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Die Finalität Europas - Ende des Traums von der Zivilmacht?

Vortrag auf der ÖSFK-Sommerakademie 2004 in Stadtschlaining (1)

Von Werner Ruf

1. Selbstverständnisse.

Deren scheint es in EU-Europa viele zu geben. So gab die EU-Kommission am 15. Dezember 2001 anlässlich des Gipfels von Laeken, auf dem die Ausarbeitung einer Verfassung für die EU beschlossen wurde, eine Erklärung zum Selbstverständnis der Union ab:

"Welche Rolle spielt Europa in dieser gewandelten Welt? Muss Europa nicht - nun, da es endlich geeint ist - eine führende Rolle in einer neuen Weltordnung übernehmen, die Rolle einer Macht, die in der Lage ist, sowohl eine stabilisierende Rolle weltweit zu spielen als auch ein Beispiel zu sein für zahlreiche Länder und Völker? Europa als Kontinent der humanitären Werte, der Magna Charta, der Bill of Rights, der Französischen Revolution, des Falls der Berliner Mauer. Kontinent der Freiheit, der Solidarität, vor allem der Vielfalt, was auch die Achtung der Sprachen, Kulturen und Traditionen anderer einschließt. Die einzige Grenze, die die Europäische Union zieht, ist die der Demokratie und der Menschenrechte. Die Union steht nur Ländern offen, die ihre Grundwerte, wie freie Wahlen, Achtung der Minderheiten und der Rechtsstaatlichkeit, teilen.

Nun, da der Kalte Krieg vorbei ist und wir in einer globalisierten, aber zugleich auch stark zersplitterten Welt leben, muss sich Europa seiner Verantwortung hinsichtlich der Gestaltung der Globalisierung stellen. Die Rolle, die es spielen muss, ist die einer Macht, die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt, die aber auch ihre Augen nicht vor dem schreienden Unrecht in der Welt verschließt. Kurz gesagt, einer Macht, die die Verhältnisse in der Welt so ändern will, dass sie nicht nur für die reichen, sondern auch für die ärmsten Länder von Vorteil sind. Einer Macht, die der Globalisierung einen ethischen Rahmen geben, d.h. sie in Solidarität und in nachhaltige Entwicklung einbetten will."
(2)

Diese Lyrik, die nicht nur die Friedenssehnsucht der überwältigenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung artikuliert, sondern auch die Erkenntnisse friedenswissenschaftlicher Forschung zum politischen Programm zu erheben scheint, findet ihren Niederschlag auch in der Präambel des Entwurfs für eine Verfassung der EU:

"In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft,
Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben,
In der Überzeugung, dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will …"


Etwas nüchterner, aber durchaus im Sinne eines auf das Konzept Zivilmacht orientierten Selbstverständnisses von EU-Europa verwiesen Jacques Derrida und Jürgen Habermas in ihrem viel beachteten Appell vom Mai 2003 (3) und unter dem Eindruck der großen Anti-Kriegs-Demonstrationen des 15. Februar 2003 auf die inneren Bedingungen für eine am Ziel des Friedens orientierte Außenpolitik: Weil sich die Staaten Europas auch durch ihre Wohlfahrtsregime vom Freibeuter-Kapitalismus der USA unterscheiden, dürften sie nicht "hinter die Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit, die sie gesetzt haben" zurückfallen, und eine künftige "Politik der Zähmung des Kapitalismus in entgrenzten Räumen" sei daher vorrangige politische Aufgabe der EU. Hieraus resultiert die Vision der Autoren: "Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union hat die Europäer in der Überzeugung bestärkt, dass die Domestizierung staatlicher Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume verlangt."

2. Militarisierung als Verfassungsziel.

Da scheinen der Verfassungskonvent und die Regierungschefs (4) dann doch vom Wege des Auftrags von Laeken und von der selbst formulierten Präambel wie von den Mahnungen der zeitgenössischen Denker abgekommen zu sein, wenn er - einmalig in der Verfassungsgeschichte - die Mitglieder der EU verpflichtet zu permanenter Aufrüstung. Indem sie "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise … verbessern" und zur Unterstützung der Forschung auf dem Gebiet der Verteidigung im Rahmen der einzurichtenden "Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten." (I-40). Der Anspruch auf weltweite militärische Interventionen wird formuliert, wenn "Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet" unterstützt werden sollen (III-210). Bei Militäraktionen wird das Prinzip der ungleichen Geschwindigkeiten festgeschrieben, da eine Beteiligung aller Mitglieder nicht gefordert wird, sondern ad hoc gebildete coalitions of the willing, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind" Interventionen durchführen können (Artikel III-211)*:
(1) "… der Rat( kann) die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Die betreffenden Mitgliedstaaten vereinbaren im Benehmen mit dem Außenminister der Union untereinander die Ausführung der Mission."
(2) "Die an der Durchführung der Mission teilnehmenden Mitgliedstaaten unterrichten den Rat von sich aus oder auf Antrag eines Mitgliedstaats regelmäßig über den Stand der Mission.


Der Gipfel des Ganzen ist die prozedurale Festlegung, wonach der Ministerrat über militärische Einsätze entscheidet (III-198), das Europäische Parlament aber nur zu "den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört (wird) " (I-39, Ziff. 6 und I-40 Ziff. 8). Immerhin "kann" es "Anfragen oder Empfehlungen an den Ministerrat und den Außenminister der Union richten." (III-205).

