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Das Wehklagen über Irland geht weiter

Linkspartei Sinn Féin spricht von einem "Sieg Davids gegen Goliath" - EU-Militarisierung abgelehnt - Attac-Stellungnahme

Das irische Referendum, das sich am vergangenen Donnerstag (12. Juni) gegen die Annahme des EU-Reformvertrags ausgesprochen hat, bewegt weiter die Gemüter. In einem seltenen Einklang überlegen politische Klasse und Medien hier zu Lande, wie das für sie negative Votum zurecht gebogen werden kann, ob Irland gar aus den politischen Strukturen der EU "vorübergehend" ausgeschlossen werden könne, ob die Abstimmung wiederholt werden solle oder ob mit Irland ein Sondervertrag ausgehandelt werden solle. Niemand, aber auch wirklich niemand fragt danach, ob es vielleicht am Vertrag selbst liegt, dass die Zustimmung der Bevölkerung ausbleibt, dass der Vertrag auch in anderen Ländern, hätten sie die Gelegenheit zum Referendum gewährt, durchgefallen wäre. Es ist also nicht etwas faul im Staate Irland, sondern in der EU.
Im Folgenden noch ein paar Nachbetrachtungen aus einer Reformvertrags-kritischen Sicht, die auch die politische Konstellation in Irland selbst einbeziehen. Immerhin entschied die irische Bevölkerung gegen die eigene Regierung und alle anderen etablierten Parteien der Opposition. Deren Wehklagen geht weiter, weil das Volk, der "große Lümmel" (H. Heine), nicht parierte.



Sinn Féin im Höhenflug

Irland nach dem Referendum: Ablehnung gegen den Vertrag von Lissabon in den Hochburgen der Linkspartei besonders stark

Von Florian Osuch *

Die politische Entwicklung in Irland ist nach dem Votum gegen den EU-Vertrag am vergangenen Freitag völlig offen. Regierungschef Brian Cowen zeigte sich konzeptlos und äußerte, daß er »keine Antwort« auf die Frage habe, wie es nach dem Nein der Bevölkerung zum Lissabon-Prozeß weitergehe. Überraschend deutlich wurde der Vertrag in 33 von 43 Wahlbezirken abgelehnt. 53,4 Prozent der Wähler votierten gegen die neu aufgetischte EU-Verfassung, nur 46,6 Prozent dafür.

Nachverhandlungen

Die irische Linkspartei Sinn Féin ging am Wochenende in die Offensive und erklärte den gesamten Lissabon-Prozeß für »tot«. Mary Lou McDonald, Europaabgeordnete von Sinn Féin und Frontfrau der Nein-Kampagne, forderte die irische Regierung zu Nachverhandlungen und besseren Konditionen für Irland auf. Sie werde dazu in dieser Woche den irischen Ministerpräsidenten um ein Gespräch bitten. Zudem forderte Sinn Féin Gewerkschaften, Bauern und andere gesellschaftliche Kräfte auf, ihren Einfluß auf die Regierung geltend zu machen.

Gerry Adams, Präsident von Sinn Féin, sprach sogar von einem Sieg Davids gegen Goliath, da seine Partei die einzige im Parlament vertretene Kraft war, die gegen den Lissabon-Vertrag mobilisierte. Die irische Bevölkerung habe für ein »soziales Europa« abgestimmt, in dem die Rechte der Arbeiter nicht weiter beschränkt werden dürfen. Ein Bündnis des Regierungslagers aus konservativer Fianna Fail, Liberalen und Grünen sowie der Opposition aus konservativer Fine Geal und Sozialdemokraten hatte für ein »Ja« beim Referendum geworben.

Die Socialist Workers Party (SWP) erklärte, daß sich viele der 490 Millionen EU-Europäer über den Ausgang des Referendums freuen, da sie »ihres Rechts beraubt wurden, über den Vertrag abzustimmen«.

Alle Schichten

Für Sinn Féin könnte der Ausgang des Referendums sehr bedeutend sein, da sie weiter auf einen Durchbruch in der Republik Irland wartet. Im letzten Jahr erreichte sie bei den Parlamentswahlen magere sieben Prozent der Stimmen und konnte nur vier statt vorher fünf Sitze gewinnen. Im Norden Irlands ist Sinn Féin mit bis zu 25 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im irischen Lager und an der Regionalregierung beteiligt.

