Kein Menschenrecht auf Gesundheit
Privatisierung verschlechtert medizinische Versorgung für Millionen von Menschen
Von Kai Walter *
Weltweit wird das Gesundheitswesen durch neoliberale Politik ökonomisiert und entsolidarisiert. In Industrieländern können sich zunehmend Menschen eine ausreichende medizinische Versorgung
nicht mehr leisten, und hunderte Millionen werden in Entwicklungsländern noch tiefer in die Armut getrieben.
Kindersterblichkeit, Müttergesundheit und Seuchenbekämpfung: Drei der acht
Millenniumsentwicklungsziele, deren Stand gerade in New York überprüft wird, haben das Thema
Gesundheit zum Inhalt. Die Kindersterblichkeit geht zwar zurück, doch noch immer sterben täglich
mehr als 20 000 Kinder unter fünf Jahren. Jüngst sorgte die Ankündigung von Kürzungen der
deutschen Zahlungen zum Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria für
Proteste. Die deutsche Hilfsorganisation medico international will mehr als die Einhaltung finanzieller
Zusagen. Deshalb lud sie zur Konferenz »global, gerecht, gesund« nach Berlin ein, um über eine
gerechte globale Gesundheitspolitik zu diskutieren.
»Den Zeitpunkt für diese Konferenz haben wir ganz bewusst gewählt«, sagte Thomas Gebauer,
Geschäftsführer von medico international. Mit Blick auf den New Yorker UN-Gipfel zur Bilanzierung
der Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) wolle man einen Prozess anschieben, der eine andere
Politik und andere Strategien hervorbringt, als jene, deren Scheitern offensichtlich sei. Gebauer
fordert eine Abwendung vom Wohltätigkeitsdenken hin zur gemeinsamen Sicherung sozialer
Existenzrechte. Gesundheit müsse als Menschenrecht behandelt werden.
Die bestehenden internationalen Abkommen und Regeln in Politik und Wirtschaft verschärfen die
Ungleichheit. Während die internationalen Ausgaben im Gesundheitswesen sich in den letzten 20
Jahren etwa vervierfacht haben, hat sich die Versorgungslage für viele verschlechtert. Täglich
werden weltweit Menschen in die Armut getrieben, weil sie teure aber lebenswichtige medizinische
Leistungen in Anspruch nehmen müssen.
»Indien ist der drittgrößte Medikamentenproduzent der Welt, aber 65 Prozent der Bevölkerung
können sich diese Medikamente nicht leisten«, sagte Dr. Narendra Gupta aus Indien. Wer dort
medizinische Leistungen in Anspruch nehme, sei von Armut bedroht. Viele würden sich verschulden,
weil sie sich Geld für Medikamente oder Operationen borgen müssen.
Besonders in der Kritik steht die von der Weltbank geforderte und geförderte Privatisierung des
Gesundheitswesens in Entwicklungsländern. Zu erhofften sozialen Verbesserungen sei es in den
wenigsten Fällen gekommen.
Die Wissenschaftlerin Aissa Halidou aus Niger kam in einer Untersuchung zur Projektarbeit der
Weltbank zum ernüchternden Ergebnis, dass 80 Prozent der HIV-Maßnahmen der Weltbank in
Subsahara-Afrika als Misserfolge gesehen werden müssen. Zudem würden Programme oft an den
lokalen Bedürfnissen vorbei durchgeführt. So sei das große Engagement im Bereich Aids in Niger
laut Halidou fragwürdig, da diese Krankheit gerade dort ein geringeres Problem darstelle als in
anderen afrikanischen Ländern. So sei Malaria in Niger eine häufigere Todesursache als Aids. In
einem alternativen Aktionsplan wollen die Konferenzteilnehmer die Einrichtung eines solidarisch
finanzierten Globalen Fonds für Gesundheit verankert sehen. Dieser solle sicherstellen, dass auch
medizinische Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden können, deren Regierungen dies noch
nicht aus eigener Kraft schaffen. Der Fonds solle nicht nur global im Sinne von weltumspannend
sein, sondern auch über die Einschränkungen des existierenden Globalen Fonds zur Bekämpfung
von HIV, Tuberkulose und Malaria hinausgehen.
Kein Weg gehe vorbei an einem solidarisch verfassten Gesundheitswesen, darüber herrschte
Einigkeit bei den Konferenzteilnehmern. Dieses sei kein lästiger Kostenfaktor sondern
gesellschaftlicher Fortschritt. Wo betriebswirtschaftliches Denken eine wichtigere Rolle spiele als
soziale und medizinisch-ethische Aspekte, verlören als erstes die Schwachen. Patienten seien einer
Vermarktung von Gesundheit ausgesetzt, der die meisten nicht gewachsen sind. Vor allem in
Ländern, in denen soziale Sicherungssysteme nicht existieren.
Der Arzt Armando de Negri aus Porto Alegre, der auch die brasilianische Regierung berät, erklärte
seine Vision von einer globalen Gesundheitspolitik. Keineswegs könne erwartet werden so etwas
wie eine »Weltregierung für Gesundheit« zu erschaffen. Dies hält de Negri nicht nur für unmöglich,
sondern auch für falsch. Nicht von der obersten politischen Ebene herab könne Gerechtigkeit und
Solidarität geschaffen werden, sondern nur auf der Basis von starken nationalstaatlichen
Institutionen, die in den Ländern adäquate Strukturen für ein bedarfsgerechtes Gesundheitswesen
schaffen. Die vorhandenen internationalen Strukturen sollten dann genutzt werden, um daraus in
einem Prozess von unten nach oben eine globale Politik zu machen.
»Wenn wir über globale Gesundheitspolitik reden, müssen wir über die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) sprechen«, sagte Nicoletta Dentico von Global Health Watch Italien. Nicht die
Pharmaindustrie dürfe die Gesundheitspolitik machen, sondern staatliche Institutionen. Diese
müssten gestärkt werden, um eine gerechte globale Gesundheitspolitik zu erreichen. Dafür müsse
das »unglaubliche Wirrwarr von Akteuren« transparenter gestaltet werden. Die WHO sei die einzige
international legitimierte Institution und eröffne einen demokratischen Handlungsraum. Allerdings
müsse die WHO erst wieder in die Lage versetzt werden, um die nationalen politischen Strategien im
Gesundheitswesen auf globaler Ebene zusammenzuführen. Dazu gehöre vor allem, eine
zivilgesellschaftliche Mitsprache zu ermöglichen. Nachholbedarf gibt es offensichtlich nicht nur bei
den Millenniumsentwicklungszielen.
* Aus: Neues Deutschland, 21. September 2010
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