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"Strategische Raketen werden mit den modernsten Sprengköpfen ausgerüstet, um den Raketenschirm durchzubrechen"

Russlands Präsident Medwedew kündigt scharfe Reaktion auf US-Raketenabwehr an *

Russlands Präsident Dmitri Medwedew hat am Mittwoch (23. Nov.) scharfe Reaktionen auf den Aufbau eines US-Raketenschildes in Europa angekündigt.

Dabei betonte Medwedew, dass Russland mit den USA und der Nato weiter verhandeln wolle, um einen Kompromiss bei der Lösung einer der heiklesten Fragen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu erreichen.

Medwedew kündigte in einer Sondererklärung den Ausbau der strategischen Nuklearkräfte an. Darüber hinaus werde Russland die ballistischen Raketen mit den neuesten Sprengköpfen ausrüsten, um den Raketenschirm durchbrechen zu können. Im Westen und im Süden des Landes würden modernste Waffen aufgestellt, die in der Lage seien, den europäischen Raketenschild zu zerstören.

Außerdem sagte Medwedew, dass notfalls auf die Abrüstungspolitik verzichtet werde und der Ausstieg aus den Abrüstungsverträgen erwogen werde. Er erinnerte daran, dass Russland aus dem START-Vertrag aussteigen kann, dem Abkommen, das von beiden Seiten als Symbol des Neustarts zwischen beiden Ländern bezeichnet wird.

Russland und die Nato hatten sich vor einem Jahr beim Gipfel in Lissabon darauf geeinigt, bei der europäischen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten. Die Verhandlungen gerieten jedoch in eine Sackgasse. Das westliche Militärbündnis lehnte Russlands wichtigste Forderung ab, zu garantieren, dass der Raketenschirm nicht gegen das russische Atompotenzial gerichtet ist.

Nach dem Treffen mit US-Präsident Barack Obama am 12. November in Honolulu hatte Medwedew verkündet, dass die Positionen Moskaus und Washingtons weit auseinander liegen würden und die Seiten die Beratungen fortsetzen müssten. Am Montag (21. Nov.) betonte Medwedew bei einem Gespräch mit den Offizieren des Militärbezirks Süd in Wladikawkas (Teilrepublik Nordossetien), dass die russische Antwort auf die Verwirklichung der Raketenabwehr-Pläne zwar vernünftig und ausreichend sein werde, aber Verhandlungen mit der Allianz weiter möglich seien.

Die USA hatten vor kurzem verkündet, dass sie einigen Verpflichtungen in dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) nicht mehr nachkommen würden. Wie das US-Außenministerium mitteilte, könnten der KSE-Vertrag und die Raketenabwehr nicht miteinander verknüpft werden. Die Verhandlungen müssten fortgesetzt werden, so das US-Außenministerium.

Militärische Antwort

„Ich habe folgende Entscheidung getroffen: Ich habe das russische Verteidigungsministerium beauftragt, unverzüglich einen Raketenfrühwarnradar in der Stadt Kaliningrad in Dienst zu stellen“, sagte Medwedew.

Beim Aufbau eines Systems der Luft- und Weltraumverteidigung werde in Russland vor allem der Schutz der Atomwaffenanlagen verstärkt.

„Strategische ballistische Raketen, die von den Strategischen Raketentruppen und der Marine in Dienst gestellt werden, werden mit den modernsten Sprengköpfen ausgerüstet, um den Raketenschirm durchzubrechen“, sagte Medwedew.

„Falls die in der Erklärung aufgezählten Maßnahmen nicht ausreichen, werden im Westen und im Süden des Landes modernste Waffen aufgestellt, die in der Lage seien, den europäischen Raketenschild zu zerstören“, sagte Medwedew. Dabei handele es sich vor allem um die Stationierung von Raketensystemen des Typs Iskander in der Ostsee-Exklave Kaliningrad.

Diplomatische Antwort

Wie Medwedew betonte, will Russland den Dialog mit den USA fortsetzen. Russland schließe zwar nicht die Tür für weitere Verhandlungen und Kooperation aus, es wird jedoch mit Rücksicht auf die Entwicklung der Ereignisse in jeder Phase des Aufbaus der US-Raketenabwehr vorgehen. „Wenn unsere Partner fair und verantwortungssvoll handeln und auf unsere rechtmäßigen Sicherheitsinteressen Rücksicht nehmen, dann werden wir eine Einigung erzielen können - davon bin ich überzeugt“, so Medwedew. Andernfalls müsste Russland „nach anderen Antworten suchen“, heißt es in der Erklärung.