In den Hochburgen Sinn Féins in ländlichen wie in urbanen Bezirken war die Ablehnung gegen den EU-Vertrag besonders groß. So etwa im Wahlkreis Dublin South West, wo 65,1 Prozent der Wähler mit »Nein« stimmten und der Wert deutlich über dem Landesdurchschnitt von 53,4 Prozent lag. Weitere herausragende Ergebnisse gegen den Lissabon-Vertrag wurden in Donegal North East (64,7 Prozent), Cork North Central (64,1 Prozent), Dublin North West (63,6 Prozent) und Mayo (61,7 Prozent) erreicht.

Die Tatsachen stehen konträr zu Berichten zahlreicher Medien in EU-Staaten, wonach vor allem die konservative Bauernschaft aus Furcht vor dem Verlust von Agrarsubventionen gegen den EU-Vertrag gestimmt habe. Die Grenze zwischen Befürwortern und Gegnern ging vielmehr quer durch alle Schichten und Klassen. Nach Angaben des staatlichen Rundfunks RTE votierten vor allem die Mittel- und Oberschicht für den Lissabon-Vertrag und das Projekt einer neoliberalen EU. Ländlich geprägte und infrastrukturell abgehängte Regionen im Westen Irlands stimmten gegen den Vertrag, ebenso die Arbeiterviertel Dublins und die größeren Städte Limerick, Cork und Galway.

* Aus: junge Welt, 16. Juni 2008


Ein großer Sieg für die Demokratie«

Wo die Bevölkerung abstimmen durfte, lehnte sie eine neoliberale EU ab. Ein Gespräch mit Richard Boyd Berrett

Richard Boyd Berrett ist Vorsitzender der irischen Antikriegsbewegung (Irish Anti War Movement), Mitglied der Socialist Workers Party seines Landes und Vertreter der im Kampf um das »Nein« gegen den Lissabon-Vertrag neu geschaffenen Linksallianz »People before Profit« (»Menschen vor Profit«)

Nach dem deutlichen Nein der irischen Bevölkerung gegen ein neoliberales Europa der Konzerne und der globalen, militärischen Interventionen hat es am Freitag sicher ein großes Fest gegeben?

Das war ein großer Erfolg für die Demokratie in Irland mit Auswirkungen auf das übrige Europa. Die Iren haben sich vom massiven Druck der Regierung und der Mainstreammedien nicht beeindrucken lassen, die für den Fall der Ablehnung eine Katastrophe angekündigt hatten. Aber die organisierte Angstmache bewirkte eher das Gegenteil. Zugleich wurde zunehmend klarer, daß den Menschen im Rest Europas das Recht versagt wurde, in dieser Frage selbst zu entscheiden.

Was halten Sie von der Medienreaktionen auf dem Kontinent, wonach es höchst undemokratisch sei, daß die Entscheidung von drei Millionen Iren 490 Millionen Europäer in die Krise stürze?

Bereits vor drei Jahren haben die Franzosen und die Holländer mit ihrer Ablehnung der EU-Verfassung gezeigt, was die Menschen an der Basis von der neoliberalen EU-Ausrichtung halten. Der Lissabon-Vertrag, über den wir jetzt abgestimmt haben, ist der gleiche ungenießbare Wein, nur in neuen Schläuchen. Tatsache ist. Wo immer die Menschen selbst entscheiden konnten, haben sie das neoliberale EU-Projekt abgelehnt. Das irische Nein wird hoffentlich auch in den anderen Ländern die längst überfällige Diskussion über eine demokratische Entwicklung in Europa in Gang setzen.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen der deutschen Bundeskanzlerin und des französischen Staatschefs, die die irische Entscheidung einfach ignorieren wollen?

Deren Verhalten ist nur ein weiterer Beweis dafür, daß die politische Elite in der EU glaubt, die Demokratie in unseren Ländern niederwalzen zu können.

Werden Sie juristische Maßnahmen ergreifen, um die EU zu zwingen, sich an ihre eigenen Vorschriften zu halten, daß nämlich der Prozeß mit dem Nein auch nur eines einzigen Mitgliedslandes beendet ist?

Zuerst werden wir die Reaktion unserer eigenen Regierung und das Ergebnis von deren Gesprächen in Brüssel abwarten. Wenn es sein muß, werden wir auch juristische Maßnahmen prüfen. Aber wahrscheinlich wird das nicht nötig sein, denn vom irischen Nein ist eine Signalwirkung ausgegangen, die das Demokratiedefizit grell beleuchtet und den Ratifizierungsprozeß womöglich stoppt. Daher würden wir vor allem gern mit Gleichgesinnten in anderen Ländern in Kontakt treten.

