Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gummibärchen und andere Anti-Terror-Kampfgruppen

Anschlagswarnungen als Konjunkturmotor – in der Versicherung wie in der schwarz-gelben Koalition

Von René Heilig *

Die erhöhte Terrorgefahr in Deutschland hat die latenten Debatten über eine Neuordnung der Sicherheitskräfte beflügelt. Frau und Herr Jedermann dürfen Unsinn reden. Je mehr, umso besser, denn hinter Terrorängsten und Geschwätz lässt sich manch Grundsätzliches verbergen.

Im Berliner Estrel-Hotel tagt zur Zeit der 24. Ordentliche Bundeskongress der Gewerkschaft der Polizei. Am Rande des Expertentreffens und in den Kongressmaterialien trifft man auf Präsentationen von Firmen, die sich als Partner der gestressten Polizisten verstehen. VW wirbt für Streifenwagen, Siemens stellt die Ampeln für die Blauen auf grün, der ADAC ist wegen des ACE präsent und der Fußballverband hat allen Grund, den Ordnungshüter einen Dank zu sagen. Beim Blick in den Tagungsraum – zumeist sitzen da Kollegen vom Typ männlich, um und über die Fünfzig – lässt sich ahnen, warum der Pharmariese und Viagrahersteller Pfizer so potent dabei ist. Doch warum – so fragt man sich kauend – bringt Signal Iduna seine Gummibärchen in Umlauf?

Steckt Grönemeyer dahinter mit seinem Song über die »Armeen aus Gummibärchen«? Nein. Polizisten leben gefährlich, da braucht man gute Versicherungspolicen. Doch machen wir die Gummibären-Verteiler nicht kleiner, als es der Konzern ist? Signal Iduna ist weitaus ideenreicher und gehört daher zu jenen Unternehmen, die bereits 2002 den Spezialversicherer Extremus Versicherungs-AG gegründet haben. Extremus ist aufgestellt für Unternehmen gegen finanzielle Verluste bei Sach- und Betriebsunterbrechungsschäden durch Terroranschläge. Einfach und unbürokratisch. Zwei Milliarden Euro Deckungssumme bringen die 15 Mitgliedsversicherungen auf, acht Milliarden hat die Bundesregierung drauf gepackt.

Die Nachfrage an Anti-Terror-Policen steigt, sagte Vorstandsmitglied Dirk Harbrücker, denn noch nie war Deutschland so konkret in die globale Terrorangst einbezogen. Die Anschläge in Madrid und London oder auch die Aktivitäten der sogenannten Sauerland-Gruppe haben das Geschäft kaum belebt. Für dieses Jahr dagegen rechnet man mit Prämieneinnahmen von gut 52 Millionen Euro aus 1320 Verträgen. Zu den Kunden gehören in erster Linie große Immobilieneigentümer, Banken, Flughäfen ... Allein in der Hauptstadt sind 456 Objekte bei Extremus versichert.

Doch nicht nur Versicherungen spüren ein Anziehen der Terror-Konjunktur. Auch in der Regierungskoalition sind Begehrlichkeiten deutlich. Dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) auf dem GdP-Kongress vor selbst ernannten Terrorismusexperten gewarnt hat, scheint an seinem Parteifreund und Fraktionschef Volker Kauder vorbeigegangen zu sein. Der fordert frisch, fromm, fadenscheinig die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen. Schon mit dem Begriff Vorratsdatenspeicherung reizt er Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bis zur Weißglut. Wann, wenn nicht jetzt, lautet die Devise von Kauders Polit-Kampfgruppen.

Der Bundesinnenminister dagegen konzentriert sich auf das nach seiner Ansicht Notwendige. Er will Sicherheitsdienste umstrukturieren und hat dazu eine Kommission »alter Kämpen« berufen, die allesamt noch aus ihren – lange zurückliegenden – Dienstzeiten wissen, wie was nicht effizient funktioniert. Unter Ex-Verfassungsschutzchef Eckart Werthebach (CDU) arbeiten der Ex-Generalbundesanwalt Kay Nehm (FDP), Ex-BKA-Chef Ulrich Kersten und Ex-Zollkriminalamtschef Karl-Heinz Matthias.

