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Tiefer Staat im Blick

NSU-Prozess: Nebenkläger fordern rekonstruierten Teil der geschredderten Verfassungsschutzakten und Zeugenladung des Geheimdienstlers "Lothar Lingen"

Von Claudia Wangerin *

Die Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz kurz nach Bekanntwerden des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) wird Thema im Münchner Prozess gegen die mutmaßliche Neonaziterroristin Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte. 29 Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage haben am Montag beantragt, den rekonstruierten Teil der am 11. November 2011 geschredderten Akten über die Geheimdienst-V-Leute »Tarif«, »Tinte«, »Treppe«, »Tonfarbe«, »Tusche«, »Tacho« und »Tobago/Investor« beizuziehen. Wie das mutmaßliche Kerntrio des NSU vor seinem Untertauchen gehörten diese Personen dem neonazistischen »Thüringer Heimatschutz« an oder standen mit ihm ihn engem Kontakt. Sie wurden im Rahmen der »Operation Rennsteig« zwischen 1994 und 2003 angeworben und vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) geführt.

»Die Tatsache, dass die Akten eben dieser – dem Trio nahen – V-Personen gezielt durch das BfV vernichtet wurden, führt dazu, dass von einem verfahrensrelevanten Inhalt der Akten ausgegangen werden muss«, heißt es im Antrag der Nebenklagevertreter. Durch die Beiziehung der Dokumente sei zu klären, was das BfV über die Gewaltdebatte und die Diskussion von Untergrundkonzepten im »Thüringer Heimatschutz«, über dessen Bewaffnung und geplante Taten wusste, heißt es in dem Beweisantrag. Außerdem könnten die Dokumente Aufschluss über die ideologisch-politischen Einstellung der inzwischen toten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie der Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger Gerlach und Carsten S. vor und nach dem 26. Januar 1998 geben. An diesem Tag war Zschäpe mit Mundlos und Böhnhardt in Jena untergetaucht.

Ab 2000 soll das Trio bundesweit zehn Menschen ermordet haben und für zwei Sprengstoffanschläge in Köln verantwortlich gewesen sein. Wohlleben, Gerlach, Carsten S. und André Eminger sind als Helfer und Unterstützer angeklagt. Vollwertige NSU-Mitglieder sollen laut Bundesanwaltschaft nur Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gewesen sein. Anders sehen das Nebenklagevertreter, Prozessbeobachter und Abgeordnete verschiedener Parteien, die in parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschüssen auf Bundes- oder Landesebene tätig sind oder waren: Sie gehen von einem größeren Netzwerk und staatlichen Verstrickungen aus.

Eine Woche nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt und drei Tage, nachdem Beate Zschäpe sich der Polizei gestellt hatte, wurden die Akten der genannten V-Leute mit dem Anfangsbuchstaben »T« wie Thüringen im Bereich Rechtsextremismus des BfV vernichtet. Nur »Tarif« ist inzwischen unter dem Klarnamen Michael von Dolsperg bekannt. Den Mann, auf dessen Anweisung die Dokumente vernichtet wurden, kennen Prozessbeteiligte und die Öffentlichkeit bisher nur unter dem Decknamen »Lothar Lingen«. Die Nebenklagevertreter haben nun die Zeugenladung dieses Geheimdienstmitarbeiters beantragt. Der Beamte habe sich rechtswidrig verhalten, sagte Rechtsanwältin Antonia von der Behrens in der Antragsbegründung am Montag.

Darüber, welche Akten nun rekonstruiert oder im Original vorhanden sind, gibt es allerdings unterschiedliche Angaben von BfV-Mitarbeitern. Ob die Rekonstruktion abgeschlossen ist und in welchem Umfang Beweismaterial unwiederbringlich zerstört wurde, ist auch nicht bekannt. Deshalb fordern die Opferanwälte in ihrem Antrag außerdem, eine dienstliche Erklärung des aktuellen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen einzuholen. Er soll gegebenenfalls auch versichern, dass nicht mehr Aktenbestandteile vorhanden sind, als das BfV einräumt. Letzteres wird möglicherweise ein frommer Wunsch bleiben oder zumindest nicht überprüfbar sein.

