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"Elementares Debattendefizit" - Winni Nachtwei (MdB) zur FR-Debatte um den NATO-Krieg

Eine Debatte sei notwendig, schreibt der Abgeordnete, aber der Krieg war es auch

In die Debatte um den Brief der Hamburger Friedesnforscher Reinhard Mutz und Dieter S. Lutz hat sich auch der grüne Abgeordnete Winni Nachtwei eingeschaltet. Nachtwei ist stellvertretende verteidigungspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, war in früheren Zeiten engagierter Friedensaktivist, trug aber den Krieg gegen Jugoslawien "mit Bauchschmerzen" mit. Seine Stellungnahme ist in sich sehr widersprüchlich. Man kann sie so lesen, dass der NATO-Krieg 1999 eindeutig gegen das Völkerrecht verstieß; man kann sie aber auch so lesen, dass der Krieg gleichwohl gerechtfertigt war. Kritik übt Nachtwei an jenen, die sich die Debatte am liebsten ersparen wollen. Wir dokumentieren den sehr langen Text von Nachtwei stark gekürzt, wobei wir komplett auf den Abschnitt 6 seines Beitrags verzichten.

Zum Thema haben wir auf unserer Homepage bisher die folgenden Stellungnahmen dokumentiert:

Elementares Debattendefizit / Von Winni Nachtwei

... Ich antworte Ihnen als ein Abgeordneter, der die Nato-Luftangriffe trotz erheblicher Bedenken mittrug, der sich von Anfang an in und mit seiner Fraktion für die (selbst-)kritische Aufarbeitung dieser ersten Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland einsetzt. ...

Die erstmalige Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland vor zwei Jahren war eine historische Zäsur und ist bis heute sehr umstritten. Hinsichtlich der Aufarbeitung des Kosovo-Krieges haben wir einen unübersehbaren Nachholbedarf. Auf der einen Seite gibt es in der Gesellschaft und in der Politik eine verbreitete Verdrängung, auf der anderen Seite eine scharfe Verurteilung der Kriegsbeteiligung, die oft mit einer verzerrten Wahrnehmung des Kosovo-Konflikts und der deutschen Politik dazu einhergeht. Was zu kurz kommt, ist die äußerst schwierige Suche nach der Wahrheit.

(Vor-)Kriegszeiten sind immer geprägt von besonders unübersichtlichen Informationslagen und der Propaganda aller Konfliktparteien. Der zeitliche Abstand und der Zuwachs an Erkenntnissen ermöglichen eine fundiertere Urteilsbildung. Bisher gibt es in der Bundesrepublik - im Unterschied zu anderen Nato-Ländern - keine umfassende seriöse Überprüfung und Bilanzierung des Kosovo-Krieges und - Konfliktes - weder von Seiten der Bundesregierung und des Bundestages noch von dritter Seite. ...

Die einschneidende Bedeutung der deutschen Kriegsbeteiligung und ihre hochmoralische Begründung machen eine kritische Selbstprüfung auch im Nachhinein zwingend erforderlich. Wer angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen in Kosovo vor dem Wegsehen warnte, darf auch bei den Hintergründen und Folgen der eigenen mitverantworteten Politik nicht wegsehen. Die bislang unzureichende Aufarbeitung des Kosovo-Krieges behindert ein angemessenes friedenspolitisches Lernen.

Sie sehen: In der grundsätzlichen Forderung nach einer umfassenden Aufarbeitung des Kosovo-Krieges und der deutschen Beteiligung daran, besteht volle Übereinstimmung. Insofern unterstütze ich auch das Grundanliegen der von Friedensgruppen initiierten Unterschriftensammlung (www.fi-nottuln.de) und ähnlicher Aufrufe. Auf fünf Aspekte Ihres Briefes möchte ich näher eingehen. Meine umfassenderen Stellungnahmen zum Kosovo-Krieg und den notwendigen Konsequenzen finden Sie unter (www.nachtwei.de.)

Ausgangskonflikt im Kosovo

Auch wenn Sie einleitend betonen, dass am Beginn des Kosovo-Konflikts die aggressive Unterdrückungspolitik Serbiens stand, dass sie keinesfalls verharmlost oder entschuldigt werde und dass dies immer mitzudenken sei, so fokussieren Sie Ihre Konfliktwahrnehmung doch fast ausschließlich auf die Nato-Intervention. Nahe gelegt wird die unter Kritikern des Nato-Luftkrieges verbreitete Sichtweise, der Krieg habe erst am 24. März 1999 angefangen, und die Nato sei der Haupttäter in dem Konflikt und verantwortlich auch für den serbischen Vertreibungsterror im April 1999 wie für den albanischen im Juni.

