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Leuchtpunkte und Linien

Von der Leyen lobt Patriot-Staffeln in der Türkei für "gelebte NATO-Solidarität"

Von René Heilig, Kahramanmaras *

Kein Licht am Ende des Tunnels sieht die Bundesverteidigungsministerin im syrischen Bürgerkrieg. Ihr Besuch der Patriot-Raketenstaffeln in der Türkei ist deshalb ein Aufmunterungsbesuch.

Tom N. ist 23 Jahre alt. Der freundliche junge Mann aus Rostock wird noch rund ein Jahr beim »Bund« sein. Dann will er den Fleckentarnlook gegen einen guten Anzug tauschen. »Ich habe Bürokaufmann gelernt, da will ich mir einiges aufbauen. Am liebsten in der Heimat.« Doch »jobbt« er erst einmal im Süden der Türkei, rund 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt.

Er und seine im Moment 296 Kameradinnen und Kameraden beweisen, was »gelebte Bündnissolidarität innerhalb der NATO ist«. Das wiederholt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gleich mehrfach beim Truppenbesuch in Kahramanmaras. Hier stehen die Patriot-Raketen der Bundeswehr, die der Abwehr von syrischen Raketen dienen sollen, was allerdings einen Angriff von syrischer Seite voraussetzen würde. Man merkt durchaus, dass von der Leyens Gedanken denn auch mehr in Richtung NATO-Ost-Flanke streben. In Richtung Krim und Ukraine blickt die Welt. Auch dort stehen NATO-Partner NATO-Partnern bei. Bis an die Grenzen. Territorial gesehen nicht weiter, heißt es aus Delegationskreisen.

So wie beim Türkei-Einsatz namens »Active Fence«, der seit 14 Monaten läuft und vom Bundestag jüngst bis zum kommenden Januar mandatiert wurde. Wie lange will man überhaupt bleiben? Es sei noch »nicht das Licht am Ende des Tunnels zu sehen« zu sehen im syrischen Bürgerkrieg«, sagt von der Leyen. Und so lange das so sei, »ist es auch richtig, hier Schutz zu liefern«. Logistisch ist das Bleiben kein Problem. Nach anfänglichen Problemen mit Unterkünften und sanitären Einrichtungen in der Gazi-Kaserne von Kahramanmaras fühlen sich die Bundeswehrsoldaten gut aufgenommen. Es sind neue Wohncontainer aufgestellt, sogar eine kleine Sporthalle entstand. Auch wenn das Internet in der Türkei langsam ist, der Kontakt in die Heimat steht.

Bei ihren Zwölf-Stunden-Schichten blicken die deutschen Soldaten tief nach Syrien hinein. Doch vom Krieg sehen sie nur Leuchtpunkte und Linien. Mehr bildet das Radar nicht ab vom Morden. Doch immer, wenn im Gefechtsstand der deutschen »Patriot«-Raketenstaffeln ein bestimmtes Signal ankommt, dann hat ein NATO-Satellit gemeldet, dass in Syrien wieder jemand eine ballistische Rakete gestartet hat. In Sekundenschnelle ist deren mutmaßlicher Kurs berechnet. Von der Prognose hängt ab, ob die Deutschen ihre Abwehrraketen scharf machen.

Passiert ist das noch nie. Auch hat die Anzahl der gemeldeten Starts rapide abgenommen. »Anfangs haben die Syrer jede Nacht mehrere Raketen abgefeuert. Jetzt sind es nur noch ein oder zwei Flugkörper in der Woche«, berichtet Kommandeur Oberst Stefan Drexler. Und er sagt auch: Noch nie haben die Soldaten jenseits der Grenze eine Rakete gegen die Türkei ausgeschickt.

Das liege, so nimmt die Bundeswehr für sich in Anspruch, an der Abschreckungskraft ihrer »Patriots«. Die könnten Flugkörper – vor allem solche, die mit chemischen Kampfstoffen bestückt sind – vom Himmel holen, bevor sie Unheil anrichten. Aber diese Fähigkeit musste man glücklicherweise noch nicht beweisen. Nicht ein einziges mal hätten die Syrer das deutsche Abwehrgeschwader herausgefordert, nicht einmal dessen Radar getestet oder gar gestört, bestätigt Oberstleutnant Holger Wilkens. Der Luftwaffen-Mann war jüngst noch bei der NATO in Brüssel, um der Weltpresse zu erklären, welche Ziele die Allianz bei den Bombardements in Libyen – und aus welchen Gründen – angegriffen hatte.

Es scheint gewiss, dass Baschar al-Assads Truppen ganz andere Sorgen haben, als die Deutschen oder auch die gleichfalls in dem Gebiet stationierten niederländischen oder US-Flugabwehrsoldaten auf die Probe zu stellen. Gerade im Grenzgebiet zur Türkei müssen sie sich Angriffen der radikalsten islamistischen Rebellengruppen erwehren.

Die Nusra-Brigade nutzt die Pufferzone dies- und jenseits der Grenzmarkierungen als Ruheraum und als Aufmarschgebiet. Gerade hat sie mal wieder den dortigen Grenzübergang in Besitz gebracht. Solche Passierstellen sind wichtig für die Aufständischen, hier schleusen sie Nachschub an Waffen, Munition und ausländischen Freiwilligen ins Bürgerkriegsland.

