Fatale Gleichsetzung
Hintergrund. Die Bundesregierung hält Rechtsextremismus,
Linksradikalismus und Islamismus für ein und dasselbe Problem. Sie lenkt
von der größten Bedrohung der parlamentarischen Demokratie ab: dem
neoliberalen Kurs der Koalition
Von Christoph Butterwegge *
Die »schwarz-gelbe« Bundesregierung setzt sowohl auf wirtschafts-,
finanz- und sozialpolitischem Gebiet neue Akzente, die bei genauerem
Hinsehen altbekannt erscheinen, als auch im Umgang mit dem
Rechtsextremismus, den sie offenbar als Rand(gruppen)phänomen begreift
und kurzerhand mit dem Linksradikalismus und dem Islamismus gleichsetzt.
Wenn der Koalitionsvertrag die »Aufarbeitung des NS-Terrors und der
SED-Diktatur« im selben Atemzug nennt, fühlt man sich an die
Gleichsetzung von Stalinismus und Hitlerfaschismus durch
Totalitarismustheoretiker im Kalten Krieg erinnert. Daß die
Bundesprogramme gegen den Rechtsextremismus (»Vielfalt tut gut. Jugend
für Vielfalt, Toleranz und Demokratie« sowie »Kompetent für Demokratie -
Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus«) mit einem Jahresbudget von
19 Millionen bzw. fünf Millionen Euro laut Koalitionsvertrag »unter
Berücksichtigung der Bekämpfung linksextremistischer und islamistischer
Bestrebungen« in Projekte gegen Extremismus ganz allgemein umgewandelt
werden sollen, bedeutet einerseits, daß die Gefahr des Rechtsextremismus
für die Demokratie im Sinne der Extremismustheorie relativiert wird, und
andererseits, daß bei stabilem Mittelaufkommen weniger Aktivitäten
dagegen finanziert werden.
Grundirrtümer
Als der Kalte Krieg während der 50er und frühen 60er Jahre seinen
Gipfelpunkt erreichte, wurden in der Bundesrepublik alle
geistig-politischen Kräfte im Kampf gegen den Kommunismus bzw. den
Marxismus-Leninismus mobilisiert. Was lag näher, als diesen unter dem
Oberbegriff »Totalitarismus« mit dem Nationalsozialismus bzw.
Hitlerfaschismus mehr oder weniger explizit gleichzusetzen? Es gab keine
für das deutsche Bürgertum geeignetere Konzeption, um seine kampflose
Preisgabe der Weimarer Republik als das Resultat einer doppelten
Frontstellung (gegenüber Rechts- und Linksextremisten) zu entschuldigen,
die geistigen Berührungspunkte mit dem deutschen Faschismus zu
verschleiern und die selbstkritische Aufarbeitung der NS-Zeit durch
Neukonturierung des alten Feindbildes (Kommunisten/Sozialisten)
überflüssig zu machen.
Vor allem die Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse
versuchen bereits seit mehreren Jahrzehnten, die Extremismustheorie
durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen populär zu machen und ihr
eine über den staatlichen Sicherheitsapparat, etablierte
Bildungseinrichtungen und die bürgerlichen Parteien wie den
sozialdemokratischen Regierungsflügel hinausreichende Akzeptanz zu
verschaffen. Sie legten ihren Arbeiten die folgende Definition zugrunde:
»Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für
unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die
sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner
fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das
Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus),
sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt
wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus),
sei es, daß jede Form von Staatlichkeit als 'repressiv' gilt
(Anarchismus).« Wer den Verfassungsstaat - und gerade nicht die
Verfassung selbst - als zentralen Bezugspunkt seiner
Extremismusdefinition wählt, zeigt damit im Grunde nur, wie
staatsfixiert er ist, was übrigens zu den Hauptkennzeichen des
Rechtsextremismus in Deutschland, nicht aber des Linksradikalismus zählt.
Todfeinde wie Faschisten und Kommunisten befinden sich damit per
definitionem »im selben Boot«, wohingegen ihrer Herkunft, ihren
geistigen Wurzeln und ihrer Ideologie nach engverwandte Strömungen, etwa
Deutschnationalismus, Nationalkonservatismus und Nationalsozialismus,
unterschiedlichen Strukturkategorien zugeordnet werden. Grau- bzw.
