Religionsfreiheit heute - zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland
Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum 275 Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing
Bundespräsident Johannes Rau hat anlässlich des 275. Geburtstags von Gotthold Ephraim Lessing am 22. Januar 2004 eine Rede gehalten, in der er noch einmal auf den "Kopftuch-Streit" eingeht und er seine eigene Position eingehender begründet. Dem großen Aufklärer Lessing war die Gleichbehandlung aller Religionen ein Anliegen (siehe sein Drama "Nathan der Weise"), Johannes Rau fand also direkte Anknüpfungspunkte an der toleranten Philosophie Lessings.
Wir dokumentieren die Rede Raus unter Verzicht auf Passagen, die sich mit der Person Lessings und seinem Umfeld befassen. Zwischenüberschriften haben wir selbst eingefügt. Die ganze Rede kann auf der Homepage des Bundespräsidenten eingesehen werden (www.bundespraesident.de).
Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum
275. Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing in der
Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel, 22. Januar 2003
(...)
Lessing verband ... Theorie und
Praxis. Als Aufklärer war er ein "Selbstdenker" par
excellence: ein Mann, der alle Dogmen kritisch befragte,
alte und neue. Über die Ergebnisse seiner kritischen
Betrachtungen schrieb er gelehrte Abhandlungen oder
scharfsinnige, oft scharfzüngige Rezensionen, die gefürchtet
waren. Die kann man bis heute mit großem Vergnügen und
mit großem Gewinn lesen.
Er schaffte es aber auch, seine Einsichten und seine
Erkenntnisse im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich zu
machen: Er brachte sie auf die Bühne. Gotthold Ephraim
Lessing war der Erste, der mit den Mittel des Theaters den
Zuschauern vorgeführt hat, wie Menschen unterschiedlichen
Glaubens in gegenseitiger Achtung miteinander umgehen.
Sein "Nathan der Weise" hat eine klare Botschaft: Menschen
unterschiedlichen Glaubens - Christen, Juden, Muslime -
können gleichberechtigt miteinander leben, und das ist gut
für alle.
(...)
Heute möchte ich aber über das Thema seines "Nathan"
sprechen: über das Zusammenleben von Menschen
unterschiedlicher Religionen und Kulturen - bei uns in
Deutschland und in der Welt.
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen
Das so genannte Kopftuchurteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003, die in
der Folge von einigen Landesregierungen geplanten oder
schon beschlossenen Kopftuchverbote für Lehrerinnen und
die öffentlichen Diskussionen darüber: All das ist eine neue
Runde in einer alten Debatte und in einer
Auseinandersetzung, die immer geführt wird, wenn
Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher
Religionszugehörigkeit und unterschiedlicher
Überzeugungen aufeinander treffen.
Es geht um die Frage: Wie können Menschen miteinander
leben, die ganz unterschiedliche Dinge für wahr und für
richtig halten und auch manches tun, was die jeweils
anderen unbegreiflich finden?
Wie das im besten Fall geschehen kann, das hat Lessing
uns im "Nathan" gezeigt: Der christliche Tempelherr rettet
Nathans Ziehtochter vor einem Brand - ohne Ansehen ihrer
vermeintlichen Herkunft, weil das seiner Auffassung nach
"nun einmal die Aufgabe von Tempelherrn ist"; der
moslemische Sultan begnadigt ihn gegen alle Gewohnheit
und der jüdische Kaufmann steht diesem Sultan in
finanziellen Schwierigkeiten bei.
Aufklärung ohne und mit Religion
Erinnern wir uns: Als Lessing geboren wurde, lag der
Westfälische Friede von 1648 gerade einmal achtzig Jahre
zurück. Er hatte die schrecklichen Religionskriege des 16.
und 17. Jahrhunderts beendet und das Zusammenleben von
Katholiken und Protestanten auf eine klare Grundlage
gestellt. Das war ein großer Fortschritt, auch wenn die
Konflikte zwischen ihnen damit beileibe nicht aus der Welt
waren.
