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Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee

Eine Analyse von Jürgen Rose

Oberstleutnant Jürgen Rose, der inzwischen - nach einer Reihe von kritischen Beiträgen (vgl. zum Beispiel seine Kritik am NATO-Krieg gegen Jugoslawien) - an das Luftwaffenamt versetzt wurde, analysierte im Mai 2000 in der Frankfurter Rundschau die ökonomischen Vorteile einer Freiwilligenarmee gegenüber einer Wehrpflichtarmee. Im Verteidigungsetat ist zu viel Geld für die Bundeswehr eingeplant
Jürgen Rose über die ökonomischen Vorteile einer Freiwilligenarmee im Vergleich zur allgemeinen Wehrpflicht

Angesichts der prekären Entwicklung des Verteidigungshaushalts in den letzten Jahren ist die Diskussion um die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland erneut entbrannt. Am 21. Februar dieses Jahres legte der ehemalige Stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr und Professor an der Universität der Bundeswehr München, Generalleutnant a. D. Dr. Jürgen Schnell, eine Studie "Zur ökonomischen Effizienz der Wehrpflicht am Beispiel der Bundeswehr" vor (siehe FR vom ....), deren Resultat, auf den Punkt gebracht, lautet: "Die Vermutung, dass die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee billiger sei als eine vergleichbar leistungsfähige Freiwilligenarmee, konnte nicht bestätigt werden. . . . Aus fiskalischer Gesamtsicht ist die Freiwilligenarmee um etwa 7 Mrd. DM billiger und zugleich ihre Leistungsfähigkeit mindestens 30 % höher. . . . Insgesamt wäre aus ökonomischer Sicht eine vergleichbare Freiwilligenarmee um etwa 50 % effizienter."

Die scheidende Wehrbeauftragte Claire Marienfeld - eine unbeirrbare Protagonistin der allgemeinen Wehrpflicht - bestätigt in ihrem vorgelegten Bericht indirekt die Ergebnisse der Schnell-Studie indem sie moniert, dass die Bundeswehr seit Jahren massiv unterfinanziert sei und deshalb die Stimmung der Soldaten zwischen Zynismus und Resignation schwanke. Die Feststellung der Wehrbeauftragten muss allerdings dahingehend präzisiert werden, dass die Bundeswehr in ihrer gegenwärtig existierenden Stuktur massiv unterfinanziert ist.

Unter Berücksichtigung von Effizienzkriterien muss die Schlussfolgerung indes völlig umgekehrt lauten: Im Verteidigungsetat war und ist viel zu viel Geld für die Bundeswehr eingeplant - nämlich so viel, dass die Bundeswehrführung über einen Zeitraum von fast 10 Jahren längst überkommene, aufgeblähte, völlig ineffiziente Strukturen entgegen allen sicherheitspolitischen Notwendigkeiten konservieren konnte. Folgerichtig räumt deshalb jetzt auch die Wehrbeauftragte die Notwendigkeit "herber Einschnitte" ein. Was Not tut, ist also nicht die Erhöhung des Wehretats, sondern das Gegenteil: die Fortsetzung des rigorosen Sparkurses, da einzig auf diese Weise - unter der Not der leeren Kassen - der notwendige Reformdruck gegenüber einer politischen Leitung und militärischen Führung erzeugt werden kann, deren Zukunftsplanung für die Bundeswehr bisweilen den Eindruck erweckt, auf Realitätsverleugnung zu beruhen. Zwar versucht derzeit die CDU als Oppositionspartei aus der Bredouille des amtierenden Bundesministers der Verteidigung Kapital zu schlagen, kommt aber dennoch nicht umhin, in ihrem Positionspapier "Die Zukunft der Bundeswehr" "Umschichtungen innerhalb des Verteidigungshaushaltes" zu fordern. Zudem geht auch die CDU davon aus, dass weitere Einschnitte beim Personal unvermeidlich sind. (. . . ). Wie stellt sich die Entwicklung des Verteidigungshaushaltes in den letzten Jahren dar? Betrug der Anteil des Verteidigungsetats am Bundeshaushalt Mitte der achtziger Jahre noch 19 %, so ist sein Anteil im Jahre 2000 auf 9,5 % gesunken. Seit dem Ende des Kalten Krieges 1990 wurde der Verteidigungshaushalt nach Nato-Kriterien um über 30 % reduziert. Deutschland wendet gegenwärtig nur noch 1,1 % seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auf, gegenüber 3,2 % durchschnittlich im Zeitraum von 1980 bis 1989. Im Vergleich dazu geben Frankreich 3,0 %, Großbritannien 2,9 % und die USA 3,6 % ihres jeweiligen Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungszwecke aus.