Gab es Bevölkerungsgruppen, die sich in Irland besonders stark für ein Nein entschieden haben?

In den Arbeitervierteln der irischen Städte haben durchschnittlich viermal mehr Menschen mit Nein als mit Ja gestimmt. Im Wahlkampf hatte die »Menschen-kommen-vor-Profit-Al­lianz« die Wähler über den im Lissabon-Vertrag vorgeschriebenen Abbau der öffentlichen Dienstleistungen und der sozialen Sicherung in der EU aufgeklärt. Witzige Einfälle halfen dabei, die Botschaft noch besser zu vermitteln, wie z. B. das Plakat mit den drei Affen. Darauf stand: »Europa sieht euch nicht. Europa hört Euch nicht. Europa tut nichts für Euch«. Das Plakat war leider nicht unser Einfall.

Eine große Rolle spielte in Ihrer Nein-Kampagne die EU-Militarisierung, die in Ihrem Land auf sehr große und breite Ablehnung stößt. Hängt das mit der irischen Neutralität zusammen?

Sicherlich, aber die Ablehnung sitzt tief in der irischen Psyche, denn wir waren jahrhundertelang das Opfer des britischen Imperialismus und kolonialer Ausbeutung. Daher ist auch heute die Opposition in meinem Land gegen die fortschreitende EU-Militarisierung und die Beteiligung an den imperialen Kriegen in Irak und Afghanistan und die militärischen EU-Interventionen in Afrika so besonders stark.

Interview: Rainer Rupp

* Aus: junge Welt, 16. Juni 2008


Presseerklärung von Attac Deutschland, 16. Juni 2008

EU-Vertrag: Demokraten missachten Volkes Willen

Ratifizierungsverfahren muss gestoppt werden

Als unerhörte Missachtung des Willens ihrer Wählerinnen und Wähler hat das globalisierungskritische Netzwerk Attac die Reaktionen führender Politiker zum irischen Nein kritisiert. Die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon soll offensichtlich fortgesetzt werden, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy sowie der Präsident der Europäischen Kommission, der Präsident des EU-Parlaments und die Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD im Europaparlament übereinstimmend erklärten. "Das Ratifizierungsverfahren in den acht übrigen Ländern fortzuführen, zeigt, dass sie sich nicht um den Willen der Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger scheren", sagte Sven Giegold, Mitglied des Attac-Rates. "Wir fordern die irische Regierung auf, sich hinter ihre Bevölkerung sowie die europäischen Bürgerinnen und Bürger zu stellen und ein Inkrafttreten des Vertrags ohne Irland nicht zuzulassen. Irland gehört zu Europa!", so Giegold weiter.

Durchweg tun Politiker so, als sei es nur die irische Bevölkerung, die den EU-Vertrag ablehnt. Der Inhalt dieses Vertrages wurde aber schon vor drei Jahren in Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich abgelehnt. Denn 90 Prozent des jetzigen Textes sind deckungsgleich mit dem Entwurf zur Europäischen Verfassung. "In Frankreich wurde daraufhin die Verfassung geändert, um dem Volk die Möglichkeit einer erneuten direkten Abstimmung zu nehmen. Und das alles im Namen der demokratischen Weiterentwicklung Europas - welch eine Farce!" kritisierte Detlev von Larcher, Mitglied des Attac-Koordinierungskreises. "Die Iren haben nach der französischen und der niederländischen Bevölkerung nun ein drittes Mal die Notbremse gezogen. Nun sollten unsere Regierungen und unsere Parlamente endlich begreifen, dass die Menschen ein soziales, friedliches und demokratisches Europa wollen - ein Europa, das demokratische Mitbestimmungsrechte und soziale Gerechtigkeit garantiert und nicht beides im Namen des Wettbewerbs ausradiert."

"Der Ausweg aus der Krise kann nur in einer Neugründung Europas durch einen direkt gewählten Konvent gefunden werden, der eine Verfassung entwirft, die nach einer breiten und intensiven öffentlichen Debatte allen Ländern zur Abstimmung vorgelegt wird" sagte Sven Giegold abschließend.

Die europäischen Attac-Organisationen haben ihre Vorstellungen zu Europa in zehn Prinzipien vorgestellt: "Zehn Prinzipien für einen demokratischen EU-Vertrag" (11.3.2007), sowie eine Erklärung von Attac Europa zum EU-Vertrag verabschiedet (19.10.2007)




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