Für Juden dagegen gab es keinen "Religionsfrieden": Sie
wurden weiter diskriminiert und verfolgt, wie manch andere
auch. Die letzte so genannte Hexe wurde in Europa kurz
nach Lessings Tod verbrannt, im Jahre 1782.
All diese Erfahrungen mit religiös begründeter Intoleranz
haben dazu beigetragen, dass viele Menschen im Zeichen
der Aufklärung jegliche Religion ablehnten. Noch in der
Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter
Paulskirche wurden Stimmen laut, die Kirchen und Religion
als "Hemmschuh der Zivilisation" bezeichneten und deshalb
verboten wissen wollten.
Unter den Aufklärern gab es aber auch ganz andere
Stimmen. Der Unfriede in der Welt und der Hass zwischen
Menschen unterschiedlichen Glaubens konnten und sollten
ihrer Meinung nach anders überwunden werden: Die
Menschen müssten sich darauf besinnen, was bei allen
Unterschieden im Einzelnen allen Religionen gemeinsam
sei: der Glaube an Gott als Schöpfer und an seinen
Schöpfungsplan. Sie leiteten das Prinzip aufgeklärten
Denkens und Handelns aus der Existenz eines Gottes ab,
der in unterschiedlicher Weise von allen Religionen verehrt
wird.
Lessing hat im "Nathan" zu zeigen versucht, um wie viel
menschenfreundlicher die Welt werden kann, wenn die
Menschen nach diesen Prinzipien leben.
Der "säkulare Staat"
Die Stimmen, die zu Lessings Zeit die Abschaffung von
Religion gefordert haben, haben sich nicht durchgesetzt.
Durchgesetzt hat sich aber die Vorstellung von einer
Ordnung, die gegenüber allen Konfessionen und Religionen
so viel Distanz wahrt, dass sie ihr friedliches Miteinander
regeln und garantieren kann: nämlich der säkulare Staat.
Diese Vorstellung war auch deshalb erfolgreich, weil wir in
Europa die Erfahrung gemacht haben, wie grausam und
schrecklich kriegerische Auseinandersetzungen werden
können, die im Namen eines absoluten
Wahrheitsanspruches geführt werden.
Deswegen haben wir - im Gefolge der Aufklärung und der
Entwicklung der Menschenrechtsidee - die Konsequenz
gezogen, dass Religion und staatliche Ordnung
unterschieden werden müssen, dass
Glaubensüberzeugungen und Organisation des
Gemeinwesens voneinander zu trennen sind.
So können zwei fundamentale Menschenrechte gewährleistet
werden: die Freiheit des Gewissens und die Freiheit der
religiösen Überzeugung und der religiösen Praxis. So kann
das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher
Überzeugungen und Religionen geregelt werden.
Dazu mussten der Staat und die Kirchen einen für sie
wesentlichen Verzicht leisten: Der Staat musste auf eine
religiöse Rechtfertigung verzichten. Die Staatsgewalt ist nicht
mehr "von Gott" verliehen, sondern geht "vom Volke aus".
Das hört sich heute selbstverständlich an, das war es aber
lange Zeit nicht. Die Religionen mussten ihrerseits darauf
verzichten, ihren absoluten Geltungsanspruch, ihren
"Wahrheitsanspruch", mit Hilfe staatlicher Gewalt
durchzusetzen.
Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in Europa auf ganz
unterschiedliche Weise geregelt, von den Staatskirchen in
Skandinavien bis zum französischen Laizismus.
"Aufgeklärte Säkularität"
Wir in Deutschland haben uns für einen anderen Weg
entschieden, einen Weg, für den Bischof Wolfgang Huber
den Begriff "aufgeklärte Säkularität" geprägt hat. Staat und
Kirche sind in Deutschland klar voneinander getrennt, aber
sie wirken auf vielen Feldern im Interesse der ganzen
Gesellschaft zusammen. Ich halte das, alles in allem, für
den richtigen Weg, und ich sehe keinen Anlass dafür, dass
wir uns dem Laizismus unserer französischen Nachbarn und
Freunde anschließen sollten.
In Artikel 4 unseres Grundgesetzes heißt es: "Die Freiheit
des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen
und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die
ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."