Die 29 Anwältinnen und Anwälte gehen davon aus, dass die Aufklärung der Mord- und Anschlagsserie durch die Aktenvernichtung staatlicher Stellen gezielt behindert wurde. Sie fordern in dem Antrag, dass die rekonstruierten V-Mann-Dokumente unmittelbar ins Verfahren eingeführt werden, »ohne dass mit der Bundesanwaltschaft eine Behörde der Exekutive eine Vorauswahl treffen darf«. Im Fall des BfV lässt sich das faktisch nicht verhindern.

Nicht nur in der Türkei, wo die meisten NSU-Mordopfer Familienangehörige haben, wird im Zusammenhang mit dem NSU und Geheimdienstakteuren vom »tiefen Staat« gesprochen. Aber immerhin: Pünktlich zur Sommerpause im NSU-Prozess sind die Spekulationen, das Verfahren könne wegen der Zerwürfnisse zwischen der Hauptangeklagten Zschäpe und ihren Pflichtverteidigern Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm platzen, vom Tisch. Bereits vor Beginn der Verhandlungswoche hatte das Gericht die erneuten Anträge von Zschäpe, ihre Anwälte zu entpflichten, abgelehnt. Am Dienstag ging das Gericht noch einmal dem Weg der Tatwaffe der Mordserie von der Schweiz bis nach Jena nach. Es befragte einen Schweizer Ermittler, der den mutmaßlichen Waffenkäufer Peter G. vernommen hatte, der den Erwerb der Ceska-83-Pistole im Jahr 1996 allerdings bestritt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. August 2915


Endlich Sommer ohne Zschäpe

Vierwöchige Pause im NSU-Verfahren

Von René Heilig **


An 224 Tagen wurde bisher in München verhandelt, rund 500 Zeugen und Sachverständige hat man gehört. Nun ging der NSU-Prozess in seine dritte Sommerpause.

Ein Schweizer Kantonspolizist war am Dienstag der vorerst letzte Zeuge im Prozess gegen fünf Mitglieder und Helfer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) vor dem Oberlandesgericht in München. Nun haben die Richter sich, dem Anklägerteam, den Nebenklägern, den Verteidigern, den Angeklagten und vielleicht sogar auch den Medien eine vierwöchige Sommerpause zugestanden.

Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, mag das bedauern. Schließlich hatte sie in den vergangenen Wochen mit ihren diversen Misstrauensbekundungen gegen ihre drei angestammten Pflichtverteidiger Anja Sturm, Wolfgang Stahl und Wolfgang Heer einen »Lauf«. Sie, die Bonbon lutschende Schweigerin, bestimmte über Wochen die mediale Berichterstattung über einen der wichtigsten Gerichtsprozesse im Nachkriegsdeutschland - so sehr, dass sogar die in inhaltlichen Fragen sehr zurückhaltende Gerichtssprecherin Andrea Titz darauf hinwies: »Es ist wichtig für dieses Verfahren, dass neben allen diesen Anträgen nicht ins Hintertreffen gerät, worum es eigentlich geht, nämlich um die Aufklärung von schwersten Straftaten.«

Dass es vier weitere Angeklagte gibt, deren Rolle im Umfeld des NSU bislang kaum durchschimmert, scheint ohnehin fast vergessen. Anwälte der Nebenklage, Angehörige der Opfer oder bei den Anschlägen Verletzte kritisierten, dass sich in letzter Zeit fast alles nur um das Zicken-Gehabe der Angeklagten gedreht habe. Und das, obwohl der souverän agierende Vorsitzende Richter Manfred Götzl sämtliche von Zschäpe gestellten Anträge auf Entpflichtung oder Entbindung der drei ursprünglichen Verteidiger ohne viel juristische Schnörkelei abgelehnt hat. Voller Großmut gestand er dafür der Angeklagten einen vierten Pflichtverteidiger zu - immer bemüht, das Zerwürfnis auf der Anklagebank nicht zu einer Gefahr für die Fortführung des gesamten Prozesses werden zu lassen. Mathias Grasel, ihr vierter Mann in Anwaltsrobe, wirkt nicht nur wie ein unreifes Jüngelchen.

