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NATO-Krieg: Die berechtigte Frage nach Rechtsbrüchen

In einem offenen Brief an den SPD-Bundestagsabgeordneten Gernot Erler greift Hans-Peter Dürr in die Debatte ein

Der folgende Brief von Hans-Peter Dürr an Gernot Erler nimmt Bezug auf den Briefwechsel zwischen den Hamburger Friedensforschern Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz sowie Gernot Erler (SPD) über den deutschen Kriegseinsatz gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999. Beide Dokumente finden sich auf unserer Homepage: Ein weiterer Beitrag zur Debatte hat Stefanie Christmann beigesteuert:

Sehr geehrter Herr Erler,

ich habe den offenen Brief von Prof. Lutz und Dr. Mutz an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zum zweiten Jahrestag des Kosovo-Krieges außerordentlich begrüßt, war doch eine öffentliche Stellungnahme zu diesem schwerwiegenden und kontrovers gehandhabten Ereignis längst überfällig. Ich war darüber erfreut, dass in diesem Brief über die ganze Problematik nicht nur referiert wurde, sondern auch konkrete Vorschläge gemacht wurden, wie (durch eine öffentliche Anhörung im parlamentarischen Raum) die dabei für viele Parlamentarier und vor allem die große Zahl engagierter, verantwortungsbewusster StaatsbürgerInnen noch offen gebliebenen Fragen kritisch reflektiert und konstruktiv aufgearbeitet werden könnten, mit dem Ziel, künftig für vergleichbare Fälle besser gewappnet zu sein. Es gefiel mir besonders die ruhige und besonnene Art und Weise, in der die beiden erfahrenen Forscher der Friedens- und Sicherheitspolitik ihr Anliegen vortrugen.

Ich war deshalb einigermaßen überrascht und ehrlich betroffen, Herr Erler, als ich Ihre Antwort darauf in der Frankfurter Rundschau: "Kosovo-Aufarbeitung: Weitere Lehren ziehen statt Tribunale veranstalten!" las, deren Überschrift mir zunächst Zustimmung zum Lutz-Mutz-Brief zu signalisieren schien (da ja "Weitere Lehren ziehen statt Tribunale" eine wesentliche Botschaft von deren Brief war), sich dann aber leider als eine mehr ärgerliche, wenig souveräne und die Angesprochenen reichlich diskreditierende Entgegnung entpuppte. Ich hatte zunächst die Vermutung, dass sie auf einen anderen, mir unbekannten Lutz-Mutz-Brief reagierten oder dass ich selbst beim Lesen deren Pointe total missverstanden haben musste. Aber beim nochmaligen Lesen fand ich meinen ersten Eindruck bestätigt. Sie sollten wirklich vorsichtig sein, einen Andersdenkenden als "Verleumder" zu denunzieren. Wenn ein Wissenschaftler eine Frage stellt, dann heißt dies nicht, dass sie automatisch mit "Ja" beantwortet werden muss. Er hat vielleicht eine starke Meinung, dass dies so ist, aber es gibt Gegenmeinungen und er möchte sie begründet wissen. Solche Klarstellungen können in parlamentarischen Anhörungen erfolgen. Ich habe dabei die hochinteressanten "public hearings" in den USA im Auge (wie z. B. in den frühen 50er Jahren im Oppenheimer-Teller Streit oder über die Zweitschlagfähigkeit in den frühen 70er Jahren), die für meine Orientierung eine große Hilfe waren. Meine deutschen Erfahrungen sind da nicht ganz so gut (z. B. im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Beteiligung Deutschlands am Reagan'schen SDI-Projekt). Die Schwierigkeit bei solchen Klärungsversuchen ist selbstverständlich, dass politische Entscheidungen von vielen, schwer fassbaren Bedingungen abhängen, über die man je nach Erfahrung und Interesse verschieden urteilen und spekulieren kann. Als Historiker wissen Sie besser als ich, dass historische Ereignisse nicht die Härte physikalischer Fakten erlauben. Hier kann deshalb reichlich manipuliert werden. Insbesondere werden Sachverhalte bewusst durch bestimmte Interessenlagen verbogen. Es kommt dabei sehr auf die Personen an und nicht nur die Institutionen, denen sie zugeordnet sind, was sich manchmal erst in vertraulichen Gesprächen zeigt. Es war für mich immer wieder erschreckend, wie leicht wir an der Nase herumgeführt werden können. Hier helfen nur öffentliche Anhörungen, um größere Klarheit zu schaffen, wenigstens was die Hintergründe anbelangt, auf deren Grundlage letztlich Entscheidungen gefällt wurden. (So habe ich in den letzten Wochen in den USA mit großem Interesse die Berichte über die Hintergründe des US-Angriffs an der kubanischen Schweinebucht vor vierzig Jahren verfolgt.)

