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Konfliktreiches Kursbuch für die nächste Dekade

Die Allianz wird ein "nukleares Bündnis" bleiben

Von Olaf Standke *

Neue Strategie samt Raketenabwehr, Abzugsplan für Afghanistan, Umbau der Kommandostruktur: Binnen 24 Stunden hat die NATO eine Reihe grundlegender Beschlüsse gefasst. Ihren Charakter hat sie damit nicht geändert.

Triumphierend schwenkte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im Lissabonner Konferenzzentrum einen blauen Ordner mit elf Seiten und 38 Artikeln: »Das ist unser Kursbuch für die nächsten zehn Jahre.« Elf Jahre nach der letzten konzeptionellen Runderneuerung hat der Nordatlantik-Pakt eine neue Strategie verabschiedet. Auch mit veränderter Kommandostruktur bleibt es bei der Beistandspflicht laut Artikel 5 des NATO-Vertrags: Ein Angriff gegen ein Mitglied ist ein Angriff gegen alle. Zugleich denkt die Allianz weit über ihr Bündnisgebiet hinaus: »Die NATO wird sich engagieren, wenn es möglich und nötig ist, um eine Krise zu verhindern oder zu bewältigen«, heißt es in dem Text.

Und obwohl man angeblich vermehrt auf zivile Instrumente setzen sowie mit UNO und EU stärker zusammenarbeiten will – entscheidend bleibt die Fähigkeit, zwei größere Kriege und sechs kleine militärische Einsätze gleichzeitig führen zu können. Erwähnt wird dabei auch die Abhängigkeit der Mitgliedsländer von natürlichen Ressourcen wie Öl, Gas und anderen Rohstoffen und die Sicherheit des Transports dieser Güter in den NATO-Raum. Neben dem Kampf gegen den Terrorismus werden als neue Bedrohung auch sogenannte Cyber-Angriffe definiert, deren Abwehr selbst NATO-treue Bundestagsabgeordnete nicht als Kernaufgabe des Militärbündnisses sehen. Abgeschwächt heißt es jetzt im Konzept, dass Mitgliedstaaten die Allianz bei solchen Attacken konsultieren könnten, ohne dass eine Beistandspflicht bestehe. Die Wahrscheinlichkeit eines konventionellen Angriffs auf einen NATO-Staat schätzt das Strategiepapier als »gering« ein.

Erstmals wurde dort auch das Ziel einer atomwaffenfreien Welt formuliert. In Artikel 26 findet sich nicht zuletzt auf Drängen Deutschlands ein eigener Passus zur Abrüstung, wobei vor allem mit den auf ihre atomare Selbstbestimmung pochenden Franzosen um jede Formulierung gefeilscht wurde. Zugleich aber werden Atomwaffen weiter als Schlüsselelement der Gesamtstrategie bezeichnet. Die Arsenale der USA, Frankreichs und Großbritanniens seien ein Beitrag zur allgemeinen Sicherheit der Verbündeten. »Solange es Atomwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben«, betont Artikel 17. Mit diesem Credo bleiben auch die taktischen Atombomben der USA in Europa stationiert, obwohl wie Deutschland mehrere Mitgliedstaaten ihren Abzug fordern.

Wesentlicher Teil des neuen Konzepts ist eine eigene Raketenabwehr, die das gesamte Bündnisgebiet in Europa umfassen soll. Wobei Russland eingeladen wurde, am Aufbau eines solchen Schirms mitzuarbeiten (siehe Beitrag unten). Auch in den Beziehungen zu Moskau will die NATO eine neue Etappe verstärkter Zusammenarbeit einläuten. Die dort kritisch gesehene Osterweiterung der Allianz jedoch geht weiter: Die »Tür zur Mitgliedschaft« stehe »allen europäischen Demokratien« offen. Dafür darf Moskau künftig den NATO-Nachschub Richtung Hindukusch besser unterstützen; zudem soll die afghanische Armee russische Hubschrauber erhalten.

In Lissabon kündigten die 28 NATO-Staaten das Ende des Kampfeinsatzes bis 2014 an. Schon im nächsten Jahr will man mit dem Abzug der rund 130 000 Soldaten aus Afghanistan beginnen und in einzelnen Provinzen die Verantwortung für die Sicherheit an die afghanische Armee und Polizei übertragen.

