Allgemeine Wehrpflicht abschaffen
Von Michael Behrendt und Ralf Siemens
Nachfolgender Beitrag stammt aus der Kampagne gegen die Wehrpflicht (Berlin) und ist schon etwas älter. Die Argumentation passt aber auch auf die aktuelle Diskussion.
Allgemeine Wehrpflicht?
Die Entscheidung Frankreichs, bis zum Jahr 2002 auf die Wehrpflicht zu verzichten, hat die
Bundesregierung kalt erwischt. Die Debatte um die Wehrpflicht ist in der BRD erneut
entbrannt. Das von der Bundesregierung angeführte Argument des deutschen Sonderweges,
Kritikern des Militarisierungskurses der bundesdeutschen Außenpolitik entgegengehalten,
wendet sich nun gegen sie selbst. Denn Großbritannien, Kanada, die USA, Belgien, die
Niederlande und nun Frankreich haben sich für Streitkräfte entschieden, die sich allein auf
Freiwillige abstützen.
In keinem anderen Staat wird die Diskussion um die Wehrpflicht so dogmatisch geführt wie
hierzulande. Die Wehrpflicht habe sich bewährt, sie sichere die Verantwortung des einzelnen
männlichen Bürgers für die Sicherheit des Landes, sie sei eine demokratische Errungenschaft
und sie sei letztlich unantastbar. Und, so ist auch von kritischer Seite zu vernehmen, erst die
Wehrpflicht garantiere eine gesellschaftliche Kontrolle der Streitkräfte.
Die Bundeswehr ist bereits seit Jahren eine Freiwilligenarmee mit Wehrpflichtigenanhang. Nur
vier von zehn Soldaten sind Grundwehrdienstleistende. Gerade in den für Interventionen
vorgesehenen "Krisenreaktionskräften" sind ausschließlich längerdienende Soldaten rekrutiert.
Ein Spiegelbild der Gesellschaft repräsentiert sich ohnehin nicht (mehr) in den Streitkräften.
Wehrpflichtige mit militärkritischer Einstellung verweigern den Kriegsdienst mit der Waffe;
überwiegend Abiturienten und Söhne aus bildungspriviligierten Schichten.
160.569 Wehrpflichtige haben 1995 einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Ein
Rekordjahr, das die schwindende Akzeptanz des Wehrdienstes belegt. Etwa 30 % eines
Musterungsjahrganges leisten mittlerweile einen Ersatzdienst. Umfragen zufolge wird die
Wehrpflicht nur noch unter denen mehrheitlich bejaht, die aus dem Wehrdienstalter selbst
herausgewachsen sind. Eklatant ist die Wehrungerechtigkeit und die Verletzung des
verfassungsrechtlichen Gebots, daß der Wehrdienst die Regel und die Ableistung von
Ersatzdiensten die Ausnahme sein müsse. Gegenwärtig leisten etwa 150.000 Männer auf rund
172.000 eingerichteten Planstellen ihren Zivildienst. Ihnen stehen 155.000
Grundwehrdienstleistende gegenüber. Insgesamt haben 1995 etwa 300.000 Männer einen
Dienst im Rahmen der Wehrpflicht geleistet. Bei Jahrgangsstärken von jeweils um die 400.000
Wehrpflichtigen wird deutlich, daß mehrere Zehntausend junge Männer zu keinem Dienst
herangezogen werden können.
Bundesweit verweigern jährlich mehrere hundert Männer jeglichen Kriegsdienst. Auch der
Zivildienst ist im Rahmen der Wehrpflicht und der zivil-militärischen Planung ein Kriegsdienst,
nur ohne Waffen. Das Grundgesetz läßt nur die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der
Waffe zu. Wer als Totalverweigerer jeden Kriegsdienst konsequent verweigert, kann mit bis
zu 5 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Derart drakonische Strafen lassen sich zur Zeit
jedoch nicht umsetzen. Der Mut zum Zivilen Ungehorsam wird zur Zeit in der Regel mit einer
Vorstrafe zur Bewährung geahndet.
Aus politischem Munde ist zu erfahren, daß die Wehrpflicht unantastbar sei. Tatsächlich aber
wird die Würde des Menschen durch die Wehrpflicht massiv angetastet und verletzt.
