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NSU-Prozeß: Nebenklage will wegen Mordversuchs verurteilten V-Mann Szczepanski als Zeugen hören. Grüne beantragen Sondersitzung des Innenausschusses im Bundestag

Von Claudia Wangerin *

Zeugen aus Geheimdienstkreisen werden vom Generalbundesanwalt eher ungern benannt. Im Prozeß um die Neonaziterrorgruppe NSU wird ihre Ladung zumeist von Anwälten der Nebenklage beantragt, die aktuell fordern, den früheren V-Mann Carsten Szczepanski zu vernehmen, der von Brandenburgs Verfassungsschutz 1994 ausgerechnet während der Untersuchungshaft nach dem Mordversuch an einem Nigerianer verpflichtet worden war. Bereits nach gut vier Jahren war er auf Bewährung entlassen worden und genoß in der Szene einen Heldenstatus.

Die Anwälte mehrerer Opferfamilien im NSU-Prozeß gehen davon aus, daß Szczepanski in die Beschaffung von Waffen für das mutmaßliche Kerntrio der Gruppe eingebunden war – und zumindest wußte, daß sie im Spätsommer 1998 Überfälle begangen hatte. Derartige Finanzierungsaktionen für die Szene seien damals offen diskutiert worden, »angestoßen durch entsprechende Pläne und Aktionen von ›Blood & Honour‹ und ›Combat 18‹-Strukturen in England«, heißt es in dem Beweisantrag, der am Mittwoch von Rechtsanwältin Antonia von der Behrens verlesen wurde. Sie hat sich intensiv mit der Frühgeschichte des 2011 aufgeflogenen »Nationalsozialistischen Untergrunds« befaßt.

Zum 2000 in Deutschland verbotenen Blood&Honour-Netzwerk gehörten 1998 maßgebliche Fluchthelfer der Jenaer »Bombenbastler« Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die seit November 2011 als Haupttäter der NSU-Mordserie gelten. Bei einem Treffen deutscher Blood-&-Honour-Aktivisten am 10. Oktober 1998 in Wilsdruff soll über die Unterbringung und Finanzierung der drei untergetauchten Neonazis gesprochen worden sein – unter anderem in Anwesenheit von Thomas Starke, dem späteren V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes und Exliebhaber der heutigen Hauptangeklagten Zschäpe. Starke hatte im Februar 2002 seinen Quellenführern einen weiteren Teilnehmer dieses Treffens als Kontaktmann des untergetauchten Trios genannt: Jan Werner, der wie Starke zur sächsischen Blood-&-Honour-Sektion gehörte. Zu diesem Treffen soll nun auch Szczepanski befragt werden.

Der Beweisantrag schließt die Beziehung der vom Verfassungsschutz geführten Personalakte sowie der »Treffberichte und Deckblattmeldungen« zu Szczepanski alias »Piatto« ein. Mit Blick auf die Zeugenvernehmung ist der Antrag nicht aussichtslos, denn das Oberlandesgericht München ist in seinen Ladungsverfügungen schon deutlich über das Programm hinausgegangen, das die Ankläger für nötig hielten. So wurden zum Beispiel die drei V-Mann-Führer des Neonazikaders Tino Brandt vom Thüringer Verfassungsschutz geladen. Ebenso der in Kassel vom hessischen Landesamt, namentlich von dem ehemals beschuldigten Beamten Andreas Temme betreute Ex-V-Mann Benjamin Gärtner.

Die Nebenklagevertreter listeten weitere bereits enttarnte V-Leute aus dem Umfeld des Trios auf, die im Beweismittelverzeichnis fehlen – darunter der frühere Blood-&-Honour-Funktionär Marcel Degner, der vom Thüringer Verfassungsschutz geführt wurde, der baden-württembergische Ku-Klux-Klan-Gründer Achim Schmid, den das dortige Landesamt betreute.

Auch Andreas Rachhausen, der am Dienstag in München als Zeuge vernommen werden sollte und sich krankheitsbedingt entschuldigen ließ, stand nicht auf der Wunschliste der Bundesanwaltschaft. Der Zeuge hatte unter dem Decknamen »Alex« dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz als Gewährsmann gedient, als das mutmaßliche NSU-Kerntrio 1998 untertauchte. Nach Einschätzung des polizeilichen Staatsschutzes in Saalfeld war Rachhausen zugleich selbst »einer der gefährlichsten Rechtsextremisten«, so der frühere Leiter des zuständigen Kommissariats im Juni 2012 vor dem Thüringer NSU-Untersuchungsausschuß. Rachhausen galt als führende Figur der Neonaziszene in Saalfeld. Wenige Tag nach dem Abtauchen der drei Jenaer Neonazis soll er das unfallbeschädigte Fluchtauto aus Sachsen zurückgeholt haben. Erst nach der Aufdeckung des NSU nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt im November 2011 in Eisenach gestand er dies Beamten des Bundeskriminalamts und nannte als Auftraggeber Ralf Wohlleben, der in München wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht steht.

Auch in Parlamentskreisen scheint das Unbehagen über angebliche »Pannen« im NSU-Komplex seit dem plötzlichen Tod des früheren V-Mannes Thomas Richter alias »Corelli« im April zuzunehmen: Neben dem Bundestagsgremium für die Kontrolle der Geheimdienste soll sich nun auch der Innenausschuß noch einmal intensiv mit dem Thema befassen. Die Grünen beantragten am Montag laut Nachrichtenagentur dpa eine Sondersitzung noch vor der Sommerpause.

»Corellis« war wie Achim Schmid und Szczepanski Mitglied des Ku-Klux-Klan. Seine Nummer fand sich zudem auf einer 1998 sichergestellten Telefonliste von Uwe Mundlos.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 27. Mai 2014


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