Ausgeblendet bleibt dabei das an Flucht, Vertreibungen und Tötungen "reiche" Jahr 1998, in dem laut IICK bis September circa 1000 kosovo-albanische Zivilisten und 120 serbische Polizisten umkamen. Der IICK-Report konstatiert, die Nato-Luftschläge hätten serbischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung nicht provoziert. Sie hätten aber ein Umfeld geschaffen, das eine solche Operation durchführbar machte.

Richtig ist Ihre Feststellung, dass sich bis März 1999 im Kosovo keineswegs nur skrupellose (serbische) Täter und wehrlose (kosovo-albanische, zivile) Opfer gegenüber standen und dass der Konflikt komplizierter war, als er von westlichen Regierungen geschildert wurde.

In der Tat gingen Brüche des Waffenstillstandes immer wieder von der UCK aus. Das war den Sicherheitspolitikern im Bundestag durch die sehr nüchterne laufende Unterrichtung seitens der Bundesregierung sehr wohl bekannt. Die BBC-Dokumentation "Bomben und Moral" konstatierte eine Eskalationsstrategie der UCK, die terroristische Antiterroreinsätze der serbischen Kräfte bewusst einkalkuliert habe, um darüber die Nato zum Eingreifen zu veranlassen.

Sie behaupten, immer "brüchiger wird die Version der planvollen Vertreibungen, der ethnischen Säuberungen, der humanitären Katastrophe, in denen sich angeblich das Kriegsgeschehen erschöpfte". Namen und Begriffe wie "Massaker von Rugovo, von Raczak", "KZ von Pristina" oder "Hufeisenplan" nennen Sie als Synonyme für angeblich gezielte Manipulation der eigenen Bevölkerung.

In der Tat griffen Vertreter der Bundesregierung und insbesondere Minister Scharping in der Öffentlichkeit streckenweise zu einem rhetorischen und moralischen "Overkill" und zu Schwarz-Weiß-Darstellungen. Tatsächlich befand sich im Stadion von Pristina kein KZ, und schon nach der damaligen internen Unterrichtung des Verteidigungsausschusses lag dem Verteidigungsministerium kein "Hufeisenplan" vor, sondern nur verschiedene Hinweise auf eine solche Operation.

Allerdings geht es an der Realität der bewaffneten Auseinandersetzungen in Kosovo vorbei, diese zum bloßen Bürgerkrieg herunterzuspielen und eine systematische Vertreibungspolitik des Milosevic-Regimes zu leugnen, wie es bei vielen Kritikern des Regierungskurses geschieht und von Ihnen angedeutet wird. Der von Ihnen offenbar nicht berücksichtigte IICK-Report beschreibt das seit Februar 1998 typische Konfliktmuster als "both as an armed insurgency and counter-insurgency, and as a war (against civilians) of ethnic cleansing". Ein deutscher Polizeibeamter, der die Massentötung von Rugovo als Ermittler bis zur Abgabe des Abschlussberichts an Den Haag miterlebte, bestätigte mir gegenüber dieses Konfliktgemenge auch in diesem Fall.

Laut UNHCR-Meldung von Mitte März 1999 waren seit Januar 150.000-200.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden. Allein am 15. März während der Pariser Verhandlungen habe es in der Podujere-Region 25.000-40.000 neue Flüchtlinge gegeben. Am 23. März befanden sich 69.500 kosovo-albanische Flüchtlinge in Anrainerstaaten. Die Gesamtberichte von OSZE und IICK kommen zu dem Ergebnis, dass die nach Abzug der OSZE-Beobachter einsetzende umfassende Vertreibung der Kosovo-Albaner ohne Planung nicht möglich gewesen wäre.

2. Dreifacher Rechtsbruch?

Der Bundesrepublik, das heißt der Bundesregierung und der großen Mehrheit der von Ihnen angeschriebenen Abgeordneten werfen Sie einen dreifachen Rechtsbruch vor - des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des Verfassungsrechts. Unter Völker- und Verfassungsrechtlern ist die Meinungsbildung über den Nato-Einsatz weder einheitlich noch abgeschlossen.