Insbesondere die gegenwärtige Struktur des Verteidigungshaushaltes muss äußerste Besorgnis erregen: 2000 wird der Löwenanteil des Etats, nämlich über die Hälfte, für die Personalausgaben benötigt, während für die verteidigungsinvestiven Ausgaben gerade einmal etwas über 24 % übrig bleiben. Dagegen gilt unter Verteidigungsexperten eine Investitionsquote von 30 % als erforderlich, um die Streitkräfte modern und effizient zu erhalten. Eigentlich würden die aus der veränderten sicherheitspolitischen Lage resultierenden neuen Aufgaben, z. B. die Aufstellung und Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte, sogar eher gesteigerte Ausgaben für Investitionen erfordern. Summiert man auf der Grundlage von Daten des renommierten "International Institute of Strategie Studies" in London die Investitionsdefizite gemessen an der genannten 30-%-Marge über die Jahre 1991-1996, so kommt man auf eine Gesamtsumme von 20-35 Mrd. DM. Aus diesem Investitionsdefizit leitet Professor Dr. Reiner K. Huber, Chef des Instituts für Angewandte Systemforschung und Operations Research an der Universität der Bundeswehr München und selbst Oberst der Reserve, die These ab, "dass rein rechnerisch die Bundeswehr gemessen an den seit 1991/92 bereitgestellten Investitionsmitteln heute um etwa 25-40 % zu groß ist, um insgesamt als moderne Armee zu gelten." Andererseits, so seine im März vergangenen Jahres durchgeführte Studie, läßt sich cum grano salis nachweisen, "dass der Anteil der intensiven Ausgaben im Verteidigungshaushalt dieser Jahre bei 30 % hätte gehalten werden können, wäre die Bundeswehrstärke um durchschnittlich 10-15 % niedriger gewesen." Dieser Befund von Professor Huber wird durch die Schnell-Studien direkt bestätigt, deren Synopse nämlich illustriert, dass der für die dringend notwendige Modernisierung der Bundeswehr erforderliche Investitionsanteil im Wehretat sich unter der Vorgabe der Haushaltskonsolidierung nur mit einer Freiwilligenarmee realisieren lässt.

Da die Möglichkeit einer substanziellen und überproportionalen Erhöhung des Verteidigungshaushaltes faktisch ausscheidet, lässt sich eine Gesundung der desolaten Struktur desselben ausschließlich durch massive Einsparungen im überdimensionierten Bereich der Personalausgaben erreichen. Indessen ist die damit verbundene Option einer drastischen Reduzierung des Umfangs der Bundeswehr durch den Bundesminister der Verteidigung völlig tabuisiert worden. Das aus dieser politisch widersinnigen Vorgabe für die militärische Führung resultierende Dilemma besteht nun darin, bei einem tendenziell sinkenden Verteidigungshaushalt die personelle Stärke der Bundeswehr aufrechterhalten zu müssen und dabei zwangsläufig vielfach hohle und ineffiziente Strukturen in Kauf zu nehmen, die kaum noch lebens-, geschweige denn einsatzfähig sind.

Dabei zeigt eine bereits im Jahr 1996 erstellte weitere Studie des ebengenannten Professors Huber, dass "unter dem mit der zur Zeit eingeführten Rüstungstechnologie erreichten mittleren Modernisierungsgrad eine Reduzierung der Bundeswehr auf circa 240 000 Soldaten kein sicherheitspolitisches Risiko darstellen würde". Legt man einen auf der Verfügbarkeit weitreichenden Präzisionsfeuers beruhenden hohen Modernisierungsgrad zu Grunde, ließe sich der Friedensumfang der Bundeswehr, so Huber, gar auf circa 14 8 000 Soldaten drücken.

Eine Reduzierung des Personalumfangs der Bundeswehr im hier beschriebenen Ausmaß brächte notwendigerweise das Ende der allgemeinen Wehrpflicht mit sich, da man in diesem Fall entweder die Dauer des Grundwehrdienstes auf ein unvertretbar kurzes Maß beschränken oder darauf verzichten müsste, jeden zum Wehrdienst Tauglichen auch tatsächlich einzuberufen, womit aber dem unbedingten Erfordernis der Wehrgerechtigkeit nicht mehr Rechnung getragen werden könnte.

Auch die immer wieder zur Begründung des Fortbestandes der allgemeinen Wehrpflicht ins Feld geführte notwendige Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr auf im Verteidigungsfall 680 000 Soldaten erweist sich als Scheinargument. Für den derzeitig einzigen potenziell für die Bundesrepublik Deutschland existenzgefährdenden, jedoch extrem unwahrscheinlichen Konflikt in Europa - nämlich einer Aggression eines in alte Konfliktmuster zurückgeglittenen, totalitär verfassten Russlands - ist nach Nato-Erkenntnissen von Vorwarnzeiten auszugehen, die mindestens 18 Monate betragen, ausreichend Zeit also, um gegebenenfalls eine zuvor ausgesetzte Wehrpflicht wieder aufleben zu lassen und anschließend die benötigte Zahl von Soldaten auszubilden.

Darüber hinaus stehen Reservisten ja auch einer Freiwilligenarmee zur Verfügung, wobei deren Ausbildungsstand in aller Regel denjenigen ehemaliger Wehrpflichtiger, die gerade einmal zehn Monate gedient haben, bei weitem übertrifft - in der Schnell-Studie wird dieser Sachverhalt als "Professionalisierungsvorteil" bezeichnet.