»Braunzonen«, ideologische Grenzgänger und inhaltliche Überschneidungen
zwischen (National-)Konservatismus und Rechtsextremismus, wie sie
beispielsweise bei den Themen »Zuwanderung«, »demographischer Wandel«
und »Nationalbewußtsein« zutage treten, werden nicht mehr thematisiert,
die tiefen Gräben zwischen Rechts- und Linksradikalismus zwar keineswegs
ignoriert, ihrer Bedeutung nach jedoch stark relativiert.
Wer die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates zum
entscheidenden oder gar zum einzigen Bestimmungsmerkmal des
»Extremismus« erklärt, ignoriert oder vernachlässigt die
gesellschaftlichen Ursachen seines Untersuchungsgegenstandes.
Extremismustheoretiker behandeln den Rechtsextremismus (ebenso wie den
Linksradikalismus) primär als einen Gegner der bestehenden politischen
bzw. Staatsordnung, nicht als ein soziales Phänomen, das mitten in der
Gesellschaft wurzelt. Eckhard Jesse lehnt es sogar strikt ab, die Frage
nach den geistigen Hinter- und Beweggründen für Unterdrückungsmaßnahmen
eines totalitären Regimes überhaupt zu stellen: »Das Opfer totalitärer
Mechanismen muß eine solche Differenzierung - Kommunismus als
Deformation einer an sich guten Idee - als sophistisch, wenn nicht
zynisch empfinden, ganz abgesehen davon, daß Ziele und Mittel vielfach
ineinander übergehen.« Freilich ist die von Jesse verabsolutierte
Opferperspektive wenig geeignet, ein sachliches und fachlich
qualifiziertes Urteil zu fällen. Aus guten Gründen sitzen keine
Gewaltopfer (bzw. deren Hinterbliebene), sondern unabhängige Richter und
eben nicht unmittelbar betroffene Geschworene bzw. Schöffen über
mutmaßliche Straftäter zu Gericht. Was aber im Strafprozeß
selbstverständlich ist, nämlich die Herkunft und Motive eines
Angeklagten zu würdigen, also nicht bloß das Resultat der inkriminierten
Handlung, sollte auch eine Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche
Bewertung von Parteien, Bewegungen und Herrschaftssystemen sein.
Versuche von Autoren wie Backes und Jesse, den Extremismus gemäß der
Verfassungsschutzargumentation als Kampfansage gegenüber einem
demokratischen Verfassungsstaat zu definieren, konnten sich sogar unter
den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges nicht vollständig durchsetzen.
Umso befremdlicher wirken sie nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation.
So glaubt Jesse, eine Konvergenz zwischen der Linkspartei, die er als
»weiche Spielart des Extremismus«, und der NPD, die er als »harte
Variante des Extremismus« charakterisiert, in der Tatsache zu erkennen,
daß beide Parteien die Systemfrage stellen. Ausgerechnet Lothar Bisky,
früher Vorsitzender der PDS und heute - gemeinsam mit Oskar Lafontaine -
von Die Linke, muß mit dem Ausspruch »Wir stellen die Systemfrage!« als
Bürgerschreck herhalten, damit Jesse seine gewagte, wenn nicht eher
peinlich wirkende Parallele zwischen Die Linke und NPD zu »belegen«
vermag. Jesse übersieht oder unterschlägt allerdings, daß Linke und
Rechte darunter etwas völlig Verschiedenes verstehen: Während die Linken
mit dem »System« den Kapitalismus und mit dem Stellen der »Systemfrage«
die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien meinen, ging es
Konzernherren wie Thyssen und Krupp nie besser als unter dem
National»sozialismus«, der mit dem »System«, das er 1933 aus den Angeln
gehoben hatte, die Weimarer Republik der »Novemberverbrecher« meinte.
Dies verdeutlicht die ganze Absurdität der Gleichsetzung von Links- und
Rechtsextremismus: Während jemand durch Sozialisierungsmaßnahmen linker
Revolutionäre aufhört, ein Mitglied der herrschenden Klasse zu sein, die
sie bekämpfen, muß jemand, der für Rechtsextreme einer »falschen« Rasse
angehört, vertrieben oder vergast, ausgebürgert oder »ausgemerzt«
werden.