Europa als Hort der Demokratie, in dem die Frage von Krieg und Frieden dem Parlament entzogen und allein der Exekutive überlassen wird? Wie lässt sich dies vereinbaren mit der vollmundigen Erklärung von Laeken oder den in der Präambel beschworenen Prinzipien? Diese hätten eine unmissverständliche Ächtung des Krieges als Mittel der Politik nahe gelegt, was ja unter explizitem Verweis auf Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen auch möglich gewesen wäre. Statt dessen wurde - nach dem Scheitern der Annahme der Verfassungsentwurfs im Dezember 2003 - das so genannte Solana-Papier am 12. Dezember 2003 als "Europäische Sicherheitsstrategie (ESS)" beschlossen.(5)

Geradezu erschreckend ist, wenn dort festgestellt wird: "Die Charta der Vereinten Nationen bildet den grundlegenden Rahmen für die internationalen Beziehungen." Nein, den bildet sie nicht, sie ist vielmehr die Grundlage der internationalen Beziehungen seit 1945, ein Vertragssystem, dessen Mitglieder sich mit ihrem Beitritt verpflichten, "auf Androhung oder Anwendung von Gewalt" zu verzichten (Art. 2.4 der Charta). Und kühn kommt zwei Sätze später die Deutung des nebulösen Bezugs auf den "Rahmen": "Wir wollen, dass die internationalen Organisationen, Regelungen und Verträge Gefahren für den Frieden und die Sicherheit in der Welt wirksam abwenden, und müssen daher bereit sein, bei Verstößen gegen ihre Regeln zu handeln." Hier wird die Charta auf den Kopf gestellt: Nicht "Wir" müssen handeln - dies obliegt allein dem Sicherheitsrat, dessen Kompetenz sich die ESS hier anmaßt. Maßen sich die Staaten der EU hier etwa an, selbst zu entscheiden, ob und wann die Charta verletzt wird, um dann anstelle der UN zu handeln? Wollte die EU aber tatsächlich das UN-System und den Sicherheitsrat stärken statt sich an seine Stelle zu setzen, dann müsste sie endlich auf die Umsetzung der Art. 45 und 47 der Charta dringen und dem Sicherheitsrat jene Kontingente zur Verfügung stellen, die in diesen Artikeln vorgesehen sind, ihre im Aufbau befindlichen Schnellen Eingreiftruppen dem System kollektiver Sicherheit, den UN, unterstellen. Dies wäre der Weg, das suprastaatliche Gewaltmonopol zu stärken und dazu beizutragen, dass Gewalt in den internationalen Beziehungen nicht eingesetzt wird, um nationale Interessen oder die kollektiver Einzelakteure wie der EU zu verfolgen. Genau wie die NSS der USA trägt der Anspruch der ESS auf selbständige Gewaltanwendung eher zur Demontage des UN-Systems bei statt dieses zu stärken. Den in der ESS formulierten Zielen entspricht das Fehlen einer eindeutigen Formulierung im Entwurf der EU-Verfassung, die den Gewaltverzicht als Prinzip des außenpolitischen Handelns festschreibt. Das Fehlen einer solchen Festlegung ist daher fast noch aufschlussreicher als der Umfang, der der Militarisierung der Union im Verfassungsentwurf gewidmet wird.

3. Zivilisierung als Voraussetzung für eine Zivilmacht?

Derrida und Habermas haben darauf verwiesen, dass die Sozialstaatstradition Europas dieses grundsätzlich vom Freibeuterkapitalismus der USA unterscheide. Es darf bezweifelt werden, dass diese Behauptung einer empirischen Überprüfung standhält: Auch die USA kannten die Periode des New Deal, und die sozialen Errungenschaften in Europa sind jung und stammen größtenteils aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie dürften, zumindest zum Teil, auch der Systemkonkurrenz während der Zeit des Kalten Krieges zu verdanken gewesen sein. Dennoch wirft dies die Frage auf, ob es eine Relation zwischen geregelten, konfliktarmen Binnenverhältnissen und einem friedlichen oder wenig aggressiven Außenverhalten von Staaten gibt. Vieles spricht dafür, dass Dieter Senghaas sein zivilisatorisches Hexagon in diesem Sinne verstanden wissen will.(6) Er selbst hat in verschiedenen Studien vor der Wiederkehr der Dominanz der realistischen Schule gewarnt, die die Rückkehr des internationalen Systems zur Anarchie zur Folge haben würde.(7) Um das "Friedensprojekt Europa in die Praxis zu übersetzen" bedarf es nach seiner Diagnose der Rechtsstaatlichkeit, der institutionellen Vernetzungen, des ökonomischen Ausgleichs und der Einübung von Konfliktkultur, nicht aber des Militärs. Auch wenn sein Blick primär auf die Binnenstruktur Europas gerichtet ist, gelten diese Maßstäbe doch auch für das Agieren nach außen und für den internationalen Verkehr schlechthin.

Aber wie sehen diese Binnenverhältnisse mittlerweile aus? Globalisierung und der Siegeszug des Neoliberalismus werden dazu genutzt, in Jahrzehnten erkämpfte soziale Sicherungssysteme und damit den ökonomischen Ausgleich zu zerschlagen, die Anschläge des 11. September - selbst vielleicht Folge einer zunehmend Rechtsgrundsätze missachtenden und soziale Antagonismen verschärfenden Welt (8) - dienen dazu, die Rechtsstaatlichkeit allenthalben abzubauen, die unter Generalverdacht gestellten Muslime werden zum Symbol einer neuen ethnisch-religiösen Bedrohung stilisiert, kurz: die Ent-Zivilisierung schreitet auch innerhalb Europas voran, wenn zivilisatorische Errungenschaften und gesellschaftliche Sicherungssysteme verloren gehen, wenn der Staat - in unserem Falle die Union - zur Förderung und Verteidigung des Gemeinwohls nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens ist, wenn die Machthabenden "zwischen dem Vertrauen der Märkte und dem Vertrauen des Volkes" gewählt haben.(9) Und in der Tat werden die Militarisierungsbestimmungen der Verfassung ergänzt durch eine Reihe von Bestimmungen, die Europa konsequent auf eine "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb", also eine neo-liberale Politik verpflichten (I-14, III-69, III-70) und den ‚Rückbau' des Sozialstaates zum Ziel haben.(10) Der Staat müsste aber nicht hilfloses Opfer der Marktkräfte sein, die er beschwört, sondern er kann durchaus handlungsfähiges Subjekt sein, wie Bourdieu dies beschreibt:
"… Staat erringt im Laufe seiner Entwicklung eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mächten. Er wird fähig, den Willen der Herrschenden umzudeuten, ihn auszulegen, und manchmal entsteht dabei Politik."(11)