Sie begründen Ihr Urteil demgegenüber apodiktisch und ohne jeden Abwägungsversuch. Kein Wort davon, dass das Völkerrecht hinsichtlich des Schutzes der Völker, also der Menschenrechte, lückenhaft ist. Kein Wort davon, dass der VN-Sicherheitsrat in mehreren Resolutionen seit September 1998 vor einer drohenden humanitären Katastrophe im Kosovo warnte, die Konfliktlage als "Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region" einstufte und damit eine politische Bewertung vorlegte, die notwendige Voraussetzung ist für ein Eingreifen der Staatengemeinschaft mit Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII. Kein Wort davon, dass die Autorität des VN-Sicherheitsrat in Sachen Bekämpfung von Völkermord und schwersten Menschenrechtsverletzungen sehr defizitär ist (vgl. Ruanda, Bosnien, Tschetschenien).

Die Nato-Luftangriffe waren Angriffsoperationen gegen einen souveränen Staat. Aber war es deshalb ein "Angriffskrieg", wie ihn das Grundgesetz eindeutig verbietet? Die Nato-Luftangriffe sollten keineswegs das "friedliche Zusammenleben der Völker" stören, im Gegenteil. Ziel war die Umsetzung der in VN-Resolutionen erhobenen Forderungen und die Einstellung von Vertreibung und Terror gegen eigene Zivilbevölkerung - und nicht die allgemeine Außerkraftsetzung der staatlichen Souveränität wie bei klassischen Angriffskriegen.

Damit kein Zweifel aufkommt: Das alles sind keine Gründe dafür, das völkerrechtliche Gewaltverbot und das verfassungsrechtliche Verbot des Angriffskrieges zu relativieren. Diese bleiben höchstrangig und unverzichtbar. Hinweisen will ich nur auf Dilemmasituationen. Die Art, wie Sie nach ihrem Urteilsspruch diesen Aspekt ansprechen, klingt eher nach der Option "mildernde Umstände" und "Bewährungsauflage". Im Vordergrund bleibt Ihr Urteil, wonach die Mitglieder der Bundesregierung und die sie unterstützenden Abgeordneten so etwas wie Staatsverbrecher sind. Dass in dieser Weise Beschuldigte sich schwer tun, mit Ihnen in Dialog zu treten, liegt nahe. Angesichts eines solchen Urteils ist es für mich zudem kaum nachvollziehbar, wie Sie sich dann mit einer vom Rechtsausschuss des Bundestages eingesetzten Kommission zur Klärung rechtlicher und rechtsethischer Fragen begnügen können.

Nichts desto weniger bleibt eine sorgfältige Überprüfung der rechtlichen und rechtsethischen Dimension des Nato-Luftkrieges, der deutschen Beteiligung daran sowie eine Verständigung darüber, wie das Recht fortentwickelt werden muss, unabdingbar. Zu offenkundig sind die Widersprüche zum völkerrechtlichen Gewaltverbot. Zu groß waren und sind die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der bundesdeutschen Kriegsbeteiligung in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt unter vielen Bundeswehrangehörigen. Hiervon können Militärgeistliche und engagierte christliche Soldaten berichten. Hierauf gab die Wehrbeauftragte in ihrem Jahresbericht 1999 einen deutlichen Hinweis ("Es wäre ein Gebot der Inneren Führung gewesen, einen militärischen Einsatz dieser Art frühzeitig und rechtlich klar zu begründen."). General a. D. Loquai steht mit seiner sehr kritischen Beurteilung der Legitimität der Nato-Luftangriffe unter Bundeswehroffizieren keineswegs allein. Und dass der Justizminister der Kohl-Regierung, Schmidt-Jorzig, wegen rechtlicher Bedenken der Bundestagsabstimmung am 16. Oktober 1998 fernblieb, wurde erst kürzlich in der Öffentlichkeit bekannt.

Die Bundesregierung hat sich noch während des Kosovo-Krieges darum bemüht, die internationale Kosovo-Politik wieder stärker der VN zuzuordnen. Eine Politik der Selbstmandatierung bei Kriseneinsätzen wird abgelehnt. Allerdings erfahre ich in der Koalition und im Bundestag eine diffuse Unklarheit, wie kategorisch künftig ein VN-/OSZE-Mandat Voraussetzung eines Kriseneinsatzes sein soll. Es gibt auch Haltungen, die sich Ausnahmen offen halten wollen und sich in ihrer außenpolitischen "Handlungsfreiheit" nicht einschränken lassen wollen. Ich spüre dabei manchmal eine Art friedensethische Selbstzufriedenheit, die ein gesundes Selbstmisstrauen vermissen lässt.

