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Deutsches Vaterland mit "Schutzverantwortung"

Auszüge aus Rede von Heinrich August Winkler im Deutschen Bundestag - Dokumentiert: Reaktionen darauf

Am 8. Mai 2015 gedachte der Deutsche Bundestag des Endes des 2. Weltkriegs. Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus der Rede des "Festredners" Heinrich August Winkler, im Anschluss daran folgen zwei Kommentare, die sich von der Rede absetzen. Einmal haben wir Velten Schäfer (mit "Der Sinnstifter"), zum anderen kommt Sevim Dagdelen zu Wort (mit "Geistige Mobilmachung").

Vaterland mit "Schutzverantwortung" (Redeauszüge)

Aus der Rede des Historikers Heinrich-August Winkler auf der offiziellen Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestags am Freitag zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa vor 70 Jahren:

(…) Wenn Deutschland sich an Versuchen der Völkergemeinschaft beteiligt, einen drohenden Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, bedarf es nicht der Berufung auf Auschwitz. Auf der anderen Seite lässt sich weder aus dem Holocaust noch aus anderen nationalsozialistischen Verbrechen noch aus dem Zweiten Weltkrieg insgesamt ein deutsches Recht auf Wegsehen ableiten. Die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten sind kein Argument, um ein Beiseitestehen Deutschlands in Fällen zu begründen, wo es zwingende Gründe gibt, zusammen mit anderen Staaten im Sinne der »responsibility to protect«, einer Schutzverantwortung der Völkergemeinschaft, tätig zu werden.

Jede tagespolitisch motivierte Instrumentalisierung der Ermordung der europäischen Juden läuft auf die Banalisierung dieses Verbrechens hinaus. Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen gilt es, politische Entscheidungen nicht dadurch zu überhöhen, dass man sie als die jeweils einzig richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt. Jeder Versuch, mit dem Hinweis auf den Nationalsozialismus eine deutsche Sondermoral zu begründen, führt in die Irre. (…)

Das Jahr 2014 markiert eine tiefe Zäsur: Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist die Gültigkeit der Prinzipien der Charta von Paris radikal in Frage gestellt – und mit ihr die europäische Friedensordnung, auf die sich die einstigen Kontrahenten des Kalten Krieges damals verständigt hatten.

Deutschland hat während des immer noch andauernden Konflikts um die Ukraine alles getan, was in seinen Kräften steht, um den Zusammenhalt der Europäischen Union und des Atlantischen Bündnisses zu sichern. Es hat sich zugleich in enger Abstimmung mit seinen Verbündeten darum bemüht, im Dialog mit Russland so viel wie möglich von jener Politik der konstruktiven Zusammenarbeit zu retten oder wiederherzustellen, auf die sich Ost und West nach dem Ende des Kalten Krieges verständigt hatten.

Eines galt und gilt es dabei immer zu beachten, und auch das ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte: Nie wieder dürfen unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn, die 1939/40 Opfer der deutsch-sowjetischen Doppelaggression im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurden und die heute unsere Partner in der Europäischen Union im Atlantischen Bündnis sind – nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden. (…)

Mit dem Selbstverständnis eines Staatenverbundes wie der Europäischen Union ist die Hegemonie eines Landes unvereinbar. Dem wiedervereinigten Deutschland fällt innerhalb der EU schon auf Grund seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftskraft eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung dieser supranationalen Gemeinschaft zu. Dazu kommt die Verantwortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Es ist eine an Höhen und Tiefen reiche Geschichte, die nicht aufgeht in den Jahren 1933 bis 1945 und die auch nicht zwangsläufig auf die Machtübertragung an Hitler hingeführt, wohl aber dieses Ereignis und seine Folgen ermöglicht hat. Sich dieser Geschichte zu stellen, ist beides: ein europäischer Imperativ und das Gebot eines aufgeklärten Patriotismus. Um es in den Worten des dritten Bundespräsidenten Gustav Heinemann aus seiner Rede zum Amtsantritt am 1. Juli 1969 zu sagen: »Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 9. Mai 2015



Der Sinnstifter

Velten Schäfer über den Historiker Heinrich August Winkler, der im Bundestag am 8. Mai die Gedenkrede hält **

Sollte die Straße hinter einer deutschen Uni den Namen einer Feministin tragen, die gegen den Ersten Weltkrieg opponierte? Oder den einer Dynastin, die ihre Stiefkinder vergiftet haben soll?

Das mit dem Gift ist wohl Legende. Doch die nach der Wende von Heinrich August Winkler betriebene Rückbenennung der Berliner Clara-Zetkin- in Dorotheenstraße illustriert die Agenda, mit der der Historiker damals aus Freiburg in die Hauptstadt kam. Die emotionale Episode zeigt auch, warum sich der 1938 in Königsberg geborene Historiker für die Ehre empfiehlt, im Bundestag als erster Nichtpolitiker die »runde« Rede zum 8. Mai zu halten.

