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Der Kosovo-Krieg im Bundestag

Fischer nahm sich Kinkel als Schutzschild - Ein "einmaliger Sündenfall"?

Ein offener Brief der Hamburger Friedensforscher Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz an die Bundestagsabgeordneten, den die Frankfurter Rundschau in Auszügen am 24. März 2001 veröffentlicht hat, veranlasste den außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler im Namen des Fraktionsvorsitzenden zu einer wenig substanziellen und feindseligen Antwort, die die FR, am 12. April - ebenfalls gekürzt - dokumentierte. Beide Dokumente finden sich in voller Länge auf unserer Homepage: Am 24. April dokumentierte die Frankfurter Rundschau einen Brief von Hans-Peter Dürr, in dem der prominente Physiker und derzeitige Vorsitzende des Verbandes deutscher Wissenschaftler (VDW) sich hinter die Hamburger Friedensforscher stellt. Auch diesen Brief finden Sie auf unserer Homepage: In einem sehr informativen Überblicksartikel analysiert Stefanie Christmann die Debatten im Deutschen Bundestag, in denen es um den Militäreinsatz gegen Jugoslawien gegangen war. Die Protokolle belegen, dass der Bundestag seiner Aufgabe nicht gerecht wurde. Zentral waren die Plenardebatten vom 16. 10. 1998 und vom 15. 4. 1999. Wir dokumentieren im Folgenden den Beitrag von Stefanie Christmann:

Der Kosovo-Krieg im Bundestag

Zum Streit zwischen Friedensforschern und der SPD-Bundestagsfraktion / Stefanie Christmann analysiert die Parlamentsdebatten

Völkerrecht, das Grundgesetz, der Koalitionsvertrag - in den Debatten spielten sie keine wesentliche Rolle, was nicht verwundert, denn das Grundgesetz verlor in den 90er Jahren an Bedeutung: Allzu oft hatte die alte Koalition (Rühe, Schäuble) es zum Störer erklärt. Wer das Recht verteidigte, galt als Zauderer, wer darüber hinwegging, als starker Mann.

Unabhängig von der Meinungsführerschaft der USA in der Nato gab es 1998/99 auf rot-grüner Seite, insbesondere bei Joseph Fischer, ein sehr starkes Interesse, Deutschland 50 Jahre nach Kriegsende in den Kreis der "ältesten Demokratien" (Fischer), der entscheidenden Akteure und der "gerechten Nationen" zu führen, die im Namen "der" Menschenrechte gegen Diktatoren zu Felde ziehen und Kriegsverbrecher auf die Anklagebank setzen. Damit baut Fischer auf dem Bundeswehr-Image auf, das Volker Rühe grundlegte, als er den Hitler-Attentäter Stauffenberg mittels Soldatenvereidigungen im Bendlerblock für seine Zwecke instrumentalisierte: Soldaten wurden Wahrer der Menschenrechte. Der Krieg in Jugoslawien hatte, wie besonders Fischers Wortwahl zeigt, für das eigene Land die Funktion, negatives Nationalgefühl und Scham hinter sich zu lassen. "Weichen oder widerstehen" war Fischers Formel (Bosnien-Papier 30. 7. 95). Nichtmilitärische Mittel wurden als "weichen" diskreditiert, die Vokabel "widerstehen" als Synonym für eigene Militäraktionen missbraucht. Fischer verfolgte damit das Ziel, das Erbe der Vätergeneration, die "das" zugelassen hatte, zu überwinden.

Die Fraktionsvorstände vollzogen den Willen der Regierung, indem sie Andersdenkenden im Parlament das Rederecht so weit als möglich verweigerten. Statt Hermann Scheer, dem profiliertesten Kriegsgegner der SPD-Fraktion, sollten Gernot Erler und Günter Verheugen - gemäßigt - die Kritiker im Plenum vertreten. Linke Grüne hatten keine andere Möglichkeit, als schriftlich Erklärungen zu Protokoll zu geben oder nach der Abstimmung zu sprechen (Ströbele). Erst am 15.4. (nach 22 Tagen Krieg) erkämpfte sich mit Annelie Buntenbach die erste Linke das Rederecht. Fraktions "disziplin" führte dazu, dass bei Abstimmungen Enthaltungen und Nein-Stimmen sehr viel geringer waren als die Zahl der Gegner der Beschlüsse - am 16.10: 62 Nein, 18 Enthaltungen bei 580 Stimmen; 13.11.: bei der SPD nur 1 Nein und 6 Enthaltungen, bei den Grünen 1 Nein und vier Enthaltungen; 25.2. (Vorratsbeschluss zur Entsendung von Bodentruppen nach Mazedonien): 41 Nein, 10 Enthaltungen von 604 Stimmen.