Die Frage nach Rechtsbrüchen ist berechtigt, da die Antwort offen ist. Ich finde daran nichts Anstößiges, im Gegenteil sie bildet den Kern der Kontroverse. Nach Meinung von Lutz und Mutz (und hierbei geht es bei ihnen expressis verbis: "nach Ansicht vieler Menschen - uns eingeschlossen - . . ." zunächst um Meinungen) und vielen anderen (darunter z. B. auch den vormaligen Bundesjustizminister Schmidt-Jorzig \[FDP\], der seinerzeit im Kabinett einen entsprechenden Vermerk extra zu Protokoll hat nehmen lassen) sind es drei Verletzungen, nämlich bezüglich: Völkerrecht, internationales Vertragsrecht und Verfassungsrecht. Manche nennen, wie neulich der Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), noch einen vierten: den 2+4-Vertrag. Der Streit geht doch nicht über diese klaren Rechtsnormen, sondern über ihre Ausnahmeregelungen und die Art und Weise ihrer Interpretation und Zulässigkeit. Dies hängt nun empfindlich von der Einordnung und Einschätzung der Verstöße - im Kosovofall etwa der Menschenrechtsverletzungen - ab, die geahndet werden sollen. Hier eine vernünftige Grenze zu ziehen, ist äußerst schwierig und macht Meinungsverschiedenheiten verständlich. Wenn Sie mich fragen, lassen sich scharfe Grenzen ohne genaue Betrachtung der für eine Ahndung verfügbaren Werkzeuge gar nicht ziehen. Die Hauptschwierigkeit liegt meines Erachtens in der Vorstellung von "Krieg als ultima ratio". Man braucht kein Pazifist zu sein, um zu erkennen, dass Krieg in seiner heute üblichen hoch-mechanisierten over-kill-Form nicht mehr rational als Problemlöser fungieren kann, da durch ihn, in der Regel, vor allem Unschuldige, jetzt und auch künftig Lebende, getroffen werden und nicht die vermeintlichen oder gar eigentlichen Schurken. Mit Superkeulen, die großzügig und indifferent Lateralschäden in Kauf nehmen, lassen sich, ganz nüchtern betrachtet, Menschenrechte schlicht nicht erzwingen. Kriege mit geballter Zerstörungskraft sind zur Verteidigung der Menschenrechte nicht nur ungeeignet, sondern extrem kontraproduktiv. Das ist meines Erachtens die eigentliche Lehre von Kosovo, eine Lehre, die viele von uns, die große Kriege am eigenen Leibe erlebt haben, schon längst gezogen haben. Der Krieg ist unvernünftig, irrational, keine ultima ratio mehr. Die Ausnahmeregelungen verlangen aber zu ihrer Rechtfertigung zwingend Werkzeuge, die vernünftige Chancen bieten, den beabsichtigten Zweck zu erreichen. So verlangt unser Wertesystem, das die Menschenrechte wesentlich einschließt, dass wir den Tod eines Unschuldigen auf der Gegnerseite nicht als Gewinn, sondern, wie den Tod der eigenen Unschuldigen, als Verlust zählen. Ich glaube nicht, dass wir, wenn es uns wirklich um Menschenrechte geht, darüber sehr verschiedener Meinung sein können. Hier stehen wir also auf gemeinsamem Boden. Diese Einsicht entbindet uns jedoch nicht von der eigentlichen schwierigen Aufgabe, den weiter bestehenden großen Herausforderungen auf eine andere, bessere und angemessenere Weise zu begegnen. Hierzu sind neue Wege nötig. Es erfordert ein neues Realitätsbewusstsein, das die Probleme der Zukunft nicht mit einer Verlängerung und Verstärkung alter, unbrauchbar gewordener Werkzeuge zu lösen versucht. Dies mag für Sie wie eine, der harten Realität ausweichende, wolkige Wunderformel klingen. Aber wir können doch täglich beobachten, wie schnell sich neue Gebiete fruchtbar erschließen lassen, wenn sich einmal menschliche Kreativität darauf richtet. Warum öffnen wir nicht die Schleusen menschlicher Einsatzfreude und Fantasie an den richtigen Stellen.

