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Überprüft und entfernt

Niedersachsen will Betroffene des Radikalenerlasses rehabilitieren

Von Hagen Jung *

Als erstes Bundesland will Niedersachsen die Folgen des so genannten Radikalenerlasses aufarbeiten. Er hatte von 1972 bis in die 1980er-Jahre vielen BRD-Bürgern das berufliche Aus gebracht.

Wer als Lokomotivführer einen Zug der Bundesbahn steuern wollte, musste ab Januar 1972 seine Verfassungstreue überprüfen lassen. Das Gleiche galt für Lehrer und Briefträger, Rathauspförtner und Richter, kurz: für alle, die sich um einen Posten im öffentlichen Dienst bewarben. Hintergrund solcher Gesinnungsschnüffelei war der Radikalenerlass. Auf den Weg gebracht hatten ihn Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und die Ministerpräsidenten der Länder.

Nach offizieller Lesart sollten auf diese Weise sowohl Links- als auch Rechtsextremisten von Ämtern, Schulen und staatlichen Betrieben fern gehalten werden. Getroffen aber hat der Erlass vor allem Frauen und Männer, die in irgendeiner Weise dem linken Spektrum zugeordnet wurden. Wollte etwa ein Pädagogik-Absolvent an Volksschulen unterrichten, startete die Einstellungsbehörde beim Verfassungsschutz eine »Regelanfrage«. Förderte der Nachrichtendienst eine Notiz zutage, derzufolge der junge Mann an linken Demonstrationen teilgenommen hatte und in einer sozialistischen Friedensinitiative mitwirkte, sah es mit einer Anstellung als Lehrer schlecht aus.

Doch nicht nur Bewerber traf der Erlass und somit ein Berufsverbot, sondern auch »Verdächtige«, die bereits im öffentlichen Dienst arbeiteten. Ihnen drohte die Entlassung, sofern sie nach Ansicht der Verfassungsschützer nicht eindeutig die »freiheitlich demokratischen Grundordnung« der BRD bejahten.

Bundesweit wurden seinerzeit etwa 3,5 Millionen Bewerber auf ihre »politische Zuverlässigkeit« durchleuchtet. Daran erinnerte vergangene Woche die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Meta Janssen-Kucz, im Landtag. Ihre Partei hatte zusammen mit der SPD beantragt, das Parlament möge eine Kommission bilden, die sich mit den Folgen des Erlasses befasst. Ziel dieser Arbeit soll vor allem »die gesellschaftliche und politische Rehabilitierung« der Betroffenen sein. In Niedersachsen waren das 130 Menschen.

Nie wieder dürfe es so eine Gesinnungsschnüffelei wie in den 1970er- und 1980er-Jahren geben, betonte der SPD-Abgeordnete Michael Höntsch und erinnerte: Durch den Radikalenerlass sei es ab 1972 möglich gewesen, dass aktiv am Naziunrecht beteiligte ehemalige SS- oder NSDAP-Angehörige in Behörden blieben, während dies demokratisch engagierten Menschen verwehrt blieb.

Im gesamten Bundesgebiet kam es infolge des Erlasses zu 11 000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1250 Ablehnungen von Bewerbern und 265 Entlassungen. Im Vorfeld dessen hatten die Verfassungsschutzbehörden rund 35 000 Dossiers über »Verdächtige« erstellt. Erst Ende der 1980er-Jahre begannen die Länder, den Erlass nach und nach abzuschaffen. Niedersachsen tat dies Mitte 1990.

Schon Ende 2011 hatten SPD, Grüne und LINKE im Landtag gefordert, das Parlament möge sich mit den Auswirkungen des Erlasses auseinandersetzen. Doch die damalige schwarz-gelbe Mehrheit lehnte ab. Überraschung im Parlament: Sowohl CDU als auch FDP bekundeten, beim Aufarbeiten des unrühmlichen Kapitels niedersächsischer Geschichte mitmachen zu wollen. Unionsfrau Angelika Jahns bemerkte dabei, eine Umfrage habe ergeben,dass sich noch kein anderes Bundesland so mit der Materie befasst habe, wie es Niedersachsen jetzt plane. Details zur »Kommission Radikalenerlass« sollen in einem Fachausschuss erörtert werden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 20. Mai 2014


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