Die Bundestagssitzung vom 16. Oktober 1998 - ein "einmaliger Sündenfall" (Volmer)?

Das Parlament tagte zweieinhalb Wochen nach den Bundestagswahlen noch einmal in alter Besetzung - das machte später die Interpretation zwingend, Rot-Grün habe die Drohung mit Krieg von der alten Bundesregierung übernommen und stehe nun in der Pflicht. Burkhard Hirsch, der als einziger FDP-Abgeordneter mit "Nein" gegen die Regierungsvorlage Kinkels stimmte und der als Bundestagsvizepräsident ein genauer Kenner der juristischen Sachlage ist, stellte in einer persönlichen Erklärung klar, der alte Bundestag habe keine Berechtigung mehr, über diese Frage zu entscheiden. Es sei auch gar nicht nötig, erklärte Wolfgang Schäuble, CDU, sondern nur ausdrücklicher Wunsch von Rot-Grün. Außerdem hätte die alte Mehrheit eine Entscheidung in dieser Frage nicht gegen den erklärten Willen der neuen Mehrheit herbeigeführt. Eine Erklärung Schäubles, der man Glauben schenken kann, denn erstens trifft der Bundestag Absprachen zur Wahrung von Mehrheiten, und zweitens hätte sich Schwarz-Gelb ansonsten nur einen Sturm der Entrüstung eingehandelt.

Schröder baute am 16.10. die bedeutungsvolle Kulisse auf, ohne Deutschland sei die Handlungsfähigkeit der Nato eingeschränkt. Und "wenn alle Nato-Staaten, in deren Mehrheit sozialdemokratische Parteien Regierungsverantwortung tragen, die Nato-Entscheidung unterstützen und in ihr eine ausreichende Rechtsgrundlage sehen, ist es jedenfalls für mich nicht zwingend, anzunehmen, dass alle unsere Freunde im Unrecht sind und der eine oder andere von uns im Recht." Schon im Vorfeld des Krieges war Eigenständigkeit als "Sonderweg" diffamiert worden, als sei jeder Sonderweg, jedes "aus dem Rahmen fallen" per se falsch und gefährlich. Das ist ein Beispiel von vielen, das die Frage nahelegt, ob Ende der 90er Jahre kleinbürgerliche Erziehungsmuster politisch relevant wurden. Unübersehbar groß war die Bereitschaft, eigenes Urteil und Vernunft der Autorität der Mehrheit, der Mächtigeren oder bloß der anderen unterzuordnen. "Lernen" und "erwachsen werden" wurden zu politischen Euphemismen der Preisgabe des Anspruchs auf Souveränität. Es wurde "modern", Vernunft zu "vernünftig" zu beugen.

Der designierte Außenminister nahm sich Kinkel zum Schutzschild: "Für uns ist wichtig, (. . .) dass es keine Selbstmandatierung der Nato in dieser Frage gibt. Ich möchte ausdrücklich noch einmal darauf hinweisen, Herr Bundesaußenminister, dass Ihre heutige Erklärung, es handle sich um eine Notfallsituation, um eine Ausnahmesituation, nicht um einen Präzendenzfall, für uns ebenfalls von großer Bedeutung ist." Die unausgesprochene Strategie der neuen "vernünftigen" Akteure war: Rot-Grün setzt die alte Politik fort, bekommt von Schwarz-Gelb aber ein Entschuldigungsschreiben mit auf den Weg.

Es gab Abgeordnete, die ihre Aufgabe als Kontrolle der Regierung wahrnahmen: Hirsch, Gysi, Verheugen, Volmer, Neumann - verbal und z. T. auch bei der Abstimmung. Ludger Volmer widersprach Fischer: Es handele sich klar um einen Präzedenzfall. "Der Selbstmandatierung von Militärbündnissen ist Tür und Tor geöffnet." Er mahnte zur De-Eskalation: "Das Dilemma jeder Abschreckungspolitik besteht darin, ein Übel anzudrohen, das schlimmer ist als das aktuelle, und den festen Willen zu haben, es auch eintreten zu lassen." Verheugen warnte davor, einen Vorratsbeschluss mit unbegrenzt langer Wirkung zu fassen. Zu lang seien für ihn schon vier Wochen. Falls sich die Krise erneut verschärfen sollte, müsse ein neuer Entscheidungsprozess in der Nato und auch in Bundesregierung und Bundestag beginnen. Er war ein einsamer Rufer in der Wüste, denn die Einberufung des alten Bundestages hatte ja gerade den Zweck, die neue Regierung in dem Sinne zu entlasten, dass sie nur Vollstrecker der Beschlüsse anderer würde. Damit stellt sich die Frage, ob die großen Debatten der 90er Jahre über die Schuld von "Mitläufer"-Tätern und "bloßen Vollstreckern" (Debatten über Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und die Klemperer-Tagebücher) bei den Hauptakteuren der neuen Regierung keine Spuren hinterlassen haben.