Deutschland gehört also zu den europäischen Ländern,
deren Geschichte und deren Traditionen besonders vom
christlichen Glauben geprägt sind. Die Religionsfreiheit, die
unser Grundgesetz garantiert, gilt aber nicht nur für die
christlichen Kirchen. Sie gilt, auch wenn das manchen nicht
immer ausreichend bewusst ist, auch für andere
Religionsgemeinschaften und gewiss für den Islam.
Die Grenze findet jede Kirche und jede
Religionsgemeinschaft ausschließlich in den vom
Grundgesetz garantierten unveräußerlichen
Menschenrechten. Auch sie gelten - wie die Religionsfreiheit
- für alle, ob sie Christen, Muslime, Juden, Buddhisten oder
Angehörige anderer religiöser Überzeugungen sind, natürlich
auch für Menschen, die nicht gläubig sind.
Niemand hat in unserem Land das Recht, unter Berufung
auf seinen Glauben die in unserem Grundgesetz
garantierten Menschenrechte und Bürgerrechte zu
verletzen.
Unser Staat ist kein religionsfeindlicher und auch kein
religionsfreier Staat. Im Gegenteil: Unser Staat schützt die
Religionsfreiheit aller.
Neutralität des Staates - aber nicht Neutralität der Gesellschaft
Die Neutralität des freiheitlichen Staates gegenüber
Religionen und Weltanschauungen darf aber nicht
verwechselt werden mit einer Neutralität der Gesellschaft in
diesen Fragen.
Im Gegenteil: Der weltanschaulich neutrale Staat ist auf
Überzeugungen angewiesen, die in verschiedenen und
unterscheidbaren Gemeinschaften gelebt werden, die Werte
haben und die Orientierung geben wollen. Dazu gehören in
besonderer Weise Kirchen und Religionsgemeinschaften,
die ihre Vorstellungen in die Gesellschaft einbringen.
Unsere Gesellschaft ist kein religionsfreier Raum, und
Religion ist nicht bloße Privatsache. Der öffentliche
Charakter von Religionen wird bei uns anerkannt. Kirchen
und Glaubensgemeinschaften können und sollen öffentlich
wirken, und ihre Einmischung in öffentliche Angelegenheiten
ist ausdrücklich erwünscht.
Manchen ist zu wenig bewusst, welch eine große
zivilisatorische Errungenschaft es ist, dass in einer pluralen
Gesellschaft Menschen friedlich miteinander leben, die ganz
unterschiedliche Überzeugungen haben. Das muss jeden
Tag neu geübt und neu gelebt werden.
Für einen Christen, wie für jeden gläubigen Menschen, ist ja
nicht jede Vorstellung von Transzendenz und jedes
Gottesbild gleich gültig oder gleich viel wert.
Es ist doch ganz selbstverständlich, dass gläubige Menschen
ihren Glauben für den richtigen Glauben halten. Das gilt für
Christen genauso wie für Juden und Muslime.
Ich selber schöpfe Zuversicht und Kraft aus dem christlichen
Glauben, der mir Trost und Hoffnung ist im Leben und im
Sterben. Gleichzeitig habe ich Respekt vor allen, die ihr
Leben auf andere Fundamente gründen.
(...)
Manchmal herrscht ja der Eindruck vor, Toleranz und
Respekt anderen gegenüber bedeuteten auch, andere
Glaubenswahrheiten und Überzeugungen nicht nur zu
achten, sondern sie als genauso richtig anzusehen wie die
eigenen. Das ist ein Irrtum. Toleranz ist nicht Beliebigkeit.
Toleranz und Respekt bedeuten ja gerade, dass man die
Existenzberechtigung anderer Überzeugungen und
Glaubenswahrheiten akzeptiert, die man nicht für richtig
hält.
Der Staat schützt die Freiheit jedes Einzelnen, seinen
Glauben zu leben, solange er nicht gegen das Grundgesetz
verstößt. Der Staat hat aber nicht die Aufgabe festzustellen,
welche Religion die bessere ist oder gar eine Religion zu
bevorzugen.
