Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Antisemitismus-Konferenz der OSZE im April 2004 in Berlin

Ergebnisse - Bewertung - Pressestimmen

Im Folgenden informieren wir über die bedeutungsvolle Antisemitismus-Konferenz der OSZE, die am 28./29. April 2004 in Berlin stattfand, indem wir
  1. einen Überblick über wichtige Aspekte und Reden der Konferenz geben und eine erste Bewertung versuchen, und
  2. einige Pressekommentare dokumentieren.

Wann endet berechtigte Kritik an Israel - wann beginnt Antisemitismus?

Die Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten ist ein zentrales Anliegen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), seitdem die Teilnehmerstaaten der KSZE 1975 die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet haben. Hieraus entspringt die Verpflichtung, allen Formen von Intoleranz, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entgegenzutreten. Am 19./20. Juni 2003 hatte sich in Wien erstmals eine Konferenz der OSZE ausschließlich mit der spezifischen Problematik des Antisemitismus befasst. Die Bundesregierung hat dort ein Folgetreffen für das Jahr 2004 in Berlin vorgeschlagen, der OSZE-Ministerrat von Maastricht hat dies am 2. Dezember 2003 beschlossen.

Mit der Berliner Konferenz zum Antisemitismus, die am 28. und 29. April 2004 im Konferenzzentrum des Auswärtigen Amtes in Berlin stattfand, wollte die OSZE "ein Zeichen setzen, dass sie das Problem des Antisemitismus und die Sorgen der jüdischen Gemeinden des OSZE-Raums ernst nimmt." Die Konferenz vereinbarte konkrete gemeinsame Schritte zur Bekämpfung aller Formen des Antisemitismus vereinbaren, darunter die systematische Erfassung von antisemitischen Übergriffen im OSZE-Raum und eine Identifizierung von "best practices" im Umgang mit dem Antisemitismus etwa bei der Gesetzgebung und im Erziehungswesen.

Bundespräsident Johannes Rau hat die Konferenz eröffnet, Außenminister Joschka Fischer leitete die deutsche Delegation. Es waren über 500 hochrangige Teilnehmer aus allen OSZE-Staaten sowie zahlreiche Vertreter von Nichtregierungsorganisationen beteiligt.

Bewertung

Es ist nicht leicht, die Verhandlungen und die Ergebnisse der zweitägigen Konferenz auf einen Begriff zu bringen. Auffallend war jedenfalls der Gleichklang der Reden, die Übereinstimmung darin, dass der Antisemitismus in allen seinen Formen zu bekämpfen sei. Einige Regierungsvertreter verbanden ihre Plädoyers gegen Antisemitismus mit dem Hinweis darauf, dass ihre Länder gute gesetzliche Voraussetzungen haben, um Antisemitismus und andere Formen des Rassismus und von Fremdenhass wirksam zu bekämpfen. Dieser Einschätzung schlossen sich ausdrücklich auch Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international an. In einem gemeinsamen Beitrag von Amnesty International, Human Rights Watch und der International Helsinki Federation for Human Rights heißt es z.B.:
"If we recognize anti-Semitism as a serious human rights problem, we must also acknowledge that numerous obligations and commitments relevant to combating anti-Semitism, voluntarily undertaken by OSCE participating states, already exist, as do detailed, targeted recommendations formulated by international and national monitoring bodies tasked with assessing and reviewing states’ compliance with these obligations and commitments." (Joint Statement by Amnesty International, Human Rights Watch,and the International Helsinki Federation for Human Rights, 28 April 2004).

Viele Reden zeichneten sich dadurch aus, dass sie den Antisemitismus als große Gefahr für die erweiterte EU benannten und auf entsprechende empirische Belege verwiesen (vgl. z.B. "Erscheinungsformen des Antisemitismus in der EU 2002 – 2003", darüber hinaus aber wenig bis gar nicht über die anderen Formen des Rassismus in Europa sagten. Hinzu kommt ein ausgesprochener Mangel an analytischer Kraft der Reden. Kaum jemand, der auch nur den Versuch machte, Antisemitismus zu definieren und zu beschreiben. Insbesondere die Unterscheidung von Antisemitismus und Kritik an der israelischen Politik wurde kaum trennscharf unternommen. US-Außenminister Powell, dessen Rede wir an anderer Stelle dokumentieren, hat wenigstens auf diesen Unterschied aufmerksam gemacht: "Es ist kein Antisemitismus, die Politik des Staates Israel zu kritisieren. Die Schwelle wird allerdings überschritten, wenn Israel oder seine politischen Führer verteufelt oder verunglimpft werden, zum Beispiel durch Nazisymbole oder rassistische Karikaturen." (Siehe: Powell: Antisemitismus darf unter uns keinen Platz haben.)