Würde die Wehrpflicht ausgesetzt oder abgeschafft und die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee mit gleicher Kampfkraft umstrukturiert, könnten im Bundeshaushalt laut Schnell-Studie jährlich 7 Mrd. DM eingespart werden. Im Einzelplan 14 entfielen die Kosten für 135 000 Wehrpflichtige pro Jahr, was bei jährlich budgetwirksamen Ausgaben von 25 939 DM pro Mann allein schon ca. 3,5 Mrd. DM an Einsparungen im Verteidigungshaushalt bedeutete - womit zugleich die heute für Investitionen fehlenden Mittel kompensiert und die zukünftigen Sparvorgaben des Bundesfinanzministers nahezu erfüllt werden könnten.

Zusätzliche Spareffekte würden sich dadurch ergeben, dass die flächendeckende Infrastruktur der Wehrersatzbehörden wegfallen könnte und der Bedarf an höherdotierten Dienstposten in einer kleineren Armee erheblich geringer wäre als heutzutage. Außerdem könnte eine Stationierung der verkleinerten Armee nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen und dadurch bis zu drei Viertel aller Standorte überflüssig machen, was zusätzlich erhebliche Einsparungen bei den Infrastrukturausgaben ermöglichte. Gerade hiervor schrecken zuständige Politiker aber zurück, würde doch ein Rückzug der Bundeswehr regelmäßig erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen für die betroffenen Städte und Gemeinden nach sich ziehen. Indes kann die Funktion des Verteidigungsetats nicht in der Subventionierung strukturschwacher Kommunen und Regionen liegen, sondern in der Bereitstellung von Streitkräften, die möglichst effizient zur Wahrung der außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland beitragen. Unter volkswirtschaftlichen Aspekten schließlich ist zu berücksichtigen, dass ein Wehrpflichtsystem immer Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt erzeugt und obendrein zur Verschwendung und Fehllokation volkswirtschaftlicher Ressourcen führt. Im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Effizienz eines Wehrsystems lässt sich mit den Hilfsmitteln der ökonomischen Theorie zeigen, dass ein optimaler Zustand nur bei einer Freiwilligenarmee erreicht wird.

Zwar verursacht eine Freiwilligenarmee im Vergleich zu einer Wehrpflichtarmee identischen Personalumfangs höhere Kosten im Staatshaushalt, indes wären die tatsächlichen volkswirtschaftlichen Kosten für die Streitkräfte auf Grund des Wegfalls der durch eine Wehrpflichtarmee verursachten Opportunitätskosten erheblich geringer. Im Grund genommen resultieren die relativ geringeren budgetwirksamen Kosten einer Wehrpflichtarmee nur aus einer in höchstem Maße ungerechten Verteilung der wahren Verteidigungslasten zu Ungunsten der wehrpflichtigen Generation junger Männer, die vermittels der von ihnen erzwungenen Dienstleistung de facto eine Naturalsteuer entrichten - die Gesamtheit der Staatsbürger beutet sozusagen einen jungen Jahrgang zu seinem Vorteil aus - und das völlig ohne Not.

Ergänzend ist aus dem ökonomischen Blickwinkel anzumerken, dass der Grenznutzen der militärischen Leistung eines Freiwilligen denjenigen eines Wehrpflichtigen übersteigt. Die Gründe hierfür sind evident: Die relativen Ausbildungskosten einer Wehrpflichtarmee sind höher - und zwar je kürzer die Wehrpflichtdauer ist, ein Teil der Ausbildungsorganisation kann entfallen, weil der Freiwillige im Durchschnitt länger dient, der Verbrauch und Verschleiß von Wehrmaterial ist geringer, der Freiwillige ist im Durchschnitt, was die Motivation betrifft, besser geeignet für den militärischen Dienst - sonst hätte er sich ja nicht freiwillig gemeldet - und wegen der längeren Dienstzeit auch besser ausgebildet und erfahrener, auch gewinnen durch den geringeren personellen Wechsel innerhalb der Verbände diese eine größere Kampfkraft.

Summa summarum illustrieren die vorliegenden Resultate der Analyse der Effizien zu einer Wehrpflichtarmee gegenüber einer Freiwilligenarmee unter ökonomischen Aspekten neben all den anderen - zum Beispiel verfassungsrechtlichen oder gesellschaftspolitischen - Problemen, aber auch die Tatsache, dass fast alle Nato-Verbündeten den Übergang zur Freiwilligenarmee entweder eingeleitet oder beschlossen haben, wie bitter notwendig die öffentliche Debatte um die Abschaffung oder Aussetzung der Allgemeinen Wehrpflicht ist.

Die demokratische Öffentlichkeit sollte die Zukunft der Bundeswehr nicht den Vertretern des Bundesministeriums der Verteidigung überlassen, denn: Wenn man einen Sumpf trockenlegen will, darf man nicht die Frösche um Erlaubnis fragen!

Aus: Frankfurter Rundschau, 22.05.2000

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