Die Kämpfe in der Provinz Latakia sind mit besonderer Sorge zu betrachten. Im Hafen von Latakia werden nämlich Assads Chemiewaffen gesammelt, auf Schiffe geladen, um dann auf hoher See »entschärft« zu werden. Assads Militärs behaupten, die C-Waffen-Konvois seien schon mehrfach angegriffen worden. So erklären sie auch die Zeitverzögerung, die bei der Ablieferung der Massenvernichtungsmittel entstanden ist. Das geplante Ende der Operation im Juni ist nicht zu halten. Bislang sind erst 50 Prozent der gemeldeten Kampfstoffe aus dem Land geschafft worden. Assad wie auch die Rebellen könnten ein Interesse haben, den Vernichtungsprozess zu verzögern. Damaskus hofft, dass der Westen – solange solche Waffen noch im Land sind – keine militärischen Aktionen startet. Die Aufständischen befürchten, das Interesse des Westens an ihnen könnte erlahmen, sobald diese Kampfstoffgefahr gebannt ist.

Die deutschen Soldaten in der Türkei jedenfalls berichten, wie dankbar die regionale Bevölkerung ihnen ist, dass sie einen Raketenschirm über sie spannen. Dankbar sind auch jene, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat nach Kahramanmaras geflohen sind. Nach offiziellen Angaben sind es derzeit über 41 000. Nur 15 000 von ihnen mussten im nahen Flüchtlingslager Zuflucht suchen. Die anderen erfahren persönliche Solidarität ihrer türkischen Nachbarn. Insgesamt – so die amtlichen Zahlen vom Ende der vergangenen Woche – leben derzeit in der Türkei 641 906 Flüchtlinge aus Syrien. 421 038 von ihnen bleibt das Lagerleben erspart. Zum Vergleich: Der mit der Türkei so solidarische NATO-Partner Deutschland hat bislang rund 6000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 27. März 2013


Erdogans ausgefallener Krieg

Die Ausgangslage von 2012 hat sich total verändert

Von Roland Etzel **


Als in der Türkei die Idee dessen geboren wurde, was heute »Aktiver Zaun« heißt, hatten die Kampfhandlungen im Rahmen des syrischen Bürgerkrieges einen bis dahin nicht bekannten Umfang erreicht. Die Rebellen waren auf dem Vormarsch und hatten ihre Hochburgen vor allem entlang der 820 Kilometer langen Grenze zur Türkei.

Als Granaten über die syrische Grenze flogen und Todesopfer in der Türkei forderten, waren die Zeichen schon fast auf Krieg gestellt. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ließ sich damals mit dem Satz zitieren, dass seine Geduld mit der Regierung in Damaskus am Ende sei. Die NATO-Raketenstellungen im Stand-by-Modus in Grenznähe hätten den Militärpakt im Ernstfall in den Konflikt hineingezogen und sollten es nach türkischer Vorstellung wohl auch. Dass es dennoch zu keinem syrisch-türkischen Krieg kam, Ankara in der Folgezeit seine Muskelspiele stark zurückfuhr, hat vor allem mit Ereignissen zu tun, mit denen Erdogan kaum rechnen konnte.

Da ist zunächst ein äußerer Faktor: Die Türkei zählte bis dato – zusammen mit Katar und Ägypten – zum sunnitischen Unterstützerkreis der aufständischen syrischen Muslimbrüder. Deren radikale Entfernung von der Macht in Kairo Mitte 2013 ließ Erdogans Charme-Offensive in der arabischen Welt ins Lere laufen. Ägypten wurde vom Verbündeten praktisch zum Feindesland.

Noch mehr ins Gewicht fallen dürften die innenpolitischen Schlappen Erdogans. Den unerwartet starken Gegenwind der Gezipark-Bewegung hat er zwar inzwischen einigermaßen unter Kontrolle, doch dürfte ihm klar sein, dass in der gegenwärtig stark politisierten türkischen Öffentlichkeit der kleinste Funke in erneute Massenproteste münden kann. Das Reden von einem möglichen Krieg wäre so eine Unwägbarkeit.

Zu unrecht in den Medien relativ unbeachtet blieb die Wahrnehmung, dass die Bevölkerung der Südosttürkei sich von der pseudopatriotischen Brüllerei Erdogans so gut wie gar nicht für eine antisyrische Kriegsstimmung begeistern ließ. Auch die Deutschen im Bundeswehr-Outfit dürften, wenn sie es wissen wollten, mitbekommen haben, dass sie weniger als Schutzengel in einem möglichen Konflikt denn als Fremdkörper wahrgenommen werden. Jedenfalls wurde – inoffiziell -– gelegentlich eine wenig gastfreundliche Stimmung beklagt, die weit von dem entfernt gewesen sein mag, was man ihnen zu Hause in Deutschland über den hehren Sinn ihrer Mission erzählt hatte.

Die türkischen Grenzgebiete zu Syrien lebten von wirtschaftlichen Verflechtungen und einem lebhaften Warenaustausch mit der anderen Seite. Damit ist es einstweilen vorbei. Man hat dort statt gedeihlicher Geschäfte mit Syrien nun überfüllte Flüchtlingslager, und es ist den Leuten schwerlich einzureden, dass dies mit jederzeit kriegsbereiten Raketenstellungen schneller wieder wie vorher wird. Aber die Sinnfrage, wer nun eigentlich noch die kostspielige NATO-Präsenz braucht, ist bei diesem Besuch gewiss tabu.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 27. März 2013

»Active Fence«

Am 21. November 2012 bat die Türkei um NATO-Unterstützung bei der Sicherung ihres Luftraumes. Die Fähigkeit, anfliegende Raketen zu vernichten und auf diese Weise einen »Aktiven Zaun« (active fence) zu errichten, wie wie die NATO ihren Verteidigungswall nannte, haben nur die USA, die Niederlande und Deutschland. Diese drei haben zur Zeit »Patriot«-Raketensysteme in der Türkei stationiert. Die deutschen Soldaten kommen zumeist aus Sanitz (Mecklenburg-Vorpommern) und Husum (Schleswig-Holstein). Das Mandat des Bundestages genehmigt die Entsendung von bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten. nd




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