Der Islam
Über den Zusammenhang von Menschenrechten und
Religionen kann man heute nicht sprechen ohne einen Blick
auf den Islam. Ich rede nicht von Terroranschlägen in vielen
Teilen der Welt. Hier wird der islamische Glaube zwar oft als
Legitimation benutzt, aber die große Mehrzahl der Muslime
und der muslimischen Gelehrten lehnen Attentate als
unvereinbar mit dem Islam ab.
Wir müssen uns aber mit der bisher ungelösten Frage
auseinandersetzen, wie sich der Islam zum demokratischen
Staat, zu Toleranz, zu Glaubensfreiheit und zu
Gewissensfreiheit - zu den Menschenrechten - verhält. Das
ist eine Frage, die sich nicht nur in der islamisch geprägten
Welt stellt. Das ist auch eine Frage bei vielen Muslimen, die
in Europa und bei uns in Deutschland leben. Wir sollten sie
dabei unterstützen, in dieser Frage voranzukommen.
Die klare Trennung von Staat und Religion, die in den
meisten Staaten der westlichen Welt gilt, gibt es in dieser
Form in den islamischen Staaten nur im Einzelfall und nur
teilweise.
Die fehlende Trennung zwischen Staat und Religion macht
aber so vieles so unendlich schwierig im internationalen aber
auch im nationalen Dialog.
Die entscheidende Frage, die alle Staaten der Welt
beantworten müssen, eine Frage, die weit über den
Religionsdialog hinaus geht, sie heißt: Wie haltet ihr es mit
den Menschenrechten, mit Toleranz, mit der Gleichstellung
von Mann und Frau, mit der Freiheit in Gewissens- und
Glaubensfragen?
Das stellt uns auch vor die Frage, wie Religionsfreiheit als
Menschenrecht überall auf der Welt verwirklicht werden kann.
Darüber spreche ich bei meinen Staatsbesuchen auch in
atheistisch oder islamisch geprägten Gesellschaften und
Staaten. Schon in meiner ersten Berliner Rede am
12. Mai 2000 habe ich gesagt, dass viele Menschen bei uns
sich leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen
könnten, "wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche
Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu
bauen".
Religionsfreiheit gibt es aber auch in islamisch geprägten
Gesellschaften. Die meisten von ihnen sind allerdings weit
davon entfernt. Umso entschiedener müssen wir uns überall
auf der Welt für Religionsfreiheit einsetzen, denn sie spielt
heute eine Vorreiterrolle für die Durchsetzung weiterer
kultureller Rechte.
(...)
Zur Kopftuch-Debatte
Ob wir über die Situation in unserem eigenen Land oder in
der gesamten Welt nachdenken: Uns sollte immer bewusst
sein, dass es das Judentum so wenig gibt wie den Islam und
so wenig wie das Christentum oder die westliche Welt.
Die Menschen muslimischen Glaubens, die heute bei uns
leben, kommen aus ganz unterschiedlichen Ländern mit
unterschiedlichen Traditionen und Wertvorstellungen. Das
zeigt sich auch in der Debatte um das Kopftuch.
Ich rate uns allen dazu, dass wir auch in dieser Debatte
nicht irgendwelchen Pauschalurteilen aufsitzen. Wir wissen
doch alle, dass es muslimische Frauen gibt, die kein
Kopftuch tragen, und zwar nicht, weil sie sich unseren
Vorstellungen angepasst hätten - die gibt es auch -,
sondern weil sie davon überzeugt sind, dass das nicht zu
ihrem Glauben gehört.
Andere muslimische Frauen tragen ein Kopftuch, weil sie
damit ihren Glauben öffentlich bezeugen wollen. Wieder
andere muslimische Frauen werden durch mehr oder weniger
Druck aus der Familie und ihrem Umfeld dazu gezwungen,
ein Kopftuch zu tragen. Und gewiss gibt es auch
muslimische Frauen, die ein Kopftuch als Ausdruck ihrer
fundamentalistischen religiös-politischen Haltung tragen.
Die Debatte über das Kopftuch wäre also viel einfacher,
wenn es ein eindeutiges Symbol wäre. Das ist es aber nicht.