»Extremismus an der Macht«
Die Totalitarismustheorie ist, wenn man so will, das auf den
»Extremismus an der Macht« bezogene Pendant zur Extremismustheorie. Sie
war zwar kein Kind des Kalten Krieges - wie häufig behauptet -, sondern
wurde schon in den 20er und 30er Jahren vor dem Hintergrund der
Machtübernahme des italienischen Faschismus (Benito Mussolinis »Marsch
auf Rom«) einerseits und der Stalinisierung Sowjetrußlands andererseits
entwickelt, ihren Hauptwirkungszeitraum bildeten aber die 50er und
frühen 60er Jahre, als die Beziehungen zwischen den westlichen
Demokratien und dem »Ostblock« unter Führung der UdSSR einen Tiefpunkt
erreichten.
Das genannte Theorem bot eine Möglichkeit, die Mitschuld einflußreicher
Gesellschaftskreise an der »Machtergreifung« des Hitlerfaschismus,
genauer: der Machtübergabe an die Nazis, zu relativieren. Die Weimarer
Republik sei, so hieß es, am Zusammenspiel der Verfassungsfeinde links-
und rechtsaußen zugrunde gegangen. Außerdem diente das
Interpretationsmodell während der Ost-West-Konfrontation und der
Restauration in der Bundesrepublik Deutschland als innenpolitische Waffe
gegen die demokratische Linke, der unterstellt wurde, eine dem
»Nationalsozialismus« und dem Stalinismus ähnliche Herrschaft errichten
zu wollen (»Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau« - so ein gegen
die SPD gerichtetes Wahlplakat der CDU aus dem Jahr 1953).
Die Extremismus-/Totalitarismustheorie klassifiziert zwar alles, erklärt
aber nichts. Sie als »Theorie« zu bezeichnen, ist daher im Grunde ein
pseudowissenschaftlicher Euphemismus. Wenn sie den Extremismus bzw. den
Totalitarismus auf den Begriff zu bringen sucht, kommt statt einer
Definition meist nur eine Addition von Merkmalen heraus.
Politikwissenschaft reduziert sich damit auf bloße Deskription. Das
eigentliche Dilemma der Totalitarismus- wie der Extremismustheorie
besteht darin, um der Akzentuierung partieller Gemeinsamkeiten zwischen
zwei Vergleichsgegenständen - Kommunismus einerseits und
Faschismus/Nationalsozialismus andererseits - willen deren
Wesensunterschiede eskamotieren zu müssen. Zwangsläufig kommen die
zentralen Inhalte der beiden Ideologien gegenüber ihrer Wirkung, ihrem
Absolutheitsanspruch und ihrer Allgegenwart viel zu kurz.
Gemeinsamkeiten zwischen beiden Regimen kann - im wahrsten Sinne des
Wortes - jedes Kind erkennen: Man muß ihm nur Bilder von
Massenaufmärschen und Militärparaden, die Insignien des Führerkults,
Machtrituale oder Uniformen paramilitärischer Verbände zeigen. Um die
wesentlichen Unterschiede zu erkennen, bedarf es hingegen
wissenschaftlicher Methoden und analytischer Fähigkeiten. Den
entscheidenden Unterschied zwischen Links- und Rechtsextremismus
ignorieren Totalitarismus- bzw. Extremismustheorien: »Der
Rechtsextremismus strebt die Beseitigung der Demokratie, der Sozialismus
jedoch die Abschaffung des Kapitalismus an«, wie der Berliner Soziologe
Richard Stöss bemerkt. Er schlußfolgert, daß der Rechtsextremismus
prinzipiell, also von seiner Idee her und den Zielen nach
antidemokratisch, der Sozialismus aber nur dann gegen die Demokratie
gerichtet sei, wenn er (im Sinne einer »Diktatur des Proletariats« oder
des Politbüros einer Kommunistischen Partei) mißbraucht oder pervertiert
werde.
1989 - Beweis oder Widerlegung?