Der deutsche Außenminister Fischer schwieg sich darüber aus. (vgl. "Dass wir jede Form des Antisemitismus verurteilen..."). Und der deutsche Bundespräsident Johannes Rau, der noch vor kurzem ein so eindrucksvolles Plädoyer für Toleranz und Meinungsfreiheit gehalten hat (siehe Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum 275 Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing, begab sich auf eine Gratwanderung zwischen erlaubter und unerlaubter Kritik. In der Presseberichterstattung wurde am häufigtsne sein Satz zitiert: "Jeder weiß, dass hinter mancher Kritik an der Politik israelischer Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten massiver Antisemitismus steckt. Auch hier brauchen wir besondere Wachsamkeit und besondere Sorgfalt." Er warnte aber auch davor, Kritik an Israel "generell als antisemitisch zu diskreditieren und unter Generalverdacht zu stellen". (Raus Rede haben wir zusammen mit Fischers Rede dokumentiert: "Dass wir jede Form des Antisemitismus verurteilen...".)

Der israelische Minister für Jerusalem und die Diaspora, Nathan Sharansky, schlug zur Unterscheidung zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus einen "Drei-D-Test" vor: Wenn Israel bzw. israelische Politiker dämonisiert werden, wenn an den Staat und die Gesellschaft Israels doppelte bzw. überhöhte Standards angelegt werden, und wenn drittens Israel als Staat deligitimiert wird, dann haben wir es zweifelsfrei mit Antisemitismus zu tun. Ob diese Kennzeichnung in der Praxis wirklich Trennschärfe verbürgt, muss bezweifelt werden. Beispielsweise muss es doch möglich sein, die israelische Regierungspolitik der gezielten Tötungen (Liquidierungen) als völkerrechtswidrig und gegen die Menschenrechtskonventionen gerichtet zu qualifizieren und zu verurteilen, so wie das etwa die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen getan hat, ohne dass als Einwand geltend gemacht werden könnte, auf der anderen, der palästinensischen Seite passierten ähnliche oder noch grausamere Verbrechen. Menschenrechtsverbrechen lassen sich nun einmal nicht dadurch relativieren, dass man auf andere, vielleicht noch schlimmere Verbrechen verweist. Auch bei der "Delegitimierung" des Staates Israel könnten Probleme auftauchen. Von welchen Grenzen geht die derzeitige israelische Regierung dabei aus? Welche vergangenen oder künftigen Landnahmen müssen akzeptiert werden? (Man sehe sich nur den Sharon-Plan zum Abzug aus dem Gazastreifen und zur Einverleibung einer Reihe von Großsiedlungsgebieten im Westjordanland an: "Abkoppelungsplan"!) Ist ein Insistieren auf die Erfüllung einschlägiger UN-Resolutionen (Resolution 194, 242 [1967] oder 338 [1973]) gleichbedeutend mit einer "Delegitimierung" des Staates Israel?

Bleibt das Ergebnis der Konferenz. Es ist festgehalten in einem Abschlussdokument, das der amtierende OSZE-Vorsitzende und bulgarische Außenminister, Solomon Passy, am Ende der Konferenz vorlas. Wichtige praktische Schritte, die von der OSZE vorgeschlagen werden, sind u.a.:
  • Die 55 Mitgliedsstaaten der OSZE verpflichten sich, Informationen und Statistiken über antisemitische Verbrechen und andere Hasspropaganda zusammenzustellen. Die Entwicklung verbesserter Beobachtungs-Instrumentarien übernimmt das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE (ODIHR) in Warschau.
  • In verstärkter Zusammenarbeit sollen Regierungen, Parlamente und Nicht-Regierungsorganisationen gesetzliche Grundlagen für den Kampf gegen Antisemitismus prüfen und neue Bildungsprogramme auflegen.
  • Die Bildungsprogramme sollten das Gedenken an und die Aufklärung über den Holocaust enthalten.
(Das Abschlussdokument, die "Berlin Declaration" dokumentieren wir in englischer Sprache hier).

Peter Strutynski

Kommentare aus der Tagespresse

Von einem Erfolg mit begrenzter Reichweite sprach Stefan Reinecke in seinem Kommentar in der taz ("Lob der Datensammlung"):

Von OSZE-Konferenzen sind in aller Regel keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Dennoch war die Berliner Konferenz gegen Antisemitismus wichtig. Und zwar nicht nur, weil die Ächtung des Antisemitismus in der Schlusserklärung begrüßenswert deutlich ausgedrückt wurde. Wesentlicher, weil von praktischem Wert, sind zwei Punkte: die Bekundung, Bildungsprogramme gegen Antisemitismus aufzulegen, und der Wille, alle verfügbaren Daten über antisemitische Übergriffe von Portugal bis Armenien zu sammeln und auszuwerten.
(...)Gesicherte empirische Daten sind gerade mit Blick auf die die EU-Osterweiterung wichtig. Die Region zwischen Stettin und Riga steht bei manchen im Westen unter dem Generalverdacht, antisemitisch zu sein. Wenn man eine west-östliche Diskursblockade nach dem Muster "pauschaler Antisemitismusverdacht versus den pauschalen Vorwurf, dass ,der Westen' die Unterdrückung Osteuropas bis 1989 ignoriert" verhindern will, helfen nur Tatsachen. (...)
Allerdings reicht der Plan, antisemitische Übergriffe zentral in Warschau bei einer OSZE-Organisation zu dokumentieren, nicht aus. Ebenso wesentlich wären wissenschaftliche Umfragen, die der Verbreitung antisemitischer Vorurteile und Stereotype auf den Grund gehen. Dies ist ein weitgehend brachliegendes Feld - für das Baltikum existieren solche Untersuchungen zum Beispiel nicht. (...)