Deshalb muss in dieser Frage nach meiner festen
Überzeugung der alte Grundsatz gelten: Der mögliche
Missbrauch einer Sache darf ihren Gebrauch nicht hindern.
Darauf weist ja auch das Bundesverfassungsgericht in
seinem ersten Urteil zum Kopftuchstreit hin. Ich zitiere:
"Der Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen
Kopftuchs wird höchst unterschiedlich wahrgenommen. Es
kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös
fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der
Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit wird in ihm
verstärkt ein politisches Symbol des islamischen
Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des Kopftuchs
kann jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher
Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Dies zeigen neuere
Forschungsergebnisse. Junge muslimische Frauen wählen
das Kopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der
Herkunftsgesellschaft ein selbstbestimmtes Leben zu
führen."
So sehr wir jede Form von Fundamentalismus bekämpfen
müssen, so wenig dürfen wir die Religionen unterschiedlich
behandeln. Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht
auf Unterschiede, aber es gilt kein unterschiedliches Recht.
Besonderer Raum "Schule"?
In der Diskussion über das pro und contra des
Kopftuchverbots für Lehrerinnen wird zu Recht darauf
hingewiesen, dass die Schule ein besonders sensibler
öffentlicher Raum ist.
Es stimmt: Schülerinnen und Schüler müssen vor
unzulässiger religiöser oder politischer Beeinflussung durch
Lehrerinnen und Lehrer geschützt werden.
Jeder Gläubige hat als Lehrer eine besondere Pflicht zu
beachten, eine Pflicht, die daraus erwächst, dass ihm der
Staat und die Eltern Kinder zur Ausbildung und Erziehung
anvertrauen. Deshalb muss er die Werte unseres
Grundgesetzes vermitteln und die Erziehungsvorstellungen
der Eltern achten und seine eigenen Überzeugungen in der
Schule zurücknehmen. Das bedeutet aber nicht, dass er
seinen Glauben in der Schule verbergen oder verstecken
muss. Das gilt für alle Lehrerinnen und Lehrer.
Ein laizistischer Staat "ist nicht meine Vorstellung"
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht ein Symbol
einer Religion - und das ist das Kopftuch jedenfalls auch -
verbieten und dennoch glauben können, wir könnten alles
andere beim Alten lassen. Das ist mit der Religionsfreiheit,
die unser Grundgesetz allen Menschen garantiert, nicht
vereinbar und würde deshalb das Tor zu einer Entwicklung
öffnen, die doch die meisten Befürworter eines
Kopftuchverbots gar nicht wollen.
Ich fürchte nämlich, dass ein Kopftuchverbot der erste Schritt
auf dem Weg in einen laizistischen Staat ist, der religiöse
Zeichen und Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Ich will das nicht. Das ist nicht meine Vorstellung von
unserem seit vielen Jahrhunderten christlich geprägten
Land.
Dabei ist uns allen doch klar, dass die Frage, ob wir dies
Erbe fortführen, nicht von Bekleidungsvorschriften abhängt.
Ob wir weiterhin ein christlich geprägtes Land sind, das
hängt allein und zuerst davon ab, wie viele überzeugte und
glaubwürdige Christen es bei uns gibt.
Wir müssen die Auseinandersetzung mit dem
Fundamentalismus führen, aber differenziert und an der
richtigen Stelle. Pauschaler Verdacht stärkt den
Fundamentalismus, statt ihn zu schwächen.
Natürlich ist es notwendig, Schüler und Schülerinnen vor
jeder Beeinflussung in einem
islamisch-fundamentalistischen Sinne zu schützen - so wie
wir sie vor jeder Indoktrinierung und vor jedem Extremismus
schützen müssen, gleich welcher Art. Wo das nötig ist, muss
mit disziplinarischen Mitteln eingegriffen werden, die auch
dafür vorgesehen sind.
Alle, die in unserer Gesellschaft leben, müssen wissen, dass
wir es nicht dulden, wenn Frauen aus traditionellen oder
kulturellen Gründen nur mindere Rechte haben. Ich denke
da beispielsweise daran, dass junge Frauen gegen ihren
Willen verheiratet werden oder dass Mädchen in der Schule
von bestimmten Schulfächern fern gehalten werden.
