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Vorlauter V-Mann-Führer

NSU-Prozeß: Ehemaliger Verfassungsschützer Temme als Zeuge entlassen. Der Vater eines Mordopfers befragte ihn selbst. Der Exagent behielt die Nerven

Von Claudia Wangerin, München *

Andreas Temme ist als Zeuge entlassen. Der frühere V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes hat auch bei seiner fünften Vernehmung am Dienstag im NSU-Prozeß vor dem Oberlandesgericht München die Nerven behalten – selbst als ihn Nebenklageanwalt Yavuz Narin direkt fragte, ob er es war, der das neunte Opfer der rassistischen Mordserie erschossen habe. »Nein, natürlich nicht«, so die Antwort von Temme, der schon mehrfach im Zeugenstand bekräftigt hatte, er habe von den Schüssen auf Halit Yozgat im April 2006 nichts bemerkt, als er nur wenige Meter entfernt in dessen Kasseler Internetcafé an einem der Rechner surfte. Als Medien darüber berichteten, habe er zunächst geglaubt, er sei an einem anderen Tag dort gewesen.

Bei dieser Version blieb er am Dienstag auch, als ihn der Vater des Ermordeten am Ende persönlich befragte. Warum er seinen Sohn nicht hinter der Theke habe liegen sehen, als er das Internetcafé verließ, wollte Ismail Yozgat wissen. Warum er nicht hingeschaut habe. Temme habe doch das Café gut gekannt und gewußt, wo »der Halit« üblicherweise gesessen habe. Ob er die Blutstropfen auf der weißen Tischplatte nicht gesehen habe, als er ein 50-Cent-Stück darauf gelegt habe, fragte der Nebenkläger auf Türkisch. Ein Dolmetscher übersetzte. Der Tisch sei nur 73 Zentimeter hoch gewesen.

»Ich habe mir die Frage auch immer wieder gestellt, ich habe ihn aber nicht gesehen«, sagte Temme mit einer festeren Stimme als bei seiner ersten Vernehmung vor Gericht. »Es tut mir leid, Temme, aber ich glaube dir überhaupt nicht«, stellte Ismail Yozgat fest. Er fragte ihn nach der Dauer seiner Besuche in dem Internetcafé, die seiner Erinnerung nach länger gewesen seien, als er bei der Polizei angeben habe, sowie einer Frau, mit der er einmal dort gewesen sei. Temme wollte sich daran nicht erinnern.

»Ich sage es noch einmal, Temme, ich glaube dir überhaupt nicht«, schloß der Nebenkläger seine Befragung ab. »Was sagen Sie dazu?« wollte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl am Ende wissen. Antwort: »Daran, mit einer Frau, kann ich mich überhaupt nicht erinnern.« »Deutlich stabilisiert, fast vorlaut« wirkte der einstige V-Mann-Führer bei seinem vorläufig letzten Auftritt vor Gericht auf Nebenklageanwalt Thomas Bliwier. Der Grund sei wohl, daß Temme sich zur Zeit auf »Rückendeckung« verlassen könne, sagte Bliwier, der mit seinen Kollegen Alexander Kienzle und Doris Dierbach die Familie Yozgat in der Nebenklage vertritt.

Rechtsanwalt Narin, der Angehörige des Münchner NSU-Mordopfers Theodoros Boulgarides vertritt und in Temme eine der Schlüsselfiguren des Gesamtkomplexes sieht, hatte den Ex-V-Mann-Führer zuvor ausführlich über die Naziliteratur befragt, die bei der Durchsuchung seiner Räume und seines Elternhauses gefunden worden war, als er 2006 kurzzeitig als Hauptverdächtiger galt.

Zu Titeln wie »Judas Schuldbuch«, »Wille und Weg des Nationalsozialismus« und »Lehrplan der Weltanschauung der SS«, die in den Akten aufgelistet sind, erklärte Temme in der Befragung am Dienstag: »Das sind in der Form keine Bücher, sondern das sind diese Dinge, die ich damals abgetippt habe.« Wann genau? »Als Teenager.« Geliehen habe er sie in der Gemeindebücherei oder in der Bibliothek seiner ehemaligen Schule. Er sei aber nie Mitglied einer rechtsextremen Gruppierung gewesen und weder ein Skinhead noch ein »Scheitelnazi«, so der 47jährige. Er habe zur Kenntnis genommen, daß es wohl Leute gegeben habe, die ihn »Klein-Adolf« genannt hätten, er wisse aber nicht, warum. Außerdem könne das nicht zu seiner Jugendzeit in Hofgeismar gewesen sein, wie in Medienberichten erwähnt worden sei, denn er habe als Jugendlicher gar nicht dort gelebt. Weitere Beweisanträge, die sich mit seiner Person und Rolle befassen, sind anhängig.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. April 2014


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