Zwar sahen die Vertreter der Totalitarismustheorie im Niedergang des
osteuropäischen Staatssozialismus einen Triumph ihres Konzepts, das
wegen seiner Übernahme durch sich aufgrund der veränderten
Kräfteverhältnisse nach rechts wendender Linksintellektueller eine
gewisse Aufwertung erfuhr. Gleichwohl erwiesen sich der Berliner
Mauerfall und seine Folgen geradezu als Waterloo für die Extremismus-
und Totalitarismustheorie, wurden diese durch den friedlichen Verlauf
des Systemwechsels doch überzeugend widerlegt. Entgegen ihrer
Kernbotschaft sind Kommunismus und Faschismus nicht nur ganz
unterschiedlich - durch eine soziale Revolution in Rußland, aber die
freiwillige Übergabe der Regierungsgeschäfte an Mussolini und Hitler in
Deutschland bzw. Italien - an die Macht gelangt, sondern haben diese
auch ganz unterschiedlich wieder verloren: Während die »rechte Spielart
des Totalitarismus« 1945 ein durch ihren barbarischen Angriffs-,
Eroberungs- und Vernichtungskrieg zerstörtes Europa hinterließ, trat die
»linke Variante des Totalitarismus« 1989/90 trotz der Verfügung über ein
riesiges (Atom-)Waffenpotential ab, ohne den geringsten militärischen
Widerstand zu leisten, wenn man von Rumänien absieht.
Wer die DDR als »zweite deutsche Diktatur« bezeichnet, sie mehr oder
weniger offen mit dem sogenannten Dritten Reich gleichsetzt und Erich
Honecker in die Nähe Adolf Hitlers rückt, verharmlost damit nicht bloß
den Wilhelminismus, sondern auch den deutschen Faschismus. Wiederum ist
entlarvend, was da auf welche Art miteinander verglichen wird. Man kann
unter dem Oberbegriff »Krankheiten« auch Hautkrebs und Hühneraugen
miteinander vergleichen; dies wird aber kein seriöser Mediziner tun.
Vergleiche, die formale Ähnlichkeiten von Herrschaftsregimen
überbewerten und inhaltliche Gegensätze herunterspielen, sind
interessengeleitet und tragen kaum etwas zur Klärung von wichtigen
Sachverhalten und Zusammenhängen bei.
Nach der Zäsur 1989/90, welche die Totalitarismustheorie historisch
falsifiziert und in der Praxis widerlegt hatte, erfuhr diese in neuem
Gewand eine fragwürdige Wiederbelebung. Extremismus- und
Totalitarismustheoretiker, deren wissenschaftliche Reputation damals
aufgrund des schwindenden politischen Gebrauchswerts ihres Ansatzes
gegen Null tendierte, entwickelten - begünstigt durch Erfolge
rechtspopulistischer Gruppierungen und Terroranschläge islamistischer
Fundamentalisten - die Populismus-, Fundamentalismus- und
Terrorismustheorie quasi als politisches Substrat für die Extremismus-
und Totalitarismustheorie, ohne ihr mehr inhaltliche Substanz zu
verleihen. In der Terrorismushysterie nach den Anschlägen am 11.
September 2001 lag es nahe und fiel es ihnen leicht, das Extremismus-
bzw. Totalitarismuskonzept auf den islamischen Fundamentalismus
anzuwenden. Während Eckhard Jesse seinerzeit eine »Übertragung auf ferne
Kulturkreise« empfahl, um der Extremismus- und Totalitarismustheorie
neues Leben einzuhauchen, erklärte Armin Pfahl-Traughber, damals
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, den
Extremismus zur »politische(n) Variante des Fundamentalismus«, wodurch
der terminologische Bezug zum Islamismus hergestellt und man wieder auf
der Höhe der Zeit war.
Ruf nach starkem Staat
So wenig originell die Ideen von Backes, Jesse und Co. anmuten, so
mächtig sind die hinter ihnen stehenden Interessen. Während sich das
bürgerliche Lager mit ihrer Hilfe als »demokratische Mitte« über alle
seine Widersacher fast nach Art einer Lichtgestalt erhebt und die
staatlichen Sicherheitsorgane ihre fortdauernde Existenzberechtigung
nachweisen und Personal- wie Sachmittelforderungen begründen können,
werden linke Kritiker des kapitalistischen Wirtschafts- bzw.
Gesellschaftssystems und undemokratischer Praktiken seines Staates in
geradezu perfider Weise dadurch delegitimiert, daß man sie auf eine
Stufe mit ihren Hauptgegnern, religiösen Fanatikern, Rechtsterroristen
und Faschisten stellt.
