Letzte Chance für soziales Europa liegt bei irischer Bevölkerung
Attac fordert Abkehr vom neoliberalen Dogma
Attac Pressemitteilung
Frankfurt am Main, 11.06.08
Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat die Bedeutung des irischen Referendums am Donnerstag für ein soziales Europa betont. "Die Iren haben nun als einzige Bevölkerung Europas die - vielleicht letzte - Gelegenheit, bei der aus dem Ruder gelaufenen Entwicklung
Europas die Notbremse zu ziehen. Ansonsten droht Europa ein
neoliberaler Alptraum aus Turbokapitalismus, sozialem Elend,
ausuferndem Rechtsextremismus, Militarisierung und geschleiften
Bürger- und Menschenrechten", sagte Gerold Schwarz, Sprecher der
EU-Arbeitsgruppe von Attac Deutschland.
Der EU-Reformvertrag ("Vertrag von Lissabon") würde nach Ansicht von
Attac die neoliberale Schlagseite der EU nahezu zementieren und so das
in der Nachkriegszeit erreichte positive Zusammenwachsen Europas
grundlegend gefährden sowie den Kontinent nach Jahrzehnten wieder der
Desintegration aussetzen. Die Folgen dieser neoliberalen Entwicklung
seien auch in Irland sichtbar, das die tiefste soziale Spaltung
zwischen Arm und Reich in Westeuropa aufweist. "Allein diese massiven
sozialen Spannungen, für die die neoliberale Steuer-, Sozial- und
Finanzpolitik in Europa mitverantwortlich ist, sind Grund genug, der
Fixierung dieser Politik durch den EU-Vertrag an der Wahlurne eine
Abfuhr zu erteilen", erklärte Detlev von Larcher vom bundesweiten
Attac-Koordinierungskreis.
Attac unterstützt die proeuropäischen Kritiker des Vertrags in Irland
und ist Mitglied des transnationalen Netzwerks "Irish Friends vote NO
for me". Das Netzwerk setzt sich im Gegensatz zu den nationalistischen
Gegnern des Vertrags für ein soziales, friedliches und demokratisches
Europa im Interesse der Menschen ein. Es lehnt den Vertrag ab, weil
seine wirtschaftlichen und sozialen Bestimmungen fast ausschließlich
den Interessen der Konzerne und Kapitalbesitzer folgen.
Das Engagement der Globalisierungskritiker in Irland folgt den
proeuropäischen "Zehn Prinzipien für einen demokratischen EU-Vertrag",
die die 16 europäischen Attac-Länderorganisationen bereits im März
2007 gemeinsam vorgelegt haben. "Ein soziales, demokratisches und
friedliches Europa ist weder auf der Grundlage der bestehenden
Verträge noch mit dem EU-Reformvertrag zu haben", betonte Gerold
Schwarz. Dies sei die eigentliche Ursache der zunehmenden Euroskepsis.
Notwendig sei eine Neuausrichtung der europäischen Integration unter
breiter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger - orientiert an
ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit, Geschlechtergleichstellung
und dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.
Dokumentation
Die europäischen Attacs sagen "Nein" zum EU-Reformvertrag
Am 11. März 2007 haben 17 Europäische Attacs ihre "Zehn Prinzipien für einen
demokratischen Vertrag" vorgelegt, die zu einer Neubegründung der Europäischen
Union (EU) beitragen sollen. Die aufmerksame Lektüre des Reformvertrags, der von
den Mitgliedstaaten der EU anlässlich des Europäischen Rats vom 18. und 19.
Oktober angenommen wurde, zeigt, dass er keines der zehn Prinzipien respektiert.
Mehr noch, er ist eine getarnte Neuauflage des Europäischen Verfassungsvertrages,
den die französischen und niederländischen Wählerinnen und Wähler im Jahr 2005
abgelehnt haben. Dieser Text ist inakzeptabel, sowohl was sein Zustandekommen
als auch was seinen Inhalt betrifft.
1. Antidemokratisches Verfahren: Die europäischen Attacs haben vorgeschlagen,
einen demokratischen Prozess zur Ausarbeitung und Annahme des gesamten neuen
Vertrags zu starten. Allem voran muss eine von den Bürgerinnen und Bürgern direkt
gewählte Versammlung eingesetzt werden. Die nationalen Parlamente müssen
wirksam am Prozess beteiligt werden. Alle Mitgliedsstaaten müssen bei der
Ratifizierung ein bindendes Referendum durchführen. Wir wollen einen kurzen
Vertrag, der für sich alleine steht und von allen Bürgerinnen und Bürgern verstanden
werden kann. Demgegenüber wird uns wiederum ein langer und unlesbarer Text
vorgelegt, der zudem hinter verschlossenen Türen abgefasst wurde. Er soll nun in
der Mehrzahl der Mitgliedsländer auf parlamentarischem Wege angenommen
werden. Und dies so schnell wie möglich, um so jede wirkliche öffentliche Debatte zu
unterbinden.