Eingezwängt in ein strikt hierarchisch strukturiertes Militärsystem bleibt dem einzelnen
Wehrpflichtigen nur das Ausführen von Befehlen. Er wird in die Rolle eines Objektes
militärischer Gewalt verwiesen, die von ihm Todes- und Tötungsbereitschaft verlangt. Handelt
er hingegen als eigenständiges Subjekt, sich selbst und nicht einem Vorgesetzten gegenüber
verantwortlich, wird er mit disziplinarischen und strafrechtlichen Maßnahmen verfolgt.
Der Verfassungsrechtler Dr. Manfred Baldus kommt in einem Gutachten vom April 1995 zu
dem Ergebnis, daß die Wehrpflicht verfassungswidrig ist. Die staatlichen Eingriffe in die
Grundrechte der Wehrpflichtigen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und auf
körperliche Unversehrtheit dürften nur dann erfolgen, wenn nur eine Wehrpflichtarmee die
Landesverteidigung gewährleisten könne. Da aber eine militärische Bedrohung
bundesdeutschen Gebietes nicht festzustellen sei, ist die Wehrpflicht nicht mehr notwendig und
daher verfassungswidrig. Einem Antrag auf Aussetzung eines Strafverfahrens gegen einen
Totalverweigerer vor dem Amtsgericht Potsdam, der sich auf diese Argumentation stützt, ist
im Februar 1996 stattgegeben worden. Das Gericht prüft, ob es eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht einholt.
Ein Ausweg aus dem Dilemma der Wehrungerechtigkeit scheint für konservative Politiker die
Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht unter Einbeziehung von Frauen zu sein. Eine
Dienstpflicht, vor allem aus den Reihen der CDU/CSU gefordert, stößt aufgrund ihres
Zwangscharakters auf verfassungs- und völkerrechtliche Schranken. Ein Hauptmotiv für die
Beibehaltung der Wehrpflicht und für die Forderung nach Einführung einer allgemeinen
Dienstpflicht ist der obrigkeitsstaatlichen Tradition Deutschlands entnommen: der einzelne
Bürger habe dem Staat zu dienen. Eine freiheitlich organisierte Gesellschaftsordnung kann aber
nur von der umgekehrten Maxime ausgehen.
Auch der verwaltungstechnische Aufwand zur Erfassung und Aushebung von zusätzlich etwa
320.000 Frauen pro Jahrgang würde erhebliche finanzielle Mittel erfordern. Ärztliche
Eignungsuntersuchungen und die Bearbeitung von Dienstausnahmen und anderer Regelungen
verlangen zusätzliches Verwaltungspersonal unterschiedlichster Qualifikationen. Eine neue
Sparte der Eingriffsverwaltung müßte geschaffen werden, die, so der Regierungsdirektor und
langjährige Kreiswehrersatzamtsleiter Dr. W. Steinlechner, mit zusätzlich etwa 3.000
Dienstposten aufzublähen wäre. Insgesamt würden für die Bundesländer zusätzliche Kosten in
Höhe von ca. 21 Milliarden DM entstehen. Ökonomisch sinnvoller und demokratisch geboten
ist es, die knapp 300.000 fehlenden Arbeitsplätze im sozialen Bereich statt mit
Zwangsverpflichteten endlich mit entsprechend fachlich ausgebildetem Personal zu besetzen.
Nach Abschaffung der Wehrpflicht und Verhinderung neuer Pflichtdienste verbliebe eine
Freiwilligenarmee mit einem hohen Anteil an Berufssoldaten. Bis zu ihrem vollständigen Abbau
muß dann die Bundeswehr grundlegend reformiert werden: hoher Anteil kurz dienender
Soldaten, Aufhebung der strikten Trennung der Dienstgradgruppen, Ausweitung der
Einstellungsvoraussetzungen auf die Prüfung politischer und demokratischer Kompetenzen,
berufliche Ausbildung im zivilen Bereich, Öffnung der Bundeswehr gegenüber zivilen
Kontrollinstanzen, Umbau der Bundeswehr zur interventionsunfähigen Armee.
Die Forderung kann nur lauten: ersatzlose Abschaffung der Wehrpflicht. Eine einfache
Mehrheit im Bundestag genügt, um diese Forderung umzusetzen.
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