Nur: Staat - in unserem Falle die EU - will dies nicht, von einer Ausnahme abgesehen, auf die gleich einzugehen sein wird. Derzeit erscheint der Staat als Vollzugsorgan des Willens der Herrschenden. Der gezielte Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften und Sicherheiten produziert nicht nur gigantische (und bisher unkalkulierte) Folgekosten im sozialen Bereich (Gesundheitswesen, Justiz, Strafvollzug, Psychologie und Psychiatrie), er bewirkt auch De-Solidarisierung, politische Apathie und die Diskreditierung der Demokratie mitsamt der Gefahr, dem Rechtsradikalismus den Weg zu bereiten, sprich: kollektive Aggressivität nach innen und außen zu fördern. Die hier vertretene These besagt, dass die Deregulierung der Binnenverhältnisse, ihre Unterwerfung unter die unmittelbaren Verwertungsinteressen des (globalisierten) Kapitals auch die Deregulierung der internationalen Rechtsverhältnisse zur Folge haben muss, die dann einer neuen imperialen Ordnung unterworfen werden.(12)

4. Felder staatlicher Handlungsfähigkeit: Die Organisation des militärisch-industriellen Komplexes.

Dass Staat aber handeln kann, wenn er nur will, stellt nicht zuletzt die Verfassung unter Beweis: Zum einen auf den Gebieten, wo sie dem Neoliberalismus den Weg zu bereiten oder zumindest zu erleichtern sucht, zum Anderen aber auch und gerade dort, wo das anvisierte europäische Großmachtstreben im Geiste der realistischen Schule dies geboten erscheinen lässt, nämlich bei der - gleichfalls in der Verfassung verankerten und inzwischen bereits umgesetzten - Schaffung eines "Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten."

Aufgabe dieses Amtes ist es, "bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und der Bewertung der Erfüllung der von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangen Verpflichtungen mitzuwirken, … die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen" und dazu beizutragen, dass "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen gezielteren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden, und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen" (III-212). Dieses Amt hat zwei zentrale Aufgaben, wie eine pünktlich erstellte Studie des Instituts für Sicherheitsstudien der EU in Paris feststellte:(13) Erstens sicherzustellen, dass der Bedarf an Fähigkeiten der europäischen Streitkräfte gedeckt wird, zweitens die Effizienz der Rüstungskooperation zwischen den Partnern zu steigern, um so zu Kosteneinsparungen zu gelangen. Nicht zuletzt wird, wie der Untertitel der Studie programmatisch verheißt, als weiteres Resultat eine Stärkung des Euro erwartet ("getting a bigger bang for the Euro"), und zwar wohl weniger im Bereich der Wechselkursparitäten als im Bereich der Anteile am weltweiten Rüstungsexport, die dann nicht mehr in Dollar sondern in Euro zu fakturieren wären. Der Schwerpunkt der Arbeit des Amtes liegt, so die derzeitige Planung, in den Bereichen Fähigkeiten, Beschaffung und Forschung.

Es ist mehr als verblüffend, dass Staats- und Regierungschefs wie gerade Chirac und Schröder nun plötzlich zu staatlichen Steuerungsinstrumenten greifen, wenn es um die Herstellung eines europäischen Rüstungskomplexes geht, vertreten doch beide nicht nur die Segnungen der neo-liberalen Globalisierung und befördern diese nach Kräften durch legislative Initiativen zur Deregulierung. Demgegenüber soll die Schaffung des Amtes eine einzigartige Ausgangsbasis zur Reform (sprich: Stärkung) des europäischen Rüstungssektors schaffen, und seine Verankerung in der EU-Verfassung soll verhindern, dass diese Einrichtung torpediert werden könnte.(14) Um diesem Projekt Nachdruck zu verleihen, hat die Bundesrepublik Deutschland inzwischen ein Gesetz verabschiedet, das den Kauf von Anteilen an deutschen Schlüsselindustrien im Rüstungsbereich durch ausländische Firmen verhindern soll.

Dabei darf zu Recht gefragt werden, was denn da noch verhindert werden soll: Zum einen sind und bleiben die finanziellen Möglichkeiten und die technologischen Fähigkeiten der Europäer eingeschränkt. Zum anderen halten die USA diese Distanz aufrecht, indem sie sich weigern, den Europäern modernste Waffensysteme zu verkaufen. Entscheidend sind jedoch die bereits bestehenden Kapitalbeteiligungen US-amerikanischer Firmen an europäischen Schlüsselindustrien im Rüstungsbereich. Betrachtet man die bereits erfolgten Übernahmen oder Mehrheitsbeteiligungen von US-Konzernen,(15) so bleibt es mehr als fraglich, ob die geplanten staatlichen Maßnahmen zur Schaffung einer europäischen Entwicklungs- und Beschaffungsagentur und zur Verhinderung des Aufkaufs europäischer Rüstungsbetriebe nicht erheblich zu spät kommen.