3. Wirksamkeit der Nato-Intervention und Alternativen

Erklärtes Ziel der Nato-Luftangriffe war die Verhinderung einer humanitären Katastrophe, also der Neuauflage der Kämpfe und Vertreibungen des Jahres 1998 auf schlimmerem Niveau. Dahinter stand die von den Erfahrungen der Balkan-Kriege geprägte Furcht vor einem "zweiten Bosnien" und einem umfassenden Flächenbrand in der ganzen Region. Das war zumindest die in Bundestag und Bundesregierung ausschlaggebende Motivations- und Interessenlage, auch wenn von Kritikern oft andere Motive unterstellt werden. Dieser umfassende regionale Flächenbrand wurde verhindert. Das Problem ist nur, dass dies eine "unsichtbare" Wirkung ist. Verhindert wurde eine Totalvertreibung der Kosovo-Albaner, ermöglicht wurde ihre fast vollständige Rückkehr, beendet wurde die jahrelange Unterdrückungspolitik des Milosevic-Regimes im Kosovo.

Das erste und in der Öffentlichkeit vorrangige Ziel allerdings, die Verhinderung einer humanitären Katastrophe, wurde offenkundig verfehlt. Im Gegenteil: Unmittelbar nach Abzug der OSZE-Beobachter radikalisierte und brutalisierte sich der serbische Vertreibungsterror, dem nach IICK-Einschätzung ungefähr 10.000 Kosovo-Albaner zum Opfer fielen.

Die Bundesregierung sträubt sich bisher, diesen strategischen Fehlschlag offen zu benennen. In einer Auswertungsbroschüre des Verteidigungsministeriums hieß es lapidar, die humanitäre Katastrophe sei beendet worden. Ebenfalls tut sich die Bundesregierung schwer, die tödlichen und zerstörerischen Folgen der Nato-Luftangriffe für die serbische Gesellschaft so klar zu benennen, wie es nach dem IICK-Report inzwischen möglich ist. Wenn Sie allerdings der Nato-Intervention Erfolglosigkeit vorwerfen, weil sie keinen Frieden im Sinne "sicherer, gerechter und zukunftsfähiger Lebensbedingungen" geschaffen hätte, dann sind Sie hier dem Euphemismus des Begriffs militärischen "Friedenschaffens" erlegen. Militärs wie Friedensforscher wissen in der Regel, dass Militär höchstens einen Waffenstillstand und einen "Sicherheitsrahmen", aber selbstverständlich keinen Frieden schaffen kann.

Äußerst gespannt war ich angesichts Ihrer Ankündigung "Was ist die Alternative?" Genau das war auch unsere ständige Frage und Not Ende 1998 und Anfang 1999: Welche alternativen Konfliktlösungsmöglichkeiten gab es auf der Ebene internationaler und multilateraler Politik, nicht als Wunsch, sondern als realitätstaugliche Möglichkeit? Doch ihre Antwort bleibt äußerst unbefriedigend.

Der Verweis auf den "klassischen Weg internationaler Streitbeilegung" im Falle Bosniens und die Abrüstungserfolge von Dayton unterschlägt die "Kleinigkeit", dass dem 200 000 Tote, eine Bodenoffensive kroatischer und bosnisch-muslimischer Kräfte sowie Luftangriffe der Nato vorausgegangen waren. Diese "klassische" Alternative ist damals in abgewandelter Form von Helmut Schmidt für den Kosovo vorgeschlagen worden: Er wandte sich gegen ein militärisches Eingreifen und nahm lieber ein "Ausbluten" des Konflikts in Kauf. Das Abkanzeln der Rambouillet-Verhandlungen als Karikatur und des Krisenmanagements als dilettantisch lässt wohl an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig - Alternativen werden mit dieser Kritik allerdings nicht deutlich.

Völlig richtig ist Ihre Feststellung, dass die Staaten einseitig auf Kriegführung vorbereitet waren, keineswegs aber über genügend und vor allem qualifiziertes Personal für Beobachtermissionen wie die der OSZE verfügten. Dieser Mangel setzte sich fort im Juni 1999, als man nur militärische, aber kaum zivile und polizeiliche Kräfte für die VN-Übergangsverwaltung im Kosovo zur Verfügung hatte.