Warum greifen Sie die vernünftigen Vorschläge der beiden Wissenschaftler nicht positiv auf? Warum diese Haltung, sie wegen ihrer anderen Meinung zu schelten und ihnen gewissermaßen einen Maulkorb verpassen zu wollen. Der Kritiker hat im wissenschaftlichen Bereich eine wesentliche Funktion, er hilft uns, unsere Fehler besser und schneller zu erkennen. Wenn Ihnen ihre Vorschläge missfallen, dann machen Sie bessere. Warum ist von den Parlamentariern nicht schon lange dieses Thema aufgegriffen worden? Es hilft der breiten Öffentlichkeit wenig, wenn Sie uns mitteilen, wie vieles hinter verschlossenen Türen schon erörtert wurde und geschieht. Erkennen Sie bitte, dass Lutz und Mutz mit ihrem Brief gerade Ihnen und anderen Parlamentariern Brücken zu weiten Teilen der Gesellschaft bauen wollen, zu denen Sie, wie es in Ihrer Reaktion aufscheint, Kontakt und Bezug verloren haben. Lutz und Mutz den Vorwurf von selbsternannten Richtern zu machen, die auf ein Tribunal abzielten, ist doch reichlich absurd und zeugt eher von einer weitgehenden Unkenntnis der gegenwärtigen Diskussionen in der engagierten Öffentlichkeit. Es ist gerade diese abwertende Haltung der gewählten Politiker gegenüber dem Souverän, den sie vertreten oder vertreten sollen, der viele Bürgerinnen und Bürger irritiert und zur Parteiverdrossenheit oder gar Radikalisierung führt.

Doch um konkret und konstruktiv zu werden: Müssten nicht gerade Sie - auch ohne Ermahnung der Friedensforschung - Ihre Versprechen vor und während des Kosovo-Krieges wahr machen und mit uns - den Bürgern und Bürgerinnen - ausführlich und ohne Aggressionen und Besserwisserei über diesen ganzen schwierigen Fragenkomplex reden? Wir wollten und sollten doch aus dieser Erfahrung die richtige Lehre ziehen. Sie sollten Lutz und Mutz dankbar sein, mit ihren moderaten Anmahnungen und vernünftigen Vorschlägen einen, einer Demokratie angemessenen Einstieg in diese dringend notwendige Diskussion geliefert zu haben. Als Parlamentarier sollten Sie sich über solche Initiativen freuen. Wer liebt es schon, in Watte hinein zu regieren? Wir sollten den hier durch Brief und Antwort zustande gekommenen Kontakt positiv aufgreifen und konstruktiv zu nutzen versuchen.

Ich sollte vielleicht zum Abschluss anmerken, dass der Vorstand der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), deren Vorsitzender ich gegenwärtig bin, den Lutz-Mutz-Brief auf seiner Sitzung Ende März zustimmend zur Kenntnis genommen hat....

Mit freundlichen Grüßen

Aus: Frankfurter Rundschau 24. April 2001

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