Ungeachtet dieser Frage ist jedoch der politische Wille dieses EU-Europas unübersehbar, neben den USA eigene militärische Strukturen zu schaffen, die unabhängiges Handeln "auf gleicher Augenhöhe" ermöglichen. Deutlich wird dies auch, wenn der deutsche Außenminister Fischer von Multilateralismus spricht und im Klartext feststellt, dass das "transatlantische Bündnis neu evaluiert werden (muss)" und dass es zwischen NATO und EU "Komplementarität, keine Konkurrenz geben muss."(16) Nicht Multi-, sondern Bilateralismus ist hier gemeint. Die angestrebte Komplementarität setzt aber die Gleichberechtigung beider Partner und ihre wechselseitige prinzipielle Unabhängigkeit voraus. Anders ausgedrückt: Wenn die USA den Konsens mit ihren Alliierten verlassen oder ihn nicht mehr suchen, werden diese sich der Politik Washingtons nicht mehr unterwerfen - wie dies erstmals seitens Frankereichs und Deutschlands im Falle des geplanten Angriffskrieges der USA gegen den Irak demonstriert wurde.

5. Die europäisch-amerikanischen Rivalitäten.

Trotz aller Beschwörungsversuche, trotz der Entwicklung neuer Doktrinen, trotz der Beanspruchung weltweiter Zuständigkeit (NATO-Gipfel 1999) scheint die NATO noch immer auf der Suche nach einer neuen, von allen Mitgliedern gemeinsam getragenen Aufgabe. Mit dem Ende des bipolaren Zeitalters hatte sie ihre zentrale Aufgabe verloren. Der nukleare Schild gegenüber der vermeintlichen oder realen Bedrohung durch die UdSSR verlor seine Funktion, Westeuropa war nicht weiterhin das strategische glacis der westlichen Supermacht, die ohnehin vorhandenen politischen Emanzipationstendenzen der Wirtschaftsmacht Europa konnten sich freier entfalten, sei es in der Wiederbelebung der Westeuropäischen Union (WEU), die bereits 1983 begann,(17) im Artikel J des Maastrichter Vertrages, in der Formulierung der Petersbergaufgaben,(18) in der Überführung der WEU in die EU fortgesetzt wurde und wirtschaftlich in die bisher größte Herausforderung an die USA, die Einführung des Euro mündete, der mit dem Anspruch einher kommt, eine zweite, neben dem US-Dollar gleichberechtigte Weltwährung zu werden. Die möglichen Folgen für Weltwirtschaft und Weltpolitik hat Elmar Altvater jüngst herausgearbeitet.(19) Bedenkt man, dass die USA aus dem arabischen Raum knapp 15%, Europa aber 40% und Japan70% ihrer Ölimporte beziehen,(20) dann lässt sich unschwer folgern, dass diese militärische Sicherung des vorderasiatischen Raumes den USA die Kontrolle über jene Energieressourcen sichert, die die beiden anderen Pole der Triade existentiell benötigen. Wer die Erdölpreise kontrolliert, bestimmt schließlich die Preise der Fertigwaren auf dem Weltmarkt. Die USA zielen mit ihrer Politik des "Greater Middle East" auf die Zerschlagung der OPEC und sichern so militärisch ihre ökonomische Vormachtstellung gegenüber seinen wichtigsten ökonomischen Konkurrenten. Vor diesem Hintergrund wird das Verhalten Frankreichs und Deutschlands im Sicherheitsrat als interessengeleitet, nicht aus der Sorge um das Völkerrecht verständlich, ebenso wie der Verweis auf die nötigenfalls auch militärische Sicherung von Rohstoffquellen in den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesrepublik Deutschland oder der in der europäischen Sicherheitsdoktrin formulierte Anspruch auf präventive Intervention.

Trotz eher bescheidener militärischer Fähigkeiten, die allerdings gerade durch die Schaffung des "Amts für Rüstung" und die einschlägigen Bestimmungen der Verfassung entscheidend verbessert werden sollen, haben die Staaten der EU und die EU selbst in den letzten Jahren greifbare Erfolge in der Ausweitung ihrer militärischen Kompetenzen und Auslandspräsenz erzielt. EU-Eurropa ist also schon längst nicht mehr jene soft power, für die sie allgemein gehalten wird.(21) Dies demonstrieren die "friedenserhaltenden Maßnahmen" der EU in Mazedonien und Bosnien, aber auch die Beteiligung von Staaten der EU am NATO-Krieg gegen Jugoslawien, im UN-Protektorat Kosovo und an der ISAF in Afghanistan. Ein entscheidender, wenn auch in der Form eher symbolischer Durchbruch war die Operation Artemis im Kongo (Ende 2003), wo die EU erstmals unter eigenem Oberkommando operierte. Die Präsenz europäischer Truppen im Ausland hat sich insgesamt während der letzten fünf Jahre verdoppelt.(22)