„Bei einer ungünstigen Ereignisentwicklung behält sich Russland das Recht vor, auf weitere Schritte im Bereich der Abrüstung und der Rüstungskontrolle zu verzichten“, sagte Medwedew. Dabei erinnerte er daran, dass Russland aus dem START-Vertrag aussteigen kann. Das Abkommen, dass den Abbau des Atomwaffenarsenals Russlands und der USA vorsieht, trat am 5. Februar in Kraft. In diesem Abkommen wurde auf Drängen Moskaus festgeschrieben, dass es einen Zusammenhang zwischen offensiven und defensiven Waffen gibt.

„Angesichts eines untrennbaren Zusammenhangs zwischen strategischen offensiven und defensiven Waffen kann es einen Grund für einen Ausstieg aus dem START-Vertrag geben. Dies entspricht dem Sinn des Vertrags“, sagte der russische Staatschef.

Welche Gefahr bedeutet die Raketenabwehr für Russland?

Die US-Pläne zum Aufbau des Raketenabwehrsystems, das ihr Territorium vor ballistischen Raketen schützen soll, sind eine der heikelsten Fragen in den russisch-amerikanischen Beziehungen.

Zurzeit haben die USA zwei strategische Abfangbasen – auf Alaska und in Kalifornien. Russland hat eine Abfangbasis der strategischen Raketenabwehr, die sich in der Nähe von Moskau befindet.

Die USA wollen eine dritte Abfangbasis im eigenen Land aufbauen. Dies bedeutet die Schaffung eines weltumspannenden Raketenabwehrsystems, das das Kräftegleichgewicht in der Welt verändern kann.

Die US-Pläne zur Stationierung der Raketenabwehrelementen in Polen und Tschechien hatten heftige Kritik seitens Moskaus ausgelöst. In Tschechien sollten eine Radaranlage und in Polen Abfangraketen aufgebaut werden.

US-Präsident Barack Obama und Pentagon-Chef Robert Gates hatten am 17. September 2009 verkündet, die Pläne zum Aufbau des US-Raketenabwehrsystems zu ändern. Die USA verschoben die Stationierung der bodengestützten Raketenabwehrelemente in Europa auf 2015.

Die europäische Raketenabwehr, darunter die Bodeninfrastruktur, sollte in vier Phasen bis 2020 vollständig errichtet werden. Bis die ersten Bodenobjekte entstehen, sollen US-Kriegsschiffe mit Abfangraketen die europäische Küste überwachen.

Die Stationierung von Raketenabwehrelementen nahe der russischen Grenze könnte Militärexperten zufolge die Effizienz der Strategischen Atomkräfte Russlands beeinträchtigen.

Präsident Dmitri Medwedew hatte bei dem Russland-Nato-Gipfel in Lissabon im November 2010 vorgeschlagen, das Raketenabwehrsystem unter Beteiligung Russlands nach Sektoren aufzuteilen. In diesem Fall könnten russische Abfangraketen bei Rostow-am-Don aufgestellt werden, die den iranischen Raketenstützpunkt Isfachan im Visier haben. Die moderne Radaranlage bei Armawir (Region Krasnodar) wäre für die Raketen verantwortlich, die einen Schutz vor den iranischen Mittelstreckenraketen bieten.

Am 26. Mai 1972 hatten Moskau und Washington den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missiles) geschlossen, der am 3. Oktober desselben Jahres in Kraft trat. Der Vertrag war unbefristet und konnte jederzeit von beiden Seiten quittiert werden.

Im Juni 2002 verkündete das Weiße Haus den Ausstieg aus dem ABM-Vertrag. Der damalige US-Präsident George W. Bush behauptete, die Einrichtung des Raketenschildes sei „ein weiterer wichtiger Schritt“ zur Vorbeugung der Gefahren des 21. Jahrhunderts, die vor den USA und deren Verbündeten stehen.

In Washington behauptet man, die europäische Raketenabwehr wäre für die Abwehr von möglichen Raketenangriffen seitens der Pariastaaten wie Nordkorea, Iran und Syrien vorgesehen. Zuvor hatten auch Libyen und der Irak als solche gegolten.

In dem neuen russisch-amerikanischen START-Vertrag, der am 5. Februar 2011 in Kraft trat, ist die Verbindung zwischen den Offensiv- und Defensivwaffen verankert. Russland und die USA verpflichteten, ihre Offensivwaffen - egal ob in Dienst oder gelagert - abzubauen. Zugleich vereinbarten sie eine Obergrenze für ihre Atomsprengköpfe. Seit dem 6. April 2011 können gegenseitige Inspektionen vorgenommen werden.

Laut dem START-Vertrag sollen die Sprengköpfe binnen sieben Jahren um ein Drittel auf 1550 gekürzt werden. Die Zahl der Langstreckenraketen soll um die Hälfte reduziert werden.

Raketenabwehr und KSE-Vertrag: Ist ein Kompromiss möglich?