Mit dieser Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Mitteln und Fähigkeiten sprechen Sie ein Schlüsselproblem internationaler Krisenbewältigung und Friedensmissionen an. Dieses Defizit haben wir in der Opposition kritisiert und uns auf Grundlage der Koalitionsvereinbarung sofort daran gemacht, den Rückstand in den Fähigkeiten ziviler Krisenprävention, darin des Instruments ziviler Friedensmissionen, abzubauen. Gerade als führende Mitarbeitern des ISFH, dem immerhin das OSZE-Institut angegliedert ist, ist Ihnen das bekannt.

Sie schreiben von einem "vermeidbaren" Krieg. Auch ich gehe grundsätzlich von dieser Hypothese aus. Allerdings wäre es für eine produktive Aufarbeitung des Krieges notwendig, diese Friedenschancen genauer zu benennen. Das tun Sie nur andeutungsweise. Meiner Auffassung nach müsste dafür besonders die Phase zwischen Dayton und dem Ausbruch der offenen Kämpfe Anfang 1998 betrachtet werden, wo der Konflikt noch nicht so verrannt war.

4. Demokratieversagen?

Sie zitieren eine "weit verbreitete Vermutung, das Parlament sei seiner Kontrollfunktion auf dem Weg in den Krieg nicht oder nicht ausreichend gerecht geworden" und konstatieren ein "Demokratieversagen". Angesichts der äußerst intensiven Erörterungen vor allem in den Ausschüssen und in unserer Fraktion im Herbst 1998 und Anfang 1999 hätte ich gern gewusst, worauf Sie dieses harsche Urteil stützen.

Nach Überprüfung meiner ausführlichen Aufzeichnungen aus diesen Monaten kann ich weiterhin keine Fehlinformation oder gar Manipulation des Parlaments durch die Bundesregierung feststellen.

"Raczak", "Rugovo", "Hufeisenplan" konnten als Vorgänge des Jahres 1999 für die Entscheidungsfindung der Abgeordneten am 16. Oktober 1998 keine Rolle spielen. Für die weitere Meinungsbildung waren sie von untergeordneter bzw. anderer Bedeutung: "Raczak" war Antrieb für eine verstärkte Verhandlungsinitiative.

In der Tat mussten wir uns in dem damaligen Werte- und Zielkonflikt die von Ihnen genannten Prüffragen stellen - nach der Art des Konflikts, nach den nichtkriegerischen Alternativen und ihrer Ausschöpfung, nach den tatsächlichen Zwecken der angekündigten Luftangriffe und möglichen anderen Interessen dabei.

Wenn Sie allerdings bei dieser Entscheidung über Leben und Tod "zweifelsfreie Gewissheit" verlangen, dann ist das angesichts der Unübersichtlichkeit und Dynamik von Krisensituationen und den vielen Unwägbarkeiten politischer Prozesse für politisch Verantwortliche eine völlige Überforderung. Sie verwechseln offenkundig die Anforderung an einen Richter und das Privileg von Forschern, die ihre Urteile aus dem Nachhinein fällen, mit den Begrenzungen und Risiken handelnder Politik.

Nichtsdestoweniger werden auch nach meiner Auffassung strukturelle Defizite deutlich: Warum fand eine vorausschauende und krisenpräventive Kosovo-Politik, wie sie zum Beispiel mehrfach von den Bündnisgrünen seit 1991 (!) im Bundestag mit Anträgen angemahnt wurde, im Parlament, in der Regierung, aber auch im Großteil der Friedensbewegung praktisch keine Resonanz? Dieses Wegsehen herrschte im Bundestag noch im Mai 1998, als die Gewalt in Kosovo eskaliert war. Es ist ein erneutes Beispiel für mangelnde frühzeitige Krisenvorbeugung.

Die Strategie der "begrenzten Luftschläge" wurde im Parlament und im Verteidigungsausschuss nicht systematisch und radikal durchgesprochen. Die Frage "Was geschieht, wenn es nicht funktioniert?" wurde als spekulativ abgetan und nicht weiter verfolgt. Das war ein Versagen der parlamentarischen Kontrolle, das ich mir auch persönlich anlaste und woraus wir im Kontext neuen Konfliktverschärfungen (Montenegro, Presevotal, Nordmazedonien) für unsere parlamentarische Arbeit die Konsequenzen gezogen haben.

Während des Luftkrieges verschlechterte sich die Informationslage des Parlaments zusehends. Interne Fragen wurden unzureichend beantwortet. Insgesamt empfand ich beim BMVg eine Mischung aus tatsächlicher Unwissenheit, die aus dem unpartnerschaftlichen Macht- und Informationsgefälle in der Nato resultierte, und einer Haltung des Nichtwissenwollens gerade gegenüber den Alliierten.