Doch gaukelt man den kriegsmüden Wählern auch hier etwas vor, denn letztlich »werden wir bleiben, bis der Job getan ist«, so Generalsekretär Rasmussen. 2011 ist eine weitere internationale Afghanistan-Konferenz in Bonn geplant. Die NATO-Staats- und Regierungschefs treffen sich 2012 in den USA wieder.

* Aus: Neues Deutschland, 22. November 2010


Raketen, Russland und viele Fragen

Moskau will nicht bedingungslos als Juniorpartner kooperieren **

»Wir entwickeln unsere Fähigkeit, unsere Bevölkerung und unser Territorium gegen einen Angriff mit ballistischen Raketen zu schützen.« Mit diesem Satz ist ein Kernpunkt des künftigen Strategischen Konzepts der NATO formuliert. Das geplante Raketenabwehrprojekt soll das gesamte Bündnisgebiet in Europa umfassen. Gegen wen, bleibt vage. Iran wird auf Druck des Nachbarn Türkei nicht ausdrücklich als Bedrohung genannt.

Das neue Schutzschild geht dabei über die bisher vorhandenen Systeme hinaus. Die sind mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometern lediglich darauf ausgelegt, im Einsatz befindliche Truppen der Allianz zu schützen. Wie Washington angeboten hat, könnte ein solcher Schutz schon im nächsten Jahr durch die Stationierung von US-amerikanischen Kriegsschiffen im Mittelmeer wirksam werden.

Völlig unklar bleiben vorerst die Kosten des Ganzen. Auf 200 Millionen Euro über zehn Jahre beziffert NATO-Generalsekretär Rasmussen den Aufwand. Freilich erfasst das nur den Zusammenschluss der Systeme. Die Kosten für Raketen, Abschussrampen und deren Unterhalt könnten in die Milliarden gehen, schätzen Militärexperten. Die Zustimmung der Bundesregierung zum geplanten NATO-Raketenabwehrsystem hat denn auch wegen der unklaren Finanzierung Kritik in Berlin hervorgerufen. Bei der von Rasmussen genannten Summe werde es nicht bleiben, ist sich Gernot Erler, Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion, sicher. »Wie man ein solches System angesichts der Sparzwänge, die auch vor dem Verteidigungsetat nicht halt machen, realisieren will, ist mir ein Rätsel.« Der NATO-Gipfel habe »ein militärisch-industrielles Großprojekt als black box blind beschlossen«, moniert Frithjof Schmidt, Vizechef der Grünen-Fraktion.

Fragen hinterlässt schließlich auch die Einladung an Russland, an dem Raketenschild mitzuwirken. Präsident Dmitri Medwedjew nahm das Kooperationsangebot in Lissabon zwar an und versprach, eine Zusammenarbeit »prüfen« zu wollen, stellte aber Bedingungen. »Die NATO-Jäger laden den russischen Bär zur gemeinsamen Kaninchenjagd ein. Der Bär versteht aber nicht: Wozu brauchen sie die Bärenbüchsen?« twitterte der russische NATO-Botschafter Dmitri Rogosin noch unmittelbar vor Gipfelbeginn.

In Moskau will man sich nicht mit der ungeliebten Rolle als »Juniorpartner« begnügen. Die NATO-Raketenabwehr dürfe das militärische Gleichgewicht in Europa nicht verschieben, erklärte Medwedjew in Lissabon. Russland besteht auf einem umfassenden Informationsaustausch und auf der Übernahme von eigener Verantwortung. Medwedjew schlug vor, eine »sektorale Raketenabwehr« zu schaffen. Jedes Land sei dann für bestimmte Sektoren zuständig – nur dass USA-Präsident Barack Obama diese Idee bereits als unannehmbar abgelehnt habe, wie NATO-Diplomaten durchsickern ließen.

Olaf Standke

** Aus: Neues Deutschland, 22. November 2010


Historisches Ereignis oder hohle Versprechungen?