Die von RIA Novosti befragten Experten glauben nicht, dass Moskau und Washington in absehbarer Zeit Kompromisse bei der Raketenabwehr erreichen. Ihnen zufolge könnte der Verzicht der Amerikaner auf ihre KSE-Verpflichtungen das gegenseitige Misstrauen verstärken.

„Ich sehe keine Möglichkeiten für eine Raketenabwehr- und KSE-Einigung, denn die Seiten stehen auf unversöhnlichen Positionen und haben offenbar keine Lust auf Kompromisse“, sagte Alexander Chramtschichin vom Institut für politische und militärische Analysen.

Derselben Meinung ist auch der Direktor des Internationalen Instituts für politische Expertise, Jewgeni Mintschenko. "Unklarheit wird mindestens noch ein Jahr herrschen. Natürlich ist Barack Obama an einem neuen Durchbruch in den Beziehungen mit Moskau im Vorfeld der russischen Präsidentenwahl interessiert. Denn der Neustart war immerhin sein Baby“, betonte der Experte. „Rein technisch geht es dabei um die Billigung der getroffenen Entscheidungen in den USA. Die Beteiligung zahlreicher Personen und Institutionen verhindert Fortschritte im Raketenabwehr- und KSE-Bereich, zumal die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus verloren haben.“

Die Entscheidung sei „unmittelbar mit der Position Russlands zum Thema Raketenabwehr verbunden“, fuhr Mintschenko fort. „Russland hatte noch vor vier Jahren auf seine Verpflichtungen im Sinne des KSE-Vertrags vorübergehend verzichtet, damals reagierten die Amerikaner darauf nicht“, erinnerte er. Deshalb sei Washingtons Raketenabwehr-Entscheidung „eine Art Muskelspiel und eine Festigung der eigenen Positionen im Raketenabwehrstreit.“

Der Leiter des Zentrums für gesellschaftspolitische Forschungen, Wladimir Jewsejew, führte die Einstellung der Kooperation im Rahmen des Abkommens über eine Anpassung des KSE-Vertrags von 1999 auf die „gezielte Politik“ zurück, bei der der Vertrag als Druckinstrument gegen Russland gewesen sei. Angesichts dessen hält der Experte es für möglich, dass Moskau völlig aus dem KSE-Vertrag austritt.

„Meines Erachtens wäre das ein Schritt in die falsche Richtung. Dadurch würden zusätzliche Probleme bei der Entwicklung der russisch-amerikanischen Beziehungen entstehen“, warnte er. Besonders ungünstig wäre das im Vorfeld der Präsidentenwahlen in Russland und den USA.

Jewsejew erinnerte, dass Russland in letzter Zeit vom Westen in Bezug auf die Vereinbarungen von Istanbul (Anpassung des KSE-Vertrags) ständig kritisiert werde, die unter anderem den Abzug der russischen Truppen aus Abchasien und Südossetien (beide Länder gelten im Westen nach wie vor als Bestandteile Georgiens) und aus Transnistrien vorsehen. „Leider deutet man im Westen die Vereinbarungen von Istanbul auf seine Art“, bedauerte der Experte.

Der KSE-Vertrag sei derzeit sowohl für Russland als auch für die USA notwendig. „Zwischen Russland und dem Westen, vor allem zwischen Russland und den USA herrscht Misstrauen“, stellte Jewsejew fest. „Sollten die USA in dieser Situation aus dem KSE-Vertrag aussteigen, würde das Misstrauen noch größer werden. Das würde jedoch der von Washington verkündeten Neustart-Politik widersprechen.“

Der KSE-Vertrag sieht eine Beschränkung für fünf Kategorien konventioneller Waffen vor: Panzer, Schützenpanzerwagen, Kanonen mit dem Kaliber von mehr als 100 Millimeter, Kampfjets und Kampfhubschrauber. Außerdem sind darin ein intensiver Informationsaustausch und gegenseitige Inspektionen festgeschrieben. Die neue KSE-Fassung, die neue Bedingungen wie das Ende des Warschauer Paktes und die Nato-Erweiterung berücksichtigt, wurde am 19. November 1999 bei einem OSZE-Gipfel in Istanbul unterzeichnet.

2007 verkündete Moskau seinen Austritt aus dem KSE-Vertrag und anderen damit verbundenen internationalen Abkommen. Der Grund dafür waren die „außerordentlichen Umstände, die Russlands Sicherheit beeinflussen“. Der Kreml verzichtete jedoch nicht auf den angepassten KSE-Vertrag und wartete auf dessen Ratifizierung in den Nato-Ländern. Auf der Basis dieses Dokuments sollte der Übergang von der im Vertrag verankerten Blockstruktur zu nationalen bzw. territorialen Rüstungsebenen erfolgen, die für jeden einzelnen Mitgliedsstaat gelten würden.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 24. November 2011; http://de.rian.ru


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