Die Reaktion der USA auf die Einrichtung eines gemeinsamen und von der NATO unabhängigen Oberkommandos war scharf, bereits vor der Schaffung dieses fait accompli: Der US-NATO-Botschafter Burns sprach von einer "ernsthaften Bedrohung" der Allianz,(23) und US-Außenminister Powell erklärte: "Wir benötigen keine weiteren Generalstäbe, wir brauchen mehr Fähigkeiten und die Stärkung der vorhandenen Strukturen und Kräfte ..."(24) Der Dissens könnte kaum größer sein: Setzen die Europäer - bzw. innerhalb Europas die treibende deutsch-französische Achse - ihr Konzept in politische und militärische Wirklichkeit um (einschließlich der Schaffung der hierfür notwendigen Kapazitäten), so zielt dies letztlich auf das Ende der militärischen Dominanz der USA und damit auf eine erhebliche Reduzierung ihres politischen Einflusses in Europa. Auf dem NATO-Gipfel in Istanbul am 28. und 29. Juni 2004 wurde zwar einer Reihe konkreter Beschlüsse gefasst, insbesondere bezüglich der wiederum unterstrichenen weltweiten Interventionskompetenz.(25) Erst die Umsetzung der Beschlüsse wird zeigen, wie tragfähig der Konsens ist oder ob die Interessengegensätze hinter Einvernehmensfloskeln versteckt wurden. Auf Letzteres lassen die verbalen Attacken des französischen Staatspräsidenten Chirac auf seinen amerikanischen Amtskollegen schließen.(26)

Die latenten Konflikte zwischen den USA und einem Teil "Kerneuropas" zeigten sich während der US-amerikanischen Vorbereitungen zum Krieg gegen den Irak. Sichtbar werden sie in folgenden Bereichen:
  • NATO-Osterweiterung / EU-Osterweiterung: Kaum eröffnete die NATO einer Reihe ehemaliger Mitgliedstaaten der Warschauer Vertragsorganisation die Möglichkeit des Beitritts, wurden sie auch in die EU aufgenommen. Außerhalb der EU stehen derzeit nur noch die alten NATO-Partner Norwegen und Türkei und das Neu-Mitglied Bulgarien. Dies heißt nichts Anderes als dass die Mitgliedschaft in einer Organisation nahezu automatisch die Mitgliedschaft in der anderen nach sich zieht, da keiner der Protagonisten - USA und EU - einen Staat aus dem ehemaligen Machtbereich der Sowjetunion unter den ausschließlichen Einfluss des Anderen kommen lassen will.
  • Nachdem die EU im November 1995 den so genannten Barcelona-Prozess gestartet hatte,(27) der das Ziel der Bildung einer an die EU angegliederten Freihandelszone verfolgt, und sämtliche Mittelmeeranrainer einschließlich Israels und der Palästinensischen Autonomie-Behörde und dazu noch Mauretanien und Jordanien umfasst, begann die NATO den so genannten Mittelmeer-Dialog mit Israel, Jordanien, Ägypten, Algerien und Tunesien, der - im Gegensatz zu den primär wirtschaftlichen Zielsetzungen der EU - Sicherheitsaspekte in den Vordergrund stellt. Ebenfalls plant die NATO die Intensivierung ihrer Beziehungen zum Golf-Kooperationsrat, die umso wichtiger erscheinen, als Saudi-Arabien immer unsicherer und unzuverlässiger erscheint. Der Aufmarsch gegen den Irak musste daher vom Emirat Katar aus erfolgen.
Die Motivationen sowohl der Neumitglieder der EU wie der Mittelmeeranrainer sind gespalten: Die EU wird als wirtschaftliche (und soziale?) in einem politischen Einigungsprozess befindliche Organisation mit entsprechenden Anreizen verstanden, die NATO dagegen als das was sie ist: Ein Militärbündnis. Ihm gegenüber haben die Staaten der ehemaligen WVO aufgrund historisch bedingter Wahrnehmungen die Erwartung, vor möglichen russischen Dominanz-Ansprüchen geschützt zu werden. Dies erklärt die bereitwillige wenn auch meist symbolische Gefolgschaft zur Beteiligung an der Koalition der Willigen im Irak-Krieg. "Sicherheitsgewährung" im klassischen Sinne wird also nur von der NATO bzw. von deren Vormacht USA erwartet. Deren Kompetenz abzulösen, wird der EU nicht gelingen. Im Gegenteil: Durch Imitation der NATO und die militärische Integration der neuen Mitgliedstaaten im Osten entsteht für Russland ein neues Sicherheitsdilemma, das durch die Doppelmitgliedschaften in EU und NATO nur verschärft wird. Gerade im Verhältnis zu Russland hätte die EU konstruktive und stabilisierende Handlungsspielräume, wenn sie mit einer zivilen statt mit einer militarisierten Außen- und Sicherheitspolitik zur NATO auf Distanz ginge.

Durchaus ähnlich verhält es sich im Falle der Südanrainer des Mittelmeers: Sowohl Israel wie die arabischen Mitglieder des "Dialogs" versprechen sich von privilegierten Beziehungen zur NATO politische Rückversicherungen in Form von Bestandsgarantien ihrer Territorialität, im Falle der arabischen Regime auch eine Stütze ihrer undemokratisch-autoritären Herrschaft. Gerade für diese Regime kam der 11. September 2001 wie ein Geschenk des Himmels: Der "Krieg gegen den Terrorismus" eröffnete ihnen die Möglichkeit noch brutaler gegen jede Art von Opposition im eigenen Lande vorzugehen und sich - so zumindest Marokko, Algerien, Ägypten und Jordanien - als Subunternehmer für die USA anzubieten, da sie über "effektivere Verhörmethoden" verfügen als jene, die die USA in Guantánamo, Abu Ghraib, Bagram, auf Diego Garcia oder eigens dazu eingerichteten Kriegsschiffen verfügen.(28) Algerien scheint derzeit in engen Verhandlungen über eine Art Assoziierungsabkommen mit der NATO zu stehen.(29)