5. Sicherheits- und friedenspolitische Konsequenzen

Der zügige Aufbau einer eigenen Kriseneingreiftruppe der EU legt den Eindruck nahe, als beschränke sich das Lernen aus dem Kosovo-Krieg darauf, die offenkundigen militärischen Rückstände der europäischen Staaten gegenüber den USA ausgleichen zu wollen. Das wäre äußerst kurzsichtig und liefe auf nichts anderes hinaus, als beim nächsten militärischen "Kriseneinsatz" nur gleichberechtigt oder eigenständig dabei zu sein. Wenn wir aber davon ausgehen, dass der Nato-Luftkrieg keineswegs Modell, sondern abschreckendes Beispiel ist, dann muss ein angemessenes Lernen aus dem Kosovo-Krieg den gesamten Konflikt und insbesondere seine letzten zehn Jahre im Blick haben. Und deshalb muss es in erster Linie darum gehen, die bisher rückständigen Fähigkeiten der Krisen- und Gewaltvorbeugung in der internationalen Politik beschleunigt zu stärken. Dabei ist genau zu klären, was Militär zur Krisenbewältigung, zur Gewalteindämmung und -verhütung beitragen kann und was nicht.

Der von der Bundesregierung initiierte Stabilitätspakt ist ein Programm umfassender und struktureller Friedensförderung und Krisenprävention. Von der Öffentlichkeit nahezu unbeachtet baut die EU inzwischen Fähigkeiten der nichtmilitärischen Krisenbewältigung auf, von der gezielteren Nutzung ihrer vielfältigen außenpolitischen und -wirtschaftlichen Instrumentarien bis zur Bereitstellung von Kräften für internationale Friedens- und Polizeimissionen. Hierbei gehört die Bundesregierung zu den treibenden Kräften. Aber diese ansehnlichen Fortschritte stehen noch im Schatten der militärischen Anstrengungen, deren Aufgabenbestimmung im höchst Allgemeinen der Petersberg-Aufgaben (Hilfseinsätze über Friedenserhaltung bis "Friedenserzwingung") verbleibt. Wie Sie bemängele auch ich seit längerem, dass die bundesdeutsche Debatte um die Bundeswehrreform, immerhin die grundlegendste seit ihrem Bestehen, dominiert wird von Sekundärfragen der Modernisierung, Wehrstruktur, Finanzausstattung und Standortschließungen. Die Primärfrage des präziseren Wofür der deutschen Streitkräfte findet hingegen kaum Beachtung. Die Bundeswehr wird zurzeit Richtung Interventionsfähigkeit umgebaut. Dies ist nach aller historischer Erfahrung eine missbrauchsgefährdete Fähigkeit. Trotzdem bleiben Schlüsselfragen nach den ausschlaggebenden Werten, Normen und Interessen bei militärischen Kriseneinsätzen, der (Un-)Möglichkeit umfassender militärischer "Friedenserzwingung" bei innerstaatlichen Konflikten, den notwendigen bzw. unsinnigen Fähigkeiten ungeklärt.

An diesem elementaren Debattendefizit tragen viele Mitverantwortung. Hauptverantwortung trägt aber ein Verteidigungsminister, der zunächst die Weizsäcker-Kommission einen sehr durchdachten Bericht vorlegen, aber schon drei Wochen später seine "Eckpfeiler" vom Kabinett verabschieden ließ. Seitdem werden mit Planungsdokumenten immer neue Fakten geschaffen, so dass eine breitere gesellschaftliche Debatte regelrecht ausmanövriert wird. ...

Für die gesellschaftliche Vergewisserung über eine wirklich zukunftsfähige Sicherheits- und Friedenspolitik ist es noch nicht zu spät. Der Zug der Bundeswehrreform ist wohl im letzten Jahr losgefahren, gerät aber inzwischen zunehmend ins Stottern. Offenkundig ist die beschlossene Bundeswehrstruktur angesichts des gedeckelten Finanzrahmens zu überdimensioniert und nicht realisierbar. Da zugleich die Wehrpflicht zunehmend wackelt, wird ein zweiter Anlauf der Bundeswehrreform nach der nächsten Bundestagswahl immer wahrscheinlicher. ...

Aus: Frankfurter Rundschau, 15. Mai 2001

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