Es geht beileibe nicht nur darum, wie bei der aktuell angemahnten besseren Kontrolle der Luftfracht verfahren wird und wie Zoll und Bundespolizei besser zusammenarbeiten. Egal wie die Struktur in diesem Bereich ausfällt – 450 neue Stellen hat der Minister im Etat bereits reserviert. Das Bundeskriminalamt (BKA) soll – das wird auch seit langem gefordert – mehr Kompetenzen erhalten. Unter anderem dadurch, dass man das Zollkriminalinstitut eingliedert und alles mit der Bundespolizei zu einem größeren Ganzen verbindet. Bei Kritikern flammen alte Befürchtungen über die Bildung ein Bundessicherheitsamts wieder auf. Bleibt der Zoll. Um den Finanzkram können sich einige wenige kümmern, der Rest wechselt vom Finanzministerium ins Innenressort.

Wieder aufgerufen werden auch alte (Schäuble-)Pläne zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) ist so unermüdlich wie peinlich, wenn es um das Aufdecken von Sicherheitslücken geht, die angeblich nur vom Militär zu schließen sind. Auch der Bund deutscher Kriminalbeamter (BDK) fordert neuerdings die »totale Mobilmachung«. Man geht dabei neue Wege. Bis mehr Schutzpolizisten qualifiziert und einsatzbereit sind, dauert es Jahre, erklärt BDK-Chef Klaus Jansen und schlägt vor, die »Streichpläne bei der Bundeswehr für eine deutliche personelle Verstärkung der Polizei zu nutzen« Wenn bis zu 80 000 Soldaten nicht mehr benötigt würden, könnte ein Teil davon doch auf Polizei umschulen.

* Aus: Neues Deutschland, 24. November 2010


Nicht Gesagtes

Von René Heilig **

Bisweilen ist nicht Gesagtes mindestens so aufschlussreich wie das, was in die Öffentlichkeit vordringt. Wer also von Bundesinnenminister de Maizière auf dem GdP-Bundeskongress Neuigkeiten von der jüngst erweiterten »Terrorfront« erwartete, war umsonst gekommen. Enttäuscht wurden auch all jene, die sich vorgenommen hatten, eine Strichliste über angeblich notwendige Gesetzesverschärfungen zu führen. Nicht eine hat der Minister verlangt.

Die Wahrung der öffentlichen Sicherheit ist, auch darin hat de Maizière recht, eine professionelle Aufgabe. Weil er und die Fachleute an seiner Seite – anders als Schwätzer aus Union und SPD – in Rechnung stellen, dass man mit Vorratsdatenspeicherwahn und ähnlichen Demokratieverbiegungen nichts gegen gleichfalls professionell ausgeübten Terrorismus erreichen kann, verzichtet er auf billige politische Tricks. Möge sein Beispiel wirken! Anhaltend. Und möge es auch die Aufputscher in der EU erreichen. Anfang Dezember wollen in Brüssel Fachleute die erreichte Wirksamkeit der EU-weit geforderten Telekommunikationsschnüffelei bewerten. Nur 13 der 27 EU-Mitglieder haben überhaupt Erfahrungen anzubieten. Zumeist weder positive noch solide.

In diesen Terror-Tagen sagen manche: Armer de Maizière, was er sagt oder nicht sagt – es ist verkehrt. Stimmt nicht. Gestern hat er erwartete Standardsätze nicht gesagt – und das war richtig. Leider ist es zu früh, das für eine Verbeugung vor der Demokratie zu halten.

* Aus: Neues Deutschland, 24. November 2010 (Kommentar)


Verfassungsfeinde

Von Jörg Meyer ***

CDU-Mann Siegfried Kauder will die Pressefreiheit bei Terrorgefahr einschränken, damit nicht durch die Berichterstattung noch Terroristen auf besonders gefährdete Orte aufmerksam gemacht würden – wie beispielsweise den Reichstag. Doch das geht nicht weit genug. Wir fordern zudem das Verbot, vor Straßencafés mehr als drei Tische nebst Bestuhlung aufzustellen – das lockt doch erst die Terroristen ins Land! Des Weiteren fordern wir, in Zeiten des Terrors das Versammlungsrecht außer Kraft zu setzen, denn Menschenansammlungen ... siehe oben. Und erst die Busse und die U-Bahnen ... Ach was! Ausgangssperre, das wär's!

