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Über dem Gesetz

NSU-Prozeß: Tatverdacht gegen Verfassungsschützer Temme aus der Sicht von Polizeibeamten nicht ausgeräumt. Frustration über blockierte Ermittlungen

Von Claudia Wangerin, München *

Zwei hessische Polizeibeamte, die 2006 leitend im Mordfall Halit Yozgat in Kassel ermittelt haben, stehen bis heute zu ihrer Arbeitshypothese, daß der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme entweder selbst in die Tat verstrickt war oder als Augenzeuge Beobachtungen gemacht hat, die er verschweigt. Dies machten die beiden Beamten am Mittwoch als Zeugen im Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München deutlich. »Das läßt mich auch nicht los«, so Kriminalhauptkommissar Helmut Wetzel. Er denke darüber nach, ob und warum Temme etwas verschweige.

Der Hauptgrund ist das enge Zeitfenster, das Temme zum Verlassen des Internetcafés in der Holländischen Straße blieb, nachdem er sich ausgeloggt hatte – 40 Sekunden später hatte bereits ein anderer Zeuge sein Gespräch in einer abgetrennten Telefonzelle des Ladenlokals beendet. Der Iraker soll dort aber bereits Knallgeräusche wahrgenommen und eine Vibration des Fußbodens gespürt haben. Die Beamten werteten die Aussage von Hamadi S. seinerzeit als glaubwürdig, nachdem der Asylbewerber mehrfach beteuert hatte, sonst nichts beobachtet zu haben.

Der junge Besitzer des Internetcafés war mit zwei Kugeln aus einer Pistole vom Typ Ceska 83 erschossen worden – als neuntes Opfer der bundesweiten rassistischen Mordserie, die 2011 dem NSU zugeordnet werden konnte. Temme will allerdings nach dem Logout und vor dem Verlassen des Cafés noch darin nach Yozgat gesucht haben, um zu bezahlen – als er das Münzgeld auf die Ladentheke legte, übersah er angeblich die Leiche dahinter. Da er sich nicht als Zeuge meldete, wurde er kurzzeitig zum Beschuldigten, als die Polizei die Login-Daten auswertete.

Die Beamten des Polizeipräsidiums Nordhessen schilderten am Mittwoch vor dem OLG in München, wie der hessische Verfassungsschutz und das Landesinnenministerium seinerzeit ihre Arbeit behindert hatten. Aufgrund des Tatverdachts, den der zuständige Staatsanwalt als gegeben ansah, wollten die Ermittler alle »Quellen« vernehmen, die Temme als V-Mann-Führer des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) betreut hatte – soweit bekannt fünf aus dem Bereich Islamismus und eine aus dem Bereich Rechtsextremismus. Vor allem diese – inzwischen als Benjamin Gärtner identifiziert – war interessant, da sie kurz nach der Tat mit Temme telefoniert hatte. »Wir sahen es einfach als erforderlich an, mit diesen Leuten selbst zu reden«, so Kriminalhauptkommissar Wetzel am Mittwoch. Staatsanwalt Dr. Wied habe deshalb LfV-Beamte zu einem Gespräch mit den Ermittlern eingeladen. Die Verfassungsschützer hätten aber von vornherein gesagt, sie seien gar nicht entscheidungsbefugt, sondern könnten nur die Argumente der Polizei aufnehmen und dem hessischen Innenministerium in Wiesbaden übermitteln. Bei dem Gespräch seien »völlig unterschiedliche Meinungen« klar ersichtlich gewesen, so Kriminaloberkommissar Jörg Teichert. Von Seiten des LfV habe es ja auch »diesen Ausspruch« gegeben, daß man sonst nur eine Leiche neben eine der Quellen legen müsse, um den Verfassungsschutz lahmzulegen. Diese Haltung setzte sich durch – die Sicht der Ermittler blieb eine Meinung, denn das Innenministerium stellte sich hinter das LfV. Dessen Vorschlag, Polizeibeamte könnten doch inkognito dabei sein, wenn der Inlandsgeheimdienst seine Quellen selbst befrage, lehnten die Ermittler ab, da sie rechtliche Bedenken hatten, Zeugen zu täuschen. Das Protokoll einer solchen Vernehmung sei hinterher nicht verwertbar, so Teichert. Die Frustration war bei seiner Aussage und der seines Kollegen spürbar.

Hermann Schaus, Obmann der Linksfraktion im NSU-Untersuch­ungs­ausschuß, den der hessische Landtag im Mai eingerichtet hat, erklärte derweil in Wiesbaden: »Wie in kaum einem anderen Bundesland gibt es viele Fragen zum Verhalten des Landesamts für »Verfassungsschutz« und des damaligen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier«.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 7. August 2014


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