Volmer und Verheugen beharrten als einzige Redner der künftigen Koalition auf rationalem Denken und kritisierten offen, dass man nur deshalb mit militärischer Gewalt drohe, weil es nicht gelungen sei, die Nato-Staaten, das eigene Lager, zu nichtmilitärischen Sanktionen zu verpflichten.

Die Gründe, die Abgeordnete für die Zustimmung zur ActOrd anführten, waren höchst unterschiedlich. Schröder war bereit, Völkerrecht zu brechen und Soldaten in einen Krieg zu schicken, weil sonst für "die Bundesrepublik Deutschland" ein "verheerender Ansehens- und Bedeutungsverlust" entstünde. Wolfgang Gerhardt (FDP) beschrieb das Elend von Bürgerkriegsflüchtlingen und "ein Massaker mit 14 Toten, darunter eine Frau und ein Kind". Er erklärte, "unserer Entscheidungsfindung muss auch zu Grunde liegen, dass das Menschenrecht eines Einzelnen schon unendlich viel gilt und er Anspruch hat, dass wir es verteidigen". Damals lief gerade die Hollywood-Geschichte vom Soldaten James Ryan in den Kinos. Der Vorsitzende der "Liberalen" befand angesichts des von ihm aufgezeigten Elends die Frage, ob ein Mandat des Sicherheitsrates oder aber eine Selbstmandatierung der Nato vorliege, als "zwar wichtig, aber nicht entscheidend". Auf das Recht als verbindliche Grundlage zu verzichten, heißt aber, für die Demokratie Konkurs anzumelden, denn sie fußt auf dem Konsens, das Recht zu respektieren.

Am 16. Oktober war das Parlament nach Richard Holbrookes Verhandlungserfolg in Feierlaune, erleichtert wetteiferte man im scheinbar virtuellen Raum darin, sich gegenseitig guten demokratischen Stil zu bescheinigen. Den Gedanken, dass der Ernstfall doch noch einträte, schoben die meisten weit von sich - genauso wie sie die Verantwortung für ihre Entscheidung auf die jeweils andere Koalition schoben. Immerhin fragte Volmer nach den Folgen eines Luftkriegs - aber ohne brennende Raffinerien, vergiftete Böden, steigende Kindersterblichkeit und Armutsprostitution zu nennen. Von den Entwicklungs- und Umweltpolitikern hatte keiner Rederecht.

Volmer nannte den Beschluss vom 16. Oktober auf dem Koalitionsparteitag einen "einmaligen Sündenfall" - am 26. März 1999 in einem Brief an die Grünen jedoch als "die bis heute gültige Grundlage für die deutsche Beteiligung an den nun erfolgten Luftangriffen". In der Debatte vom 15.4. hieß er schon "Grundlagenbeschluss" (Schlauch).

Die Bundestagssitzung vom 15. April 1999 - Realitätsverweigerung im Krieg

Die parlamentarische Aussprache nach 22 Tagen Krieg rechtfertigt Gernot Erlers Wertschätzung noch weniger als die Sitzung am 16. 10. 1998. Schröder erklärte, wer der Nato Mitschuld am Flüchtlingselend zuspreche, "der begeht einen schrecklichen Irrtum oder eine bewusste Verleumdung", "jede andere Politik würde uns zum faktischen Erfüllungsgehilfen der Belgrader Vertreibungspolitik machen". Statt sich argumentativ auseinanderzusetzen, zog sich der Kanzler auf seine Definitionsmacht zurück: "Unsere Politik richtet sich nicht gegen die Menschen in Jugoslawien." Nicht mehr das Vermitteln von Friedensoptionen für Jugoslawien war das Ziel, sondern Milosevic dürfe nicht "der Triumph gegönnt werden" (Schröder). Der Fraktionsvorsitzende Struck erklärte, je länger Milosevic an seiner Politik festhalte, "umso höher wird der Preis, den er bezahlen muss". Schröder kündigte ein Protektorat an. Seine Syntax bemühte diktatorische Sequenzen: "Dies - und nur dies und nur in dieser Reihenfolge" oder "nicht abgegangen kann und nicht abgegangen wird".