NATO-Rußland-Gipfel in Lissabon

Von Rainer Rupp ***


Der Gipfel des NATO-Rußland-Rats in Lissabon war für Angela Merkel (CDU) »ein historischen Ereignis«. Geradezu lyrisch sprach die Bundeskanzlerin davon, wie aus dem einstigen Gegner Rußland nun ein Partner der NATO geworden sei. Allerdings – und hier schimmerte dann doch wieder Realismus durch – warnte sie zugleich vor »zu hohen Erwartungen«. Vor der NATO liege noch ein langer Weg, gemeinsam mit Rußland mehr Sicherheit zu schaffen. In Lissabon sind Moskau und der westliche Militärpakt nicht nur übereingekommen, keine Gewalt gegeneinander beziehungsweise gegen andere Staaten anzuwenden, sondern aus der am Samstag veröffentlichten gemeinsamen Erklärung geht auch hervor, daß die Allianz tatsächlich auf eine ganze Reihe von russischen Forderungen eingegangen ist.

Die Erklärung erkennt u.a. an, daß »die Sicherheit der NATO und die Sicherheit Rußlands ineinander verflochten sind«, was im Klartext bedeutet, daß die NATO ihre »Sicherheitsinteressen« z.B. in den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien oder im Kaukasus nicht beliebig auf Kosten der russischen Sicherheitsinteressen dort ausdehnen kann. Zugleich wird die fast schon vergessene OSZE in der Erklärung wieder aufgewertet. Moskau und die NATO wollen sich in ihren zukünftigen Beziehungen von den Bestimmungen der Schlußakte von Helsinki leiten lassen, einschließlich der »Plattform für Kooperative Sicherheit«. Das Ziel sei, so weiter in der gemeinsamen Erklärung, eine strategische Partnerschaft zu erlangen, die sich auf Vertrauen, Transparenz und Berechenbarkeit gründet, um so einen gemeinsamen Raum von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der euroatlantischen Region zu schaffen.

All dies hört sich nach dem großen Durchbruch an, den Rußland in seinen Beziehungen zur NATO seit langem vergeblich gesucht hat. Das Umdenken der NATO dürfte einer Reihe von Faktoren geschuldet sein, wozu nicht zuletzt das Streben Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer starker EU-Staaten nach einer »strategischen Partnerschaft« mit Rußland zwecks Sicherung der langfristigen Energieversorgung gehören dürfte. Aber auch das zunehmend dringende Bedürfnis der USA und der NATO, ihre Truppen verstärkt über den russischen Landweg statt über das immer mehr von Unruhen geplagte Pakistan mit Nachschub zu versorgen, spielt mit hinein.

Aber die Erklärung von Lissabon ist kein Staatsvertrag. Die NATO hat Moskau bereits genug nicht gehaltene Versprechungen gemacht, angefangen damit, daß das Bündnis sich nicht nach Osteuropa und in die ehemaligen Sowjetrepubliken ausdehnen würde. Zudem steht die Erklärung wiederholt im Widerspruch zu dem ebenfalls in Lissabon abgesegneten »Neuen Strategischen Konzept«. Dort findet sich an vielen Stellen die alte Sprache amerikanischer Hardliner. So will die Allianz zum Beispiel mit ihrer Ostexpansion nicht ruhen, bis »Europa ganz und frei ist«. Mit dieser Formel wird die vom Kreml geforderte Anerkennung einer russischen Einflußzone in den ehemaligen Sowjetrepubliken seit zwei Jahrzehnten zurückgewiesen.

Vom Gipfel in Lissabon bringt der russische Präsident Dmitri Medwedew daher schöne Worte und Versprechungen mit. Die Wahrheit aber liegt in den Fakten. Daher will er erst einmal das NATO-Angebot zur Beteiligung am Raketenabwehrschild in Europa prüfen. Zugleich hat der Kreml-Chef die Ratifizierung des strategischen Abrüstungsvertrags START durch den US-Senat zum Lackmustest des Neuanfangs in den Beziehungen zu den USA und der NATO gemacht. Ohne das, so Medwedew, sei »alles umsonst gewesen«.

*** Aus: junge Welt, 22. November 2010


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