Aus: taz, 30. April 2004

Arno Widmann ist auch nicht ganz zufrieden mit der Konferenz. In seinem Kommentar in der Berliner Zeitung ("Anti-Antisemitismus ist nicht genug") wird u.a. darauf hingewiesen, dass man von einer Verständigung darüber, was als antisemitisch zu gelten habe, noch weit entfernt sei:

(...) Das wichtigste Ergebnis der Konferenz ist die Selbstverpflichtung der 55 OSZE-Mitglieder, antisemitische Vorfälle an das in Warschau ansässige Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte zu berichten. Es wird lange dauern, bis in allen Staaten die gleichen Vorstellungen darüber bestehen, welche Taten und Worte als antisemitisch zu betrachten sind. Schon darum ist der Wert einer solchen Registratur nicht sehr hoch einzuschätzen. Wann, wer, wie - gar strafrechtlich - reagiert, ist völlig ungeklärt.
Man kann dennoch der Auffassung sein, dass die Konferenz einen Schritt darstellt, in dem langen schwierigen Prozess, in dem Europa sich darüber klar wird, was es - nicht allein die Deutschen - Juden angetan hat und weiter antut. Die Konferenz kreiert für fast zwei Tage so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit zum Thema Antisemitismus. Sie zeigt, dass der Anti-Antisemitismus nicht mehr die Sache einer kleinen, sich wehrenden Minderheit ist, sondern von der Mehrheit der europäischen Staaten als ein nicht unwesentlicher Staatszweck betrachtet wird. Das ist ihr auffälligster Erfolg. Dass die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nach wie vor nötig ist, belegen die antisemitischen Kampagnen, die Serien von Untaten in den verschiedensten Mitgliedstaaten der OSZE. (...)
Man wird aber nicht übersehen können, dass die Antisemitismus-Debatte im Augenblick einen Nebeneffekt hat, der ihrem Anliegen desto mehr schadet, je stärker man ihn leugnet. Wer heute den Krieg der Kulturen führen will, der kann das gut tun und tut es auch gerne im Gewand eines Anti-Antisemiten. Der Holocaust und die Erinnerung an ihn, ist längst auch Element verschiedenster politischer Kalküle geworden. Die Freude über die Möglichkeit einer Verständigung zwischen den Enkeln von Opfern und Tätern des Holocausts, sollte uns nicht den Blick dafür trüben, dass wir alles tun müssen, um zu verhindern, dass diese Verständigung - wie so viele frühere - wieder auf Kosten neuer Opfer zustande gebracht werden wird.

Aus: Berliner Zeitung, 30. April 2004

In der "jungen Welt" wurde vor allem auf den weltpolitischen Kontext der Konferenz aufmerksam gemacht: Es sei vielen Politikern darum gegangen, die von den USA gestützte israelische Gewaltpolitik gegen die Palästinenser zu rechtfertigen und Israelkritik in die Nähe des Antisemitismus zu rücken. Werner Pirker schreibt u.a.:

Die Antisemitismus-Konferenz der OSZE in Berlin stand gewissermaßen unter dem Ehrenschutz der amerikanisch-israelischen Nahostallianz, vertreten durch US-Außenminister Collin Powell und Israels Präsidenten Moshe Katzav. Damit war der weltpolitische Kontext, unter dem das Thema zur Debatte stand, hergestellt. Die Botschaft war unmißverständlich: Der Kampf gegen den Antisemitismus und darüber hinaus gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit finde in Israel und den USA seinen stärksten Rückhalt. Wer diesen Anspruch, das Weltgewissen zu verkörpern, in Frage stellt und wer gar behauptet, daß Israels »Kampf gegen den Antisemitismus« selbst von einer rassistischen und fremdenfeindlichen und keineswegs von einer universellen Idee bestimmt wird, ist der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts hinlänglich überführt.
(...)
Die Berliner Konferenz gegen den Antisemitismus fand unmittelbar vor der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsstaaten in die EU statt. Das sollte kein Zufall gewesen sein. Denn mit den neuen Ländern, so vermutet man, würden auch Nationalismus und Antisemitismus ein Einfallstor in die vornehme Wertegemeinschaft finden. Da haben wir sie wieder, die Gefahr aus dem Osten. Die drohende Unterwanderung des Abendlandes durch Halbasiaten, vor der xenophobe Erweiterungsgegner vergeblich gewarnt hatten. »Wie der zivile Konsens Westeuropas etwa durch ein vorziviles muslimisches Selbstbewußtsein in Frage gestellt werden kann«, schreibt Thomas Schmid in der FAZ, »so kann er auch durch eine grobe Unschuld, die aus dem Osten kommt, bedrängt werden.« (...)

Aus: junge Welt, 30. April 2004



Zur Antisemitismus-Konferenz vgl. bitte folgende Seiten:



Zurück zur Themenseite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zurück zur Homepage