verteidigte am Montag im Bundestag ihre Entscheidung, Waffen an die kurdischen Milizen in Irak zu liefern. Das Geschenk hat einen Wert von rund 70 Millionen Euro. Im Kern ging es jedoch um mehr: um eine stärkere Bewaffnung der deutschen Außenpolitik.
Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst war es, die im Bundestag das Thema weit über die geplanten Waffenlieferungen hinaus öffnete: Sie rief die kontroversen Diskussionen um den »Einsatz« der Bundeswehr in Jugoslawien und Afghanistan in Erinnerung und sprach über den NATO-Gipfel am Donnerstag in Wales. Dieser wird sich vor allem mit der Ukraine befassen. Genauer zu sagen wäre: Er wird weiteren Brennstoff für den dortigen Konflikt zusammentragen. Der zum Oktober scheidende NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen kündigte bereits an, das Militärbündnis werde eine schnelle Eingreiftruppe für Osteuropa als »Speerspitze« beschließen.
Russland und der Islamische Staat – das sind die beiden Mega-Bösen, die die deutsche Außenpolitik derzeit kennt. Sie haben nicht das Geringste miteinander zu tun, sind grundverschieden, doch die Drohbilder werden gleichermaßen benutzt, um eine »größere Verantwortung« Deutschlands in der Welt einzufordern und zu behaupten.
Natürlich betonten die Kanzlerin wie andere Koalitionsredner, dass niemand so friedlich sei wie Deutschland. Aber, so Merkel: »Es gibt Situationen, in denen nur noch militärische Mittel helfen, um wieder eine politische Option zu erhalten.«
Im Falle der Kriegs- und Krisenregion in und rund um Irak sind es die von einigen als »Tabubruch«, von anderen als »Ausnahme« bezeichneten Waffengeschenke an die kurdischen Milizen, die als Verantwortung bemäntelt werden. Sie sind es nicht. Denn es wissen doch alle, dass die Existenz, der Aufschwung und der brutale Terror solcher Organisationen wie Islamischer Staat nicht militärisch zu besiegen sind. Schließlich liegen ihre Ursachen eben in einem Krieg, den der Westen seit Jahrzehnten ideologisch und militärisch gegen arabische und islamische Gesellschaften führt, in einer tiefen Enttäuschung dort lebender Menschen über den armierten westlichen »Demokratieexport«, nicht zuletzt mithin im US-Krieg in Irak, der das Land in die völlige Instabilität getrieben hat.
Das Argument, mit den Waffenlieferungen einen Völkermord zu verhindern, ist ähnlich raubeinig, wie es die Fabel von Joschka Fischer einst war, Serbien den Krieg zu erklären, um ein neues Auschwitz zu verhindern. Die Bundeskanzlerin hat, wohl ungewollt, das Augenmerk so auf einen tatsächlichen Zusammenhang gelenkt: Was zunehmend bewaffnet wird, ist die deutsche Außenpolitik.
Hinsichtlich der Ukraine dementieren Angela Merkel und ihre Koalition jedwede militärische Einmischung, doch schnüren etliche Politiker und Militärs in der NATO bereits die Kampfstiefel für alle Fälle. Der ukrainische Präsident Poroschenko hat verschiedentlich, mit lauter Unterstützung aus Polen, seinen Wunsch sowohl nach Waffenhilfe wie nach einem Beitritt in das westliche Militärbündnis geäußert, weil dies die Rampe ist, um einen »Bündnisfall« herbeizuführen. US-Senatoren beider Parteienlager, Demokraten wie Republikaner, befeuern diesen Wunsch vehement: »Gebt ihnen die Waffen, die sie brauchen«, fordert etwa John McCain aus Arizona. Angekündigt sind neben der von Rasmussen so titulierten »Speerspitze« auch fünf neue Stützpunkte der NATO in den baltischen Staaten und in Polen.
Der polnische Regierungschef und künftige EU-Ratspräsident Donald Tusk warnte in seinem gestrigen Gedenken an den Überfall Nazi-Deutschlands auf sein Land vor 75 Jahren, die Parole »Nie wieder Krieg« dürfe »kein Manifest der Schwachen« sein. Litauens Staatschefin Dalia Grybauskaite warf Russland vor, sich »praktisch im Krieg gegen Europa« zu befinden, und Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn orakelte, die Diplomatie stoße »angesichts der immer neuen russischen Aggressionen an ihre Grenzen«. Im Bundestag sind es die Grünen, die eine nahezu waffenstarrende Rhetorik pflegen und »entschiedene Reaktionen gegen Russland« verlangen – so deren Fraktionschef Anton Hofreiter gestern in der »Irak-Debatte« im Bundestag.