Angeklagt ist der zehnfache Mord an neun Migranten und einer Polizistin, angeklagt sind mehrere Bombenanschläge und über ein Dutzend Raubüberfälle. Als Täter ist ein aus Thüringen stammendes Neonazi-Trio ausgemacht worden. Die Namen sind über deutsche Grenzen hinaus bekannt: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt sollen sich am 4. November 2011 nach einem Sparkassenüberfall in Eisenach selbst umgebracht haben. Ihre Komplizin, die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, sitzt in Untersuchungshaft. Seit mehr als zwei Jahren wird die rätselhafte Frau beobachtet, doch offenbar wissen auch ihre objektiv engsten Verbündeten - die Anwälte - nicht, was ihre Mandantin über die NSU-Verbrechen weiß und welche Rolle sie selbst in der Organisation gespielt hat. Zschäpes Ausbrüche gegen die Anwälte haben jedoch klar gemacht, wie viel Energie sie entwickeln, wie hartnäckig und rücksichtslos sie Ziele verfolgen kann. Das kleine Heimchen am Herd, das den von ihren Mord- und Raubzügen heimkehrenden Jungs ahnungslos die Socken stopft, ist sie mit Sicherheit nicht gewesen.

Dass Zschäpe eisern zu allen von der Bundesanwaltschaft erhobenen Vorwürfen schweigt, kann dem Chefankläger Herbert Diemer nur gefallen. Diese Verweigerung ist wohl die stärkste Stütze der über weite Strecken sehr wackligen Anklage.

Nach über 200 Verhandlungstagen ist die Beweisaufnahme zu allen Tatkomplexen nahezu abgeschlossen. Das, was in diversen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und durch die Recherchearbeit von Journalisten und antifaschistischen Initiativen ermittelt wurde, fand weitgehend Bestätigung. Man hat in München viele Puzzlestücke zusammengetragen. Große Teile des Gesamtbildes NSU sind dennoch unsichtbar.

Hoffnungen, dass der Prozess Impulse für die außergerichtliche Aufklärung bieten könnte, erfüllen sich bislang nicht. Die Mauer des Schweigens in der Naziszene scheint stabiler denn je. Rechtsextremisten zeigen sogar im Gerichtssaal ihre Solidarität mit angeklagten Gesinnungsgenossen. Weder die Bundesanwaltschaft noch das in ihrem Auftrag offenbar weiter lustlos ermittelnde Bundeskriminalamt wurden zu seriöser Aufklärungsarbeit angehalten. Im Gegenteil. Seit Beginn des Prozesses beantwortet die Bundesanwaltschaft von Harald Range keinerlei Journalistenfragen mehr zum NSU-Komplex. Aus »Respekt vor der Beweisaufnahme des Gerichtes«. So bleiben militante Neonazi-Zellen unentdeckt, neue alte Gefahren wachsen. Bundesweit gibt es Sturmläufe gegen Flüchtlinge und Asylsuchende, Unterkünfte brennen, Menschen, die sich für die Schutzsuchenden einsetzen, werden verfolgt. Man erinnert sich, dass derartige rassistische Aktionen Mitte der 90er Jahre zum Resonanzboden wurden, auf dem sich der sogenannte Thüringer Heimatschutz bildete. Aus dem rechtsextremen Haufen entwuchs der Terror-Komplex NSU.

Kaum Anregungen gab der Prozess auch bei der Aufklärung der sogenannten Versäumnisse der Sicherheitsbehörden. Das soll sich ändern. Nach der Sommerpause wollen sich Nebenklagevertreter gründlicher um die Rolle des Verfassungsschutzes, insbesondere um dessen diversen Vertuschungsversuche kümmern.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. August 2915


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