Integration statt Assimiliation
Wir können und wir müssen erwarten, dass die Menschen,
die nach Deutschland kommen, unsere Sprache lernen. Es
ist ein unhaltbarer Zustand, dass in vielen ersten Klassen
fast kein einziger Schüler altersgemäß Deutsch spricht. Wir
brauchen mehr und bessere Angebote für Eltern und Kinder.
Da haben wir in der Vergangenheit viel versäumt, weil wir so
getan haben, als wären wir kein Einwanderungsland.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass islamischer
Religionsunterricht nicht den Koranschulen allein überlassen
bleibt. An unseren Schulen muss auch islamischer
Religionsunterricht angeboten werden, der von
ausgebildeten und staatlich geprüften Lehrern erteilt wird.
So können wir deutlich machen: Integration bedeutet
gerade nicht kulturelle Entwurzelung oder gesichtslose
Assimilation. Integration bedeutet die immer wieder zu
erneuernde Bindung aller an die gemeinsamen Werte
unserer Verfassung. Dass das gelingen kann, das zeigen
viele Beispiele überall in Deutschland.
Auseinandersetzung mit dem Fundamentlismus
Zur Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus gehört
auch, deutlich zu sagen, dass Fundamentalismus nicht nur
die Sache einer Religion oder einer Überzeugung ist.
Allen Fundamentalisten ist eines gemeinsam: die
Überzeugung, allein im Besitz der Wahrheit vom Sinn
menschlicher Existenz und von dem Weg zu sein, der zur
Erfüllung dieses Sinnes führt. Darum bekämpfen
Fundamentalisten Vertreter anderer Wertordnungen, und
manche halten sich sogar für berechtigt, das mit Gewalt zu
tun.
Zu Lessings Zeiten gab es das Wort Fundamentalismus
noch nicht, aber genau darauf ist doch gemünzt, wenn er
sagt:
"Ich hasse alle die Leute, welche Sekten stiften wollen, von
Grund meines Herzens. Denn nicht der Irrtum, sondern der
sektiererische Irrtum, ja sogar die sektiererische Wahrheit
machen das Unglück der Menschen - oder würden es
machen, wenn die Wahrheit eine Sekte stiften wollte."
Solcher Art von Fundamentalismus, den Lessing so hasste,
müssen wir entschieden entgegentreten. Das wird uns aber
nur dann gelingen, wenn wir glaubwürdig zeigen können,
dass die so genannte westliche Werteordnung nicht nur ein
anderes Wort dafür ist, das Glück der einen auf dem
Unglück der anderen zu bauen.
Das kann uns gelingen, weil die abendländische Kultur in
Menschen ja viel mehr sieht als Teilnehmer am Wettbewerb,
als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Marktchancen oder
als bloße Konsumenten von Gütern, von
Unterhaltungsangeboten und von beliebigen Weltbildern,
denen jede Werteorientierung fehlt.
Jede und jeder von uns, die im persönlichen und im
öffentlichen Leben deutlich machen, dass es für sie Werte
jenseits von Angebot und Nachfrage gibt, tragen bei zu
einem gesellschaftlichen Klima, das Respekt und Toleranz
fördert und Beliebigkeit oder Fundamentalismus
zurückdrängt.
Das ist heute nötiger denn je. Wir können uns dabei von
einem Grundsatz leiten lassen, den Lessing einmal in
dieses eindrucksvolle Bild gefasst hat:
"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner
Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit,
obschon mit dem Zusatze, sich immer und ewig zu irren,
verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele
ihm mit Demut in seine Linke und sagte ihm: Vater gib! Die
reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!"
(…)
Quelle: www.bundespraesident.de
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Das Kopftuch: Ein Stück Identität
Notizen zu einem Kulturkampf (23. Januar 2004)
Das Kopftuch oder die Möglichkeiten antirassistischer Erziehung
Ein Kommentar von Sabine Schiffer (2. Oktober 2003)
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