Die Öffentlichkeit wird Augenzeuge einer Entwicklung, in der sowohl die realen Waffenlieferungen wie die irrealen Phantasien einer angeblichen »Verantwortungsmacht« als Geschenke an den Krieg ausgereicht werden. Es ist eine ideologische Hinrichtung, an der – bei bislang ausbleibender Empörung – viele Medien aktiv einen eigenen Anteil nehmen. Da wurden Hilfskonvois zu »Putins unheimlicher Kolonne« (Springers »Welt«) und die Opfer des wohl abgeschossenen MH17-Fluges trotz immer noch unaufgeklärter Ursache zu »seinen Toten«, Putins eben (»Spiegel online«).
Die »Bild«-Zeitung titelte gestern, 1. September, Anti-Kriegstag: »Putin greift nach Europa«. Die wohl jenseits von Politik und Medien zu klärende Frage wäre: Kann Europa, kann Deutschland irgendwann wieder zu waffenloser Vernunft greifen?
*** Aus: neues deutschland, Dienstag 2. September 2014
Taube gegen Falken
Bundestag debattiert Waffenhilfe für kurdische Peschmerga. Regierung will 4000 Kämpfer mit Kriegsmaterial ausstatten
Von Stefan Huth ****
Instinktlosigkeit, Geschichtsvergessenheit oder Kalkül? Ausgerechnet am 1. September, dem 75. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Nazideutschland, verteidigte Angela Merkel im Rahmen einer Sondersitzung des Bundestags in Berlin die geplanten deutschen Waffenlieferungen an die irakischen Kurden. In ihrer Regierungserklärung sagte sie, die dortigen Peschmerga-Kämpfer wehrten sich verzweifelt und mit knappen Ressourcen gegen die Bedrohung durch die Miliz des Islamischen Staats (IS), die »unfaßbare Greueltaten« begangen habe. »Wir haben jetzt die Chance, das Leben von Menschen zu retten und weitere Massenmorde zu verhindern.« Es gebe »Situationen, in denen nur noch militärische Mittel helfen, um wieder diplomatische Optionen zu haben«, rechtfertigte sie die Lieferung von Waffen in das Kriegsgebiet.
Mit Blick auf den Jahrestag sagte die Kanzlerin, Deutschland bekenne sich zu seiner Verantwortung. Aus den Feinden im Zweiten Weltkrieg seien längst Freunde geworden.
Im Anschluß an Merkels Rede und eine zweistündige Debatte stimmte das Parlament am Montag in einem symbolischen Akt mit großer Mehrheit den Regierungsplänen zu – ein echtes Mitspracherecht hatte es in dieser Frage nicht. Der Rüstungsexport war bereits am Sonntag abend im Kanzleramt von einer Ministerrunde unter Leitung Merkels beschlossen worden. Bis zu 4000 Soldaten sollen innerhalb des nächsten Monats mit diversen Waffen aus Bundeswehrbeständen im Wert von etwa 70 Millionen Euro ausgestattet werden – darunter 30 Panzerabwehrraketenwerfer vom Typ »Milan« mit 500 Geschossen, 40 Maschinengewehre, je 8000 Sturmgewehre der Typen G3 und G36, 200 Panzerfäuste, 10 000 Handgranaten und 100 LKW. Die Ausbildung einzelner kurdischer Soldaten durch die Bundeswehr wird in der Infanterieschule im bayerischen Hammelburg (Unterfranken) erfolgen. Dort sollen sie in einem einwöchigen Lehrgang an dem aus Deutschland gelieferten Material trainiert werden, vor allem an den Panzerabwehrwaffen »Milan«. Bereits am Sonntag hatte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in einem Interview mit der Bild am Sonntag betont: »Es gab und gibt keinen Automatismus, künftig irgendwohin Waffen zu liefern«. »Daß wir inzwischen parteiübergreifend offener diskutieren, ist keine Militarisierung der deutschen Politik.«
In der Debatte im Plenum sprach sich die Fraktion der Linken als größte Oppositionspartei strikt gegen die geplanten Rüstungsexporte aus. Auch die Grünen stimmten mehrheitlich dagegen. Fraktionschef Anton Hofreiter verteidigte das »Nein« zu Waffenlieferungen Deutschlands in den Nordirak: Manche Argumente seien nachvollziehbar, aber die Grünen kämen mehrheitlich zu einer anderen Meinung. »Niemand kann kontrollieren, wo diese Waffen am Ende landen oder zu welchem Zweck sie eingesetzt werden.« Linksfraktionschef Gregor Gysi kritisierte das mangelnde Mitspracherecht des Bundestages bei den geplanten Waffenlieferungen. Dies gelte umso mehr, als die deutschen Waffen an Kampfverbände gingen, die nicht der irakischen Regierung unterstünden, sagte Gysi, der auch an die »Kriegslügen« Washingtons aus dem Jahr 2003 erinnerte, mit denen der Krieg gegen den Irak begründet worden war und der die endgültige Zerstörung des Landes einleitete – eine »Grundfeststellung« zur Erklärung der aktuellen Zuspitzungen dort. Die Linkspartei-Abgeordnete Ulla Jelpke plädierte wie Gysi für eine Aufhebung des PKK-Verbots: »Beenden Sie die Kriminalisierung derjenigen, die im Nahen Osten am effektivsten gegen das Terrorkalifat kämpfen.« Jelpke forderte, humanitäre Hilfe in die Region zu liefern und das Embargo gegen die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien (Rojava) aufzuheben. Im Vorfeld der Debatte hatten fünf Linke-MdB um den Abgeordneten Stefan Liebich kurz vor ultimo versucht, in den Entschließungsantrag ihrer Fraktion die Forderung an den UN-Sicherheitsrat einzubauen, im Irak »eine Sicherheitszone« einzurichten, »und ihm dabei Unterstützung anzubieten«. Was zweifellos ohne militärische Mittel unmöglich wäre.