Statt den Barcelona-Prozess aus Rücksicht auf die USA und deren Unterstützung für Israel im Nahost-Konflikt stagnieren zu lassen, könnte die EU gerade das Projekt der mediterranen Freihandelszone in Richtung auf eine Friedenszone ausbauen: Der demonstrative Verzicht Libyens auf Massenvernichtungsmittel böte hierzu eine hervorragende Gelegenheit, zumal auch die Ökonomien der übrigen Länder sich immer weniger die Rüstungslasten leisten können. Eine solche Politik ist allerdings nur möglich um den Preis einer konsequenten Umsetzung des verbal immer wieder proklamierten Menschenrechtsdiskurses. Die Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie im Nahen Osten ist die erste und wichtigste Voraussetzung, um eine tatsächliche ökonomische und soziale Entwicklung in Gang zu setzen.(30) Beide zusammen sind die einzig mögliche und langfristig wirksame Politik gegen den immer wieder beschworenen Terrorismus. Auch hier geriete eine solche Politik in Konflikt mit den Interessen der USA, die ihren Einfluss auf die Region der - militärischen und polizeilichen - Stabilisierung der dortigen verkrusteten, korrupten und repressiven Regime verdanken.

Diese Situation stellt die EU vor ein Dilemma: Nicht nur ist fast die Gesamtheit der alten EU-Staaten in der NATO, auch die Neumitglieder traten dem Militärbündnis bei. Sie setzen aufgrund ihrer Sicherheitswahrnehmungen vor allem auf die US-geführte NATO, aus der sich zu befreien umso unmöglicher sein dürfte, als sie sich bei den USA hoch verschuldet haben, um ihre Armeen NATO-kompatibel zu machen. Die Förderung des Beitritts der osteuropäischen Staaten zur EU durch die USA ist keineswegs, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, paradox: Nicht nur ist dieser Betritt für die (bisherige) EU ökonomisch eine schwere Belastung, mittels dieser Staaten erhöhen die USA auch ihren Einfluss innerhalb der EU.(31) Genau diese Strategie erklärt das Drängen des George W. Bush auf die Aufnahme der Türkei in die EU auf dem NATO-Gipfel in Istanbul im Juni 2004.

Die bestehenden Rivalitäten erscheinen so weniger als Konflikt zwischen den USA und der von ihnen geführten NATO einerseits und der EU andrerseits denn als die Rivalität zwischen den USA und der Achse Berlin-Paris: Paris glaubt, mit der Unterstützung Deutschlands seine alten gaullistischen Träume von der Rückkehr in eine Großmachtrolle verwirklichen zu können, Deutschland dagegen geht es primär darum, sich der militärischen Fesseln des Grundgesetzes und des 2 + 4 - Vertrags zu entledigen: Wenn denn endlich die EU-Verfassung über den Verfassungen der Einzelstaaten steht, könnten diese restriktiven Bestimmungen obsolet werden. Und über die vorgesehenen Militärstrukturen könnte Deutschland schließlich eine Mitverfügung über die französischen Atomwaffen erhalten. Jedoch: Jenseits der Möglichkeiten der Einflussnahme der USA über die "neuen" Europäer des Donald Rumsfeld stellen das Prinzip der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, vor allem aber die in der Verfassung vorgesehenen "Koalitionen der Willigen" für Militäreinsätze letztlich Sprengsätze dar, die nicht nur die Verwirklichung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verhindern, sondern auch den Zusammenhalt der Union ernsthaft gefährden können.