Aber halt! Sagte nicht der Bundesinnenminister, wir dürfen nicht in Hysterie verfallen und müssen unser freiheitlich-demokratisches Leben so weiterleben wie bisher? Genau. Und dazu, Herr Kauder, gehört auch und in besonderem Maße die Pressefreiheit – und auch das Post- und Fernmeldegeheimnis, um die Vorschläge einiger Unionspolitiker nach sofortiger Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung nicht unerwähnt zu lassen. Dass konservative Hardliner immer wieder in Situationen, die an sich schon schlimm genug sind, in unschöner Regelmäßigkeit nach einer Einschränkung der Grundrechte krähen, ist unsäglich. Eine »Selbstverpflichtung« stellt sich der Rechtsausschussvorsitzende Kauder also zum Thema Pressefreiheit vor, nach der sich die Journaille in Zeiten höchster Terrorgefahr zurückhält und bestimmte Dinge nicht mehr berichtet. Ginge das damit einher, dass sich Politiker in Zeiten höchster Terrorgefahr selbst dazu verpflichten, ihre grundrechtsfeindlichen und populistischen Vorschläge für sich zu behalten? Wohl kaum.

*** Aus: Neues Deutschland, 24. November 2010 (Kommentar)


Ein Kriegsaufruf

Großmachtträume und Terrorhysterie

Von Arnold Schölzel ****


Es rappelt im deutschen Oberstübchen. Der Wirtschaftsminister pflaumt den US-Finanzminister an und warnt ihn vor einem »Rückfall in planwirtschaftliches Denken«. Einige Tage später dekretiert die Bundeskanzlerin mal eben, daß der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU verändert werden muß. Das wurde in den meisten Mitgliedsstaaten der Union so verstanden, wie es gemeint war, als Diktat. Die Finanzbranche reagiert mit dem »Merkel-Crash«, der die irische Regierung zum Offenbarungseid zwingt, Portugal möglicherweise damit bald folgen und Spanien zum nächsten Kandidaten für einen Staatsbankrott werden läßt. Den Löwenanteil an den fälligen Bürgschaften übernimmt Berlin, Deutsch-Europa nimmt Gestalt an.

Die hiesige Oberschicht kann vor Kraft kaum laufen. An einer gut orchestrierten ideologischen Begleitmusik fehlt es nicht. Die große Überschrift lautet den Regeln aller Propagandakunst entsprechend: »Wir sind die Opfer« und »Wehrt euch!«. Bild und Spiegel sorgten Ende des Sommers dafür, daß der von Sarrazin ausgerufene genetische Notstand im Lande in Windeseile eine positive Massenresonanz erhielt. Als auffiel, daß der Autor die dümmsten biologistischen Parolen faschistischer Herkunft zumindest einholte, hielten die Medienstrategen inne, und einige Passagen wurden beseitigt. Aber das Ziel ist erreicht: Von »Deutschland schafft sich ab« wurden weit über eine Million Exemplare abgesetzt.

Nun also Terror: Die Welt ist plötzlich voll explosiver Druckerpatronen, die aus der arabischen Wüste kommen, Behördenvorsteher bis hin zu Ministern hysterisieren Sprengstoffcomputer, in denen kein Sprengstoff ist, lassen Glühweintrinken im Freien zum Ausdruck von Zivilcourage werden, wollen die Bundeswehr aufmarschieren lassen und die Presse an die Kandare nehmen. Sie alle, die da schwadronieren, werden nun von einem der mächtigsten Wirtschaftskapitäne der Bundesrepublik übertroffen. Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner verwendete am Dienstag zwei Druckseiten der Welt darauf, Deutschland und Europa dazu aufzurufen, sich nicht mehr »tatenlos«, »als zahnloser Tiger«, »als Opportunist« zu blamieren. Das stellt nach neun Jahren Krieg in Afghanistan und sieben Jahre nach der bislang letzten Invasion des Westens im Irak die Verhältnisse endlich richtig: »Wir« werden ständig überfallen und tun nichts. Döpfner fordert daher, statt »Nie wieder Krieg« aus der Geschichte zu lernen, es diesmal »besser zu machen«. Er verkündet in diesem Sinn, die Wahrscheinlichkeit für eine militärische Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Atompolitik des Iran sei »extrem hoch«.

Einige Stunden nach den Anschlägen des 11. September 2001 war man sich in den westlichen Hauptstädten einig, Krieg zu führen. 2010 sind Großmachtdünkel, Islamophobie und Terrorhysterie Alltag, redet das herrschende Personal schon vor einer Attacke über den nächsten Feldzug. Der deutsche Imperialismus geht voran.

**** Aus: junge Welt, 24. November 2010 (Kommentar)


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