Während im Bundestag über die friedensstiftende Kraft von Waffen debattiert wurde, mobilisierten Friedensgruppen und Gewerkschaften zum Antikriegstag 2014 landesweit zu über 180 Veranstaltungen. Im zentralen Aufruf wurde u.a. gefordert, »endlich und deutlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen, insbesondere aus Syrien und dem Nahen Osten«, »Rüstungsexporte in Konfliktregionen prinzipiell zu verbieten« und »alle nationalen sowie NATO-Aktivitäten zu unterbinden, die zu einer weiteren Eskalation der Krise in der Ukraine beitragen können«.
**** Aus: junge Welt, Dienstag 2. September 2014
UNO fordert Verfolgung der IS-Verbrechen
»Akte der Unmenschlichkeit auf unvorstellbarem Niveau«
Die Vereinten Nationen fordern eine entschlossene Strafverfolgung der Kriegsverbrechen des Terrornetzwerks »Islamischer Staat« (IS) in Irak. Die Regierung in Bagdad müsse mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft die Täter zur Rechenschaft ziehen, verlangte die stellvertretende UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Flavia Pansieri, am Montag in Genf. Pansieri sagte bei einer Sondersitzung des UNO-Menschenrechtsrates zu Irak, IS-Angehörige hätten »Akte der Unmenschlichkeit auf einem unvorstellbaren Niveau« verübt. Nach ihren Angaben töteten die sunnitischen IS-Milizen in den vergangenen Monaten in den von ihnen eroberten Gebieten in Nord-Irak wahllos Angehörige anderer ethnischer oder religiöser Gemeinschaften. Besonders betroffen seien Christen, Jesiden und Schiiten. Über eine Million Menschen seien vor der Gewalt geflohen.
Die stellvertretende Hochkommissarin machte IS auch für erzwungene Religionsübertritte, Verschleppungen, Sklaverei, sexuelle Gewalt, Folter und die Belagerung von Ortschaften verantwortlich. Die Extremisten missbrauchten Kinder als Soldaten und zerstörten mutwillig Moscheen, Kirchen und andere religiöse und kulturelle Monumente.
Vertreter muslimischer Staaten verurteilten ebenfalls die IS-Terroristen. Der Gesandte Marokkos erklärte, dass die Gewaltakte des IS nicht durch den islamischen Glauben gedeckt seien. Der IS greife alle Religionen an. Der Vertreter der Vereinigten Arabischen Emirate sprach von »barbarischen Akten«. Pakistans Regierungsvertreter erinnerte an das Leid der irakischen Zivilbevölkerung, deren Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und anderen humanitären Gütern gefährdet sei.
Der Menschenrechtsrat wollte später am Montag über eine Resolution abstimmen, die von europäischen Staaten und Irak eingebracht wurde. Darin wird die Aufstellung einer Untersuchungsmission gefordert, welche die Verbrechen der IS-Milizen in Irak dokumentieren soll. Die Liste könnte als Grundlage für eine Strafverfolgung dienen.
Durch die Gewalt in Irak sind nach UN-Angaben allein im August mehr als 1400 Menschen getötet worden. In Folge der von Dschihadisten geführten Offensive in Irak habe es im vergangenen Monat mindestens 1420 Todesopfer gegeben, teilte die Vertretung der Vereinten Nationen in Irak am Montag in Bagdad mit. In demselben Zeitraum seien zudem mindestens 1370 Menschen verletzt worden. Die westirakische Provinz Al-Anbar wurde bei den Zahlen indes nicht berücksichtigt. Die UNO erklärte zudem, es sei schwierig, Vorfälle in umkämpften Gebieten oder Gegenden außerhalb der Kontrolle der Regierung zu verifizieren.
Unterdessen haben kurdische Kämpfer und verbündete schiitische Milizen die irakische Stadt Sulaiman Bek von den Dschihadisten zurückerobert. Die nördliche Stadt sei wieder unter der Kontrolle der »verbündeten Kräfte«, es gehe aber noch immer Gefahr von möglicherweise zurückgelassenen Sprengsätzen aus, sagte der Regierungsverantwortliche für das nahe Gebiet Tus Churmatu, Schallal Abdul Baban, am Montag. Zudem gebe es Kämpfe um die ebenfalls in der Provinz Salaheddin gelegene Ortschaft Jankadscha.
(nd, 02.09.2014)
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