6. Zivilmächtige Handlungsmöglichkeiten

Es ist auf den ersten Blick schwer verständlich, weshalb die EU sich auf eine militärische Rivalität mit den USA einzulassen scheint, in der sie ohnehin niemals die "gleiche Augenhöhe" erreichen wird. In der hier geführten Argumentation geht es nicht darum, die militärischen Defizite zur pazifistische Tugenden zu erklären, etwa nach dem Motto: Da die gleiche Augenhöhe mit den USA nicht zu erreichen ist, verzichten wir (die EU) auf weitere Militarisierung. Vielmehr geht es darum, das Zivilmachtkonzept zur Grundlage der Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu machen und die Glaubwürdigkeit einer Politik zu erhalten, für die die Wahrnehmung der EU bisher weltweit steht und die ihrer eigenen Geschichte als wirtschaftliche und Verhandlungsmacht entspricht.(32) Die Notwendigkeit einer solchen Politik ergibt sich außerdem aus der Tatsache, dass militärische Gewalt bestenfalls offene Konflikte niederzuhalten vermag, keineswegs aber politische Lösungen bewirken kann, wie dies die Beispiele Bosnien, Kosovo und Mazedonien demonstrieren, Schlimmstenfalls bewirkt sie, wie in Afghanistan und Irak, die Eskalation von Gewalt, den Zerfall von Staatlichkeit und die Diskreditierung der humanitären Hilfe. Kernelemente einer auf Zivilmachtkompetenz setzenden Politik wären:
  • Endlich in den Vereinten Nationen das politische (und moralische) Gewicht einzubringen und mit einer Stimme sprechen, was bisher noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen ist. Immerhin verfügt die EU über zwei Ständige Sitze im UN-Sicherheitsrat. Mit 25 Mitgliedern stellt sie einen großen und potenten Block in der UN-Vollversammlung.
  • Anstatt in der Europäischen Sicherheitsstrategie vage davon zu sprechen, dass "die Charta der Vereinten Nationen den grundlegenden Rahmen für die internationalen Beziehungen bildet", könnte die EU einen entscheidenden Schritt zur Stärkung der Effizienz des UN-Systems vollziehen, indem sie auf die Bildung eines Generalstabs beim UN-Sicherheitsrat drängt und diesem (Teile ihrer) Truppen unterstellt, anstatt, wie in der ESS formuliert, autonomes, auch präventives Handeln für sich in Anspruch zu nehmen, das, sofern es sich um militärische Aktionen handelt, klar gegen den Kern der UN-Charta, das Verbot des Angriffskrieges, verstößt.
  • Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des "Quartetts", den UN und Russland, im Nahostkonflikt politisch jene Eigenständigkeit gegenüber den USA zu zeigen, die die EU mit der Militarisierung versucht, in ihrem politischen Agieren jedoch vermeidet. Solche Politik könnte tatsächlich den Fahrplan der "Roadmap" und eine Lösung im Sinne der Schaffung eines palästinensischen Staates voranbringenden und den immer wieder proklamierten Prinzipien der EU zu Glaubwürdigkeit verhelfen.
  • Auf der Grundlage der von den Generalsekretären der UN entwickelten Agenden für Frieden und Entwicklung könnte gerade die EU andere - zivilmächtige - Strategien entwickeln, die eine friedensorientierte Außenpolitik Realität werden lassen könnten. Diese wäre zugleich eine nachhaltigere Sicherheitspolitik als sie über das Militär als Bedrohungsinstrument erreichbar ist.
  • Eine im Umfang zu steigernde, als Konfliktprävention im Sinne des Abbaus struktureller Gewaltverhältnisse verstandene Entwicklungspolitik müsste Grundlage einer solchen als Friedenspolitik gedachten Außenpolitik sein.
  • Eine auf die Durchsetzung der (auch materiellen) Menschenrechte und der Demokratie orientierte Politik, wie sie bereits in der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte festgeschrieben ist,(33) wäre - ganz im Sinne der in der ESS beschworenen Probleme der Weltgesellschaft - ein effektiveres Mittel im Kampf gegen den immer wieder beschworenen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln als die willkürliche und völkerrechtswidrige Anwendung von Gewalt dort, wo kurzfristige Interessen dies zu gebieten scheinen.(34)
  • Die Umsetzung einer solchen Strategie in konkrete Politik und ihre sichtbaren Erfolge könnten schließlich einen zivilisierenden Einfluss auch auf die US-Außenpolitik haben,(35) da diese wahrscheinlich nach einem Machtverlust der Neo-Konservativen nicht für immer als der internationale Akteur erscheinen wollen, der nur mit brutaler Gewalt seine Politikziele verfolgt.
Dies würde voraussetzen, dass die in der Präambel der Verfassung beschworenen Ziele, die lyrischen Erklärungen der Kommission, der Menschenrechtsdiskurs der EU etc. etc. ernst genommen und zu Axiomen der Politik gemacht werden. Es geht also keineswegs um die Realisierung weltfremder Utopien, sondern um die Glaubwürdigkeit des Selbstverständnisses der Union und der von ihr erklärten Politikziele. Eine an den von ihr proklamierten Werten orientierte Politik würde auch den Zusammenhalt der Union stärken und demonstrieren, dass eine auf dem Konzept der Zivilmacht fußende Politik erfolgreicher und nachhaltiger zur Lösung von Konflikten beiträgt als gewaltförmige Intervention. Die Glaubwürdigkeit solcher Politik setzt aber den Verzicht auf den militärischen big stick voraus.

Mittlerweile aber erscheint das Konzept von der Zivilmacht eher als Traum, die Weichen in Richtung der Rückkehr zur alten Schablone des Krieges als Mittel der Politik gestellt. Denn auch ohne gültige Verfassung sind die ESS und das Amt für Rüstung beschlossen, der Präzedenzfall Oberkommando erfolgreich geschaffen und dem Agieren des Ministerrats in Sachen GASP ohne parlamentarische Kontrolle per Beschluss der Regierungskonferenz vom 18. Juni 2004 Tür und Tor geöffnet. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass die Evidenz ins Bewusstsein rückt, dass mit militärischen Mitteln weder auf dem Balkan noch in Afghanistan, im Kongo oder anderswo eine funktionierende zivile Infrastruktur aufgebaut werden kann und dass die dringend fällige öffentliche Debatte über eine Europäische Verfassung das Zivilmacht-Konzept nochmals auf die Tagesordnung zu bringen vermag. Zu solchen Einsichten mögen auch die schlimmen Erfahrungen aus dem Krieg gegen den Irak beitragen, die gleichfalls lehren, dass "militärische Gewalt und politische Gestaltungsfähigkeit zweierlei (sind)."(36)