Die beliebteste, aber leicht durchschaubare Schutzbehauptung der
Extremismus- und Totalitarismustheoretiker lautet, man setze so
unterschiedliche Systeme wie den Nationalsozialismus und den Kommunismus
gar nicht gleich, sondern vergleiche sie nur, was schließlich erlaubt
sein müsse. Natürlich darf man Äpfel mit Birnen vergleichen, denn es
handelt sich hierbei um ganz ähnliches Obst. Aber wer den
NPD-Vorsitzenden Udo Voigt mit dem Linkspartei-Vorsitzenden Lothar Bisky
vergleicht, suggeriert zumindest unterschwellig, daß beide Politiker und
Parteien gleichzusetzen seien, denn sonst müßte er auch mal Bisky mit
dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und den CSU-Vorsitzenden Horst
Seehofer mit Voigt vergleichen, was mit Sicherheit nie passiert
Was sich mit dem Titel »Totalitarismustheorie« schmückt, ist pure
Ideologie, wenn sie das Ziel verfolgt, Sozialismus und Kommunismus durch
Gleichsetzung mit dem (Hitler-)Faschismus zu diskreditieren. Dagegen
entlastet sie den letzteren, indem ihm das negative
Alleinstellungsmerkmal des politischen Verbrechertums genommen und seine
Terrorherrschaft relativiert bzw. verharmlost wird. Völlig unbeachtet
bleibt jener Wirtschaftstotalitarismus, den Neoliberalismus und
Marktradikalismus implizieren, was man - wenngleich meines Erachtens nur
sehr vage und mißverständlich - als »Extremismus der Mitte«
charakterisieren kann.
Extremismus- und Totalitarismustheorien kaschieren, daß die
parlamentarische Demokratie so gut wie nie von den politischen Rändern,
sondern erheblich häufiger von Eliten bedroht wird, die ihre Privilegien
durch Massenproteste gefährdet sehen und ihre Gegner als »Populisten«,
»Fundamentalisten« und »Terroristen« beschimpfen, um sie bei
unentschiedenen Dritten in Mißkredit zu bringen. Extremismus- und
Totalitarismustheorien erklären absolut nichts, vernebeln vielmehr
alles, was zu kennen wichtig ist, um die genannten Phänomene mit Erfolg
bekämpfen zu können: die sozialökonomischen Entstehungsursachen, das
Wesen und die Wurzeln von Rechtsextremismus, Faschismus und
(gewalttätigem) Neonazismus. Selbst politische Ziele und Motive der
Personen, die als »Extremisten« oder »Totalitaristen« etikettiert
werden, bleiben vage, wenn vorrangig die Mittel, deren sie sich
bedienen, für einen Vergleich herangezogen werden, der die Gleichsetzung
ansonsten völlig unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Akteursgruppen
bezweckt. Entscheidend ist letztlich immer, warum eine politische
Strömung entsteht, welche Interessen sie vertritt und wogegen sie angeht
bzw. aufbegehrt. Wie sie ihre Ziele zu erreichen sucht, ist keineswegs
irrelevant, wird aber maßgeblich davon beeinflußt.
So wenig die Extremismustheorie eine Analyse des Rechtsextremismus
ermöglicht, so wenig verfügen ihre Vertreter über eine geeignete
Strategie, ihn zu bekämpfen. Sie setzen im wesentlichen auf den Staat,
genauer: einen starken Staat in Form einer »wehrhaften Demokratie«, die
rechte und linke Extremisten nicht gleich ausschalten, aber aus dem
politischen Machtzentrum der Gesellschaft heraushalten soll. Wer - wie
es die Extremismustheorie verlangt - nach zwei Seiten zugleich schaut,
haut nie gezielt und trifft keinen Gegner. Wer angeblich in gleicher
Weise nach links- und rechtsaußen starrt, verliert die Entwicklung in
der politischen Mitte als mögliche Hauptbedrohung für die Demokratie
zwangsläufig aus dem Blick. Dies gilt besonders für Anhänger der
Extremismustheorie, die zwar von einer »Gemeinsamkeit der Demokraten«
sprechen, sie aber in der Praxis dadurch hintertreiben, daß sie Linke
als potentielle Verbündete ausgrenzen.
* Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an
der Universität zu Köln. Zuletzt sind von ihm die Bücher
»Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut« sowie »Armut in einem reichen
Land« erschienen
Aus: junge Welt, 19. November 2009
Prof. Dr. Christoph Butterwegge referiert beim 16. Friedenspolitischen Ratschlag am 5./6. Dezember 2009 zum Thema: "Krise, Armut und Sozialstaat"
Hier geht es zum
ganzen Programm.
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