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Schreckgespenst Islam

Der Verfassungsschutz hat den Salafismus als »größte Gefahr« ausgemacht. Wissenschaftler warnen vor »Dramatisierung« und kritisieren die Zahlen des Amtes

Von Sebastian Carlens *

Für den Verfassungsschutz ist klar: Islamisten, vor allem jene der radikalen Spielart des »Salafismus«, der eine Lebensweise nach den Regeln des frühen sunnitischen Islam propagiert, stellen die derzeit »größte Gefahr« für die innere Sicherheit in Deutschland dar. Mehr als 43000 Islamisten soll es in der BRD geben – rund 1000 mehr als im vergangenen Jahr. Diese Zahlen präsentiert der aktuelle »Verfassungsschutzbericht 2013«, der am Mittwoch in Berlin vorgestellt worden war (jW berichtete). Gegenüber den »Rechts-« und »Linksextremisten« (22700 bzw. 28500 Personen) ist diese Gruppe nach Einschätzung des deutschen Inlandsgeheimdienstes deutlich größer.

»Ich sehe die Gefahr, aber die Lage ist aus meiner Sicht dramatisiert«, sagte der Kulturwissenschaftler und Islamexperte Werner Schiffauer am Freitag der Nachrichtenagentur dpa. »Auch wenn man vereitelte Anschläge mit einbezieht, kann keine Rede davon sein, daß davon die größte Gefahr ausgeht.« Das Phänomen des Salafismus werde zu undifferenziert betrachtet, sagte Schiffauer. »Der Verfassungsschutz kennt nur die Unterscheidung zwischen gewaltbereiten und politischen Salafisten«, sagte der Wissenschaftler der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. »Völlig vernachlässigt wird ein großer Teil, der zwar religiös sehr streng lebt, aber sich von jeglicher Politik fernhält und Gewalt ablehnt.«

Zu den streng religiösen, aber nicht gewalttätigen oder politischen Islamisten rechnete der Erlanger Islamexperte Jörn Thielmann allein 31000 zur islamischen Gemeinschaft Milli Görüs gehörende Personen, die der Verfassungsschutz in seine Zahl von über 43000 Islamisten mit aufnimmt. Milli Görüs sei seit Beginn ihrer Existenz in Deutschland noch nie durch Gewalt aufgefallen, sagte Thielmann am Mittwoch anläßlich der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes. Weiterhin wies er darauf hin, daß die Landesämter für Verfassungsschutz in Hamburg und Bremen – anders als der Bund – die Organisation Milli Görüs in ihren Berichten nicht mehr aufführten.

Auch bei den sogenannten Syrien-Rückkehrern müsse klarer unterschieden werden, verlangen Islamwissenschaftler. Zwar gebe es radikale Islamisten aus Deutschland, die im syrischen Bürgerkrieg im Namen der Terrororganisation »Islamischer Staat im Irak und (Groß-)Syrien« (ISIS/ISIL) ihre Gewaltfantasien auslebten. »Viele, die dort hinreisen, sind aber nicht an Gewalt beteiligt, sondern versorgen vom Libanon oder der Türkei aus die notleidende Bevölkerung«, sagte Schiffauer. Nach seiner Einschätzung hat die Bundesregierung überraschend wenig Erkenntnisse über die rund 320 nach Syrien ausgereisten Dschihadisten, von denen 100 bereits wieder in die BRD heimgekehrt seien.

Bislang kam es noch nie zu Attentaten islamistischer Gruppierungen in Deutschland; diverse Strukturen, die Terroranschläge vorbereitet haben sollen, erwiesen sich – wie die sogenannte »Sauerland-Zelle« – gar als staatlich unterwandert und von »V-Leuten« instruiert. Doch das salafistische Schreckgespenst läßt sich nach Belieben hochfahren. Zeitnah zum neuen Verfassungsschutzbericht konnte das Amt am Mittwoch auch einen »Erfolg« im Kampf gegen den internationalen Islamismus vorweisen: Der über Istanbul aus Syrien ausgereiste Dschihadist Nemmouche B. wurde am Samstag in Berlin festgenommen; er war auf dem Rückweg nach Frankreich. Die Rolle des Verfassungsschutzes dabei? Die Daten zum Flugpassagier B. kamen von »ausländischen Diensten«, das Bundesamt reichte diese an die Bundespolizei weiter, die den Franzosen schließlich festsetzte, wie Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am Mittwoch mitteilte.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juni 2014


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