Wolfgang Gerhardt sprach - Brzezinski zitierend - das Kriegsziel am deutlichsten aus: "Unzweideutig steht mittlerweile mehr auf dem Spiel als das Schicksal des Kosovo. Die Voraussetzungen haben sich an dem Tag dramatisch verändert, an dem das Bombardement begann. Ohne zu übertreiben ist festzustellen, dass ein Scheitern der Nato das Ende ihrer Glaubwürdigkeit wäre und gleichzeitig die globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten in Mitleidenschaft geriete." Gerhardt zog daraus die Konsequenz: "Wir müssen gewinnen." Jugoslawien war demnach nur noch Schauplatz eines Kriegs für andere Ziele als die Wahrung der Menschenrechte in Kosovo.

Die Koalition hielt wider besseres Wissen daran fest, bombardiert würde nur serbisches Militär. Volmer hatte aber längst in einem Kreis grüner Politiker berichtet, dass die Nato schon eine Woche nach Beginn des Luftkriegs verzweifelt nach Angriffszielen suche, weil die militärischen zerstört seien.

Die bisher angeführte Helferabsicht (Menschenrechte) war angesichts der Flüchtlingsströme nach den Nato-Bombardements unglaubwürdig, deshalb galt es am 15.4. umso mehr, zur Rechtfertigung des Krieges Milosevic als Verbrecher und jeden Kriegsgegner als dessen Kollaborateur darzustellen. Die Koalition beschwor eine serbische "Blutspur", "Deportation - ich wiederhole: Deportation", eine "rohe Form von Faschismus" und "ethnische Säuberung" (alle Zitate: Joseph Fischer). Der Chefdiplomat der Koalition nannte Gregor Gysi einen "Weißwäscher der Politik eines neuen Faschismus, der auf Vertreibung und ethnische Reinheit für eine großserbische Politik setzt". Der Seeheimer Kreis warf Gysi Verrat nationaler Interessen vor. Dessen Schlussworte - "Wir müssen endlich den Wahnsinn stoppen und an die Stelle des Wahnsinns des Krieges wieder die Vernunft setzen" wurden aus den SPD-Bänken mit dem Zwischenruf bedacht: "Die Rede haben Sie wohl mit Milosevic abgestimmt!" Kein Ordnungsruf von der die Sitzung leitenden Antje Vollmer.

Die Diffamierung Andersdenkender setzt sich bis in die Gegenwart fort. Weshalb, Herr Erler, ist es "Bulldozer-Journalismus", wenn WDR-Redakteure recherchieren, Loquai, Scharping und den Nato-Sprecher interviewen und deren Antworten senden?

Wer die vermeintlichen Luftoperationen, die Ernst-Otto Czempiel schlicht als Überfall der Nato bezeichnete, auch nur "Krieg" nannte, wurde von der fraktionsübergreifenden Gemeinschaft der Demokraten gebrandmarkt. Karl Lamers (CDU) wagte am 15.4. den Eiertanz, die Nato führe nicht Krieg im Sinne "handfester Interessen", daher sei es kein "Krieg im herkömmlichen Sinne", aber dennoch würden die Regeln, die den Krieg bestimmen, gelten. Während Fischer die Fata Morgana eines multiethnischen Kosovos beschwor, argumentierte Lamers geradezu freigeistig, als er erklärte, man könne die eigenen Wunschvorstellungen nicht mit Gewalt nach Jugoslawien exportieren und man müsse die eigenen Vorstellungen in ihrer Absolutheit in Frage stellen.

Die Konsequenz aus dem Nato-Krieg darf nicht einfach die Forderung sein, Pazifisten der einen oder anderen Partei zu unterstützen, sondern es gilt, die Verbindlichkeit des Rechts durch eine Verfassungsreform zu stärken. Bundestagswahlen sind bloße Anhängsel von Kanzlerwahlen. Die Koalitionsfraktionen sitzen mit der Regierung in einem Boot, deshalb die sog. Fraktionsdisziplin. Dadurch fällt die Kontrollfunktion aber nur der Parlamentsminderheit zu. Echte Gewaltenteilung wäre möglich, wenn der Kanzler direkt vom Volk gewählt würde. Wenn die Regierung nicht mehr aus dem Parlament gebildet würde, wäre die Fünf-Prozent-Klausel überflüssig, und dann entstünden für Querdenker Chancen, in den Bundestag gewählt zu werden. Hans Herbert von Arnim setzt sich seit Jahren für ein solches Modell auf Länderebene ein. Die deutsche Beteiligung am Nato-Krieg hat gezeigt, dass eine solche Reform auf Bundesebene dringend nötig ist, um die Macht der Parteizentralen und der Exekutive zu begrenzen und dem Recht zur Stärke zu verhelfen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 24. April 2001

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