2. Verschlossene Institutionen der Union: Mit der Ausnahme einiger
Veränderungen von geringer Tragweite bleibt es bei der bestehenden
Funktionsweise der EU, die durch eine Verletzung der Gewaltenteilung
gekennzeichnet ist. Das Europäische Parlament bleibt von weiten
Entscheidungsbereichen ausgeschlossen, die wichtige Zuständigkeiten der Union
betreffen. Insbesondere ist dem Parlament jegliche legislative Initiative versagt. Die
nationalen Parlamente können sich nicht zur Grundlage von Rechtsinitiativen äußern,
selbst wenn sie in einem Teil der Zuständigkeitsbereiche am Gesetzgebungsprozess
beteiligt sind. Die Kommission, eigentlich exekutives Organ der Union, ist auch mit
legislativer und judikativer Gewalt ausgestattet. Dagegen behält der Rat seine Rolle
als gesetzgeberisches Organ, obwohl er eigentlich nur das Treffen der nationalen
Regierungen ist. Die Lobbys werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. Die
Mitglieder der Kommission können von den ParlamentarierInnen weder gewählt noch
abgesetzt werden. Das Initiativrecht der BürgerInnen reduziert sich auf fromme
Absichtserklärungen. Die Europäische Zentralbank (EZB) entgeht jeder
demokratischen Kontrolle und behält als ihr einziges Ziel die Preisstabilität, die zu
einem der Hauptziele der Union erklärt wird.
3. Keine Alternative zum Neoliberalismus: Die Presse hat viel Schaum um die
Tatsache geschlagen, dass der "freie und unverfälschte" Wettbewerb nicht länger als
eines der Hauptziele der Union erwähnt wird. Dies sei, so sagt man uns, der Beweis,
dass der Verfassungsvertrag wirklich aufgegeben wurde. Aber man merkt bei der
Lektüre des Dickichts der Paragraphen, Protokolle und Erklärungen, dass dieser
Wettbewerb allgegenwärtig bleibt. Er macht es unmöglich, dem neoliberalen Modell
zu entrinnen. Genau dieser Wettbewerb bestimmt das Funktionieren der
Dienstleistungen im Allgemeinen Wirtschaftlichen Interesse (DAWIs). Und er könnte
auf sämtliche anderen öffentlichen Dienste ebenfalls ausgedehnt werden. Der
Wettbewerb dient auch als Ausrede für die Weigerung, die sozialen und steuerlichen
Regeln nach oben anzugleichen. Der Vertrag, so wie er sich darstellt, macht es den
Staaten unmöglich, sich für etwas anderes als den entfesselten wirtschaftlichen
Liberalismus zu entscheiden.
4. Immer noch stark eingeschränkte Grundrechte: Die Charta der Grundrechte
hat "verpflichtenden Charakter", aber die Rechte sind im Allgemeinen von sehr
geringer Reichweite. Zudem wird bei der Anwendung der Rechte auf
"einzelstaatliche Gesetzgebung und Regelungen" verwiesen. Somit schafft die
Charta keinerlei europäisches Sozialrecht und beschränkt sich auf vage
Formulierungen, die zu nichts verpflichten. Großbritannien und Polen erhalten gar
Ausnahmeklauseln bei der Anwendung der Grundrechte.
5. Militaristischer und auf die NATO orientierter Vertrag: Die gemeinsame
Verteidigung der Union ist nur im Rahmen der NATO vorgesehen. Der Militarismus
wird offiziell befördert: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen
Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Im Namen des Kampfes gegen den
Terrorismus wird zu militärischen Interventionen im Ausland sogar ermuntert. All dies
erscheint schon im Entwurf des Verfassungsvertrags und ist Wort für Wort in den
neuen Vertrag übernommen worden.
Dieser Reformvertrag ist von A bis Z vom Neoliberalismus gekennzeichnet,
sowohl in den Prinzipien, die er fördert, als auch den Politiken, mit denen er
operiert. Die wenigen positiven Punkte stellen die augenblickliche Arbeitsweise
der Union und ihr erschütterndes Demokratiedefizit nicht in Frage. Darum
werden sich die europäischen Attacs nicht damit abfinden. Die Bürgerinnen
und Bürger der Mitgliedsstaaten sollen über ihre Zukunft entscheiden dürfen.
Daher streiten wir für bindende Volksabstimmungen über den Vertrag bei der
Ratifizierung in jedem einzelnen Mitgliedstaat.
Attac Deutschland, Attac Frankreich, Attac Italien, Attac Polen, Attac Spanien, Attac Ungarn, Attac Niederlande, Attac Portugal, Attac Österreich.
19. Oktober 2007
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