Winklers Werk besteht nämlich in einer letztlich irritationsfreien Erfolgserzählung »des Westens«: Stets in Bedrängnis, habe dieser von der amerikanischen Revolution über 1945 bis 1989/91 seine demokratische Mission vollendet, um heute vor neuer Bedrohung zu stehen. Eine Figur wie Zetkin passt da nicht: Die Initiatorin des Internationalen Frauentags, die bürgerliche Demokratie zwar ablehnte, sich im Zweifel aber mit ihr verbünden wollte?

Ihr Beispiel macht deutlich, wie sehr sich Winklers »Westen« auch aus Quellen speist, die er zum Anti-Westen rechnet. Nicht nur, weil ihm die 1933 Verstorbene für die DDR stand, deren Historiker er gerade »abwickelte«, könnte er sich damals so sehr für Zetkins Tilgung engagiert haben. Sondern auch, weil sie quer liegt zu jenem Schwarz-Weiß, zu dem verdammt ist, wer Geschichte zur staatlichen Sinnstiftung nutzt.

Ausdrücklich dazu war Winkler einst angetreten; der 8. Mai 2015 ist seine Krönung. Als Redner einer Großen Koalition ist das konservative SPD-Mitglied am richtigen Platz - spätestens seit er nach 1990 seine Position im »Historikerstreit« um die Singularität des Holocaust nach rechts modifizierte. Hinsichtlich einer künftigen Gesellschaft, in der »südliche« Perspektiven an Gewicht gewinnen, scheint freilich ein von allem Wissen um Kolonialgewalt und Rassismus nicht grundsätzlich beirrter Kult des »Westens« und seiner historischen Berufung ein Auslaufmodell.

** Aus: junge Welt, Freitag, 8. Mai 2015


Geistige Mobilmachung

Gedenken im Bundestag am 8. Mai

Von Sevim Dagdelen ***


Es gab einmal eine kurze Zeit, in der am 8. Mai im Deutschen Bundestag an die Befreiung vom deutschen Faschismus erinnert wurde. Diese Zeit ist vorbei. Diesen Eindruck konnte man jedenfalls bei der Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des Kriegsendes gewinnen. Die Worte des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier sind dabei nicht weiter erwähnenswert. Der CDU-Politiker hat sich, was die Aufarbeitung faschistischen Terrors angeht, bisher lediglich durch die Gewährung einer Aussageverweigerung zugunsten eines V-Manns im Fall der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« profiliert. In der Rede des Historikers Heinrich August Winkler aber ist der antirussische Gestus sofort aufgefallen. Es gab nicht nur keinen expliziten Dank an die Sowjetunion und die Rote Armee, die die Hauptlast beim Sieg über den Faschismus trugen und bei weitem die meisten Opfer zu beklagen hatten. Nein, streckenweise wirkte der Vortrag wie eine Brandrede gegen Völkerrechtsbrüche Moskaus, während Kosovo, Irak-Krieg oder die NATO-Aggression in Libyen folgerichtig keinerlei Erwähnung gefunden haben. Es konnte so der Eindruck entstehen, Winkler schreibe seine Geschichte aus dem Brüsseler Bunker des NATO-Hauptquartiers. Gute westliche Werte stehen gegen böse östliche Machtpolitik.

Winkler ist damit Deutschlands Mann für den atlantischen Kulturkampf. Russland bleibt der ewige Feind. Damit steht Winkler aber nicht etwa in der Tradition des Westens, in der er sich so gerne sehen würde, sondern reproduziert lediglich deutschnationale antirussische Mythen, wie sie sich in der geistigen Mobilmachung deutscher Professoren gegen Russland im Ersten Weltkrieg finden. Im »Manifest der 93« hieß es: »Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts missachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde.«

Deutschland, so Winklers Aufruf am Freitag, müsse sich quasi als Schutzmacht Mittel- und Osteuropas positionieren. So wurde die Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Teil einer geistigen Mobilmachung gegen Russland. Winklers Ruhelosigkeit in Sachen Russland ist verständlich. Deutschlands weiterer Aufstieg als Hegemonialmacht an der Seite der USA in Europa wird nur noch von Moskau behindert. Und Berlin wird nicht ruhen, bevor dies nicht nur in Kiew, Tbilissi und Chisinau, sondern auch in Minsk, Eriwan und in Astana verstanden worden ist. Der neue antirussische Geschichtsrevisionismus, der darauf aus ist, den Beitrag der Sowjetunion und der Roten Armee zum Sieg über den deutschen Faschismus zu minimieren, ist brandgefährlich. Es wird darauf ankommen, denen in den Arm zu fallen, die von einem Kulturkampf gegen Russland fabulieren, bevor sie einen großen Krieg in Europa heraufbeschwören können.

Sevim Dagdelen ist Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag für Internationale Beziehungen.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 9. Mai 2015


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