Fußnoten
  1. Dieser Beitrag fußt auf Überlegungen, die bereits früher zum Thema "Zivilmacht Europa" entwickelt wurden: Ruf, Werner: Europa auf dem Weg zur konstitutionellen Militärnacht? In: Gießmann, Hans J./Tudyka, Kurt: Dem Frieden dienen. Zum Gedenken an Prof. Dr. Dr. Dieter Lutz, Baden-Baden 2004, s. 66 - 81. Ders.: Schluss mit der Zivilmacht. Europe goes military. In: ÖSFK (Hrsg.): Pax Americana und Pax Europaea. Konsens oder Konflikt um eine neue Weltordnungskonzeption. Münster 2004, S. 11 - 24.
  2. The Laeken Declaration on the Future of the Euroean Union. In: Institute of Security Studies: Chaillot Paper Nr. 51, From Nice to Laeken. European Defence: Core Documents. Paris 2002, S. 113f. Aus dem Englischen W.R.
  3. Derrida/Jacques/Habermas, Jürgen : Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: die Wiedergeburt Europas; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 31. Mai 2003.
  4. Der hier verwendete Text ist die konsolidierte Fassung des Verfassungsentwurfs (CIG 50/03), der am 18. Juni 2004 von der Regierungskonferenz gebilligt wurde (CIG 86/04 vom 25. Juni 2004).*
  5. http://www.iss-eu.org
  6. Senghaas, Dieter: Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz. Frankfurt 1994. Menzel, Ulrich (Hrsg.): Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen. Dieter Senghaas zum 60. Geburtstag. Frankfurt/Main 2000.
  7. So u. A. in: Senghaas, Dieter: Europa 2000. Ein Friedensplan. Frankfurt/Main 1991; ders. Friedensprojekt Europa. Frankfurt/Main 1992.
  8. Ruf, Werner: Wir und die Anderen: Demokratischer Anspruch und hegemoniale Arroganz; in: Schweitzer/Aust/Schlotter (Hrsg.): Demokratien im Krieg. AFK-Friedensschriften Bd. 31, Baden-Baden 2004, S. 127 - 144. Aufschlussreich ist hierzu die lange Erklärung, die Ayman al-Zawahiri, allgemein als die Nr. 2 des Netzwerks al-Qaida bezeichnet, zum 2. Jahrestag des 11. September 2001 abgegeben hat. Umrahmt von religiösen Floskeln finden sich dort die alten anti-imperialistischen Forderungen nach politischer und ökonomischer Unabhängigkeit der muslimischen Welt und auf Verzicht der Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieser Länder und die Ausbeutung Ihrer Ressourcen durch den Westen, allen voran die USA. S. Al-Zawahiri, Ayman: Erklärung zum 2. Jahrestag des 11. September 2001: http://www.freace.de/artikel/sep2003/binladen140903.html, zuletzt abgerufen 19.07.2004.
  9. Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer. Wortmeldungen im dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. .Konstanz 1998, S. 58.
  10. Wehr, Andreas: Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln 2004, insbes. S. 116 - 131.
  11. Bourdieu a. a. O., S. 42.
  12. So die Argumentation von Rilling, Rainer: Breakout. Let's take over. American Empire als Wille und Vorstellung; in: Berndt, Michael / El Masry, Ingrid (Hrsg.): Konflikt, Entwicklung, Frieden. Emanzipatorische Perspektiven in einer zerrissenen Welt. Festschrift für Werner Ruf, Kassel 2003, S. 272 - 293. Zu durchaus ähnlichen Schlussfolgerungen kommt Paech, wenn er aus völkerrechtlicher Perspektive die "Globalisierung" der Monroe-Doktrin durch die Bush-Administration beschreibt: Paech, Norman: Imperialismus und Völkerrecht; in: Albrecht/Goldschmidt/Stuby (Hrsg.): Die Welt zwischen Recht und Gewalt, Hamburg, 2003, S. 126 - 138.
  13. Schmitt, Burkhard: The European Union and armaments. Getting a bigger bang for the Euro. Chaillot-Paper Nr. 63, Paris, Aug. 2003, S. 40.v Schmitt a.a.O. S. 61.
  14. So ist die österreichische Rüstungsfirma Steyr bereits in den Einflussbereich von General Dynamics geraten, der britische Ausrüster Lucas Varity gehört mehrheitlich dem US-Konzern TRW, der Schweizer Konzern Mowag ist seit 1999 unter der Kontrolle von General Motors. General Dynamics hat 2000 die spanische Rüstungsfirma Santa Barbara gekauft, die unter Lizenz den deutschen Leopard-Panzer baut. Saab hat seine Bofors Weapons Systems AB an die amerikanische Firma United Defense, eine Filiale von Carlyle verkauft. Im weltweiten Konkurrenzkampf der Waffenproduktion und des Exports hat die führende französische Rüstungsfirma GIAT Industries 14.000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Krauss-Maffei-Wegmann (KMW) gehört zu 49% Siemens, die sich gerade darum bemüht, ihren Anteil zu verkaufen - daher möglicherweise die Eile des bundesdeutschen Gesetzgebers, solchen Verkäufen ins transatlantische Ausland einen Riegel vorzuschieben. Die Übernahme des (Kriegs-)Schiffbauers Howald-Deutsche Werft (HDW) durch die US-Firma One Equity Partner konnte in letzter Minute verhindert werden. Die italienische Firma FiatAvio ist zu 70% im Besitz der amerikanischen Finanzgruppe Carlyle und versucht derzeit die deutsche Rüstungsfirma MTU zu übernehmen, die Daimler Chrysler abzustoßen versucht. Wie unter diesen Bedingungen das "Amt" eine genuine europäische Rüstung schaffen soll, die außerdem der US-amerikanischen ebenbürtig sein soll, bleibt rätselhaft. Angaben entnommen aus: Hébert, Jean Paul: La stratégie américaine de contournement industriel; in: Le débat stratégique Nr. 70, Oct./Nov. 2003, S. 8. Eine zentrale Rolle spielt in dieser auf Konzentration in Händen von US-Konzernen angelegten Strategie die Carlyle Group, eine private Investment-Firma, deren Anteile (bisher) nicht an der Börse gehandelt werden. Wichtige Positionen in dieser Firma halten: der ehemalige US-Präsident George Bush, der ehemalige Verteidigungsminister Frank Carlucci, der frühere britische Premierminister John Major. Die Bin-Laden-Familie hat ihre Anteile an der Holding im Oktober 2001 liquidiert. S. dazu ausführlicher: Ruf, Werner: Private Militärische Unternehmen; in: Ders. (Hrsg.) Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg, Opladen 2003, S. 76 - 90. Dort vor allem Teil V des Anhangs, S. 340 - 345.
  15. Fischer, Joschka: Rede an der Princeton University, Frankfurter Rundschau, 2. Dezember 2003, Dokumentation S. 8.
  16. Ausführlicher hierzu: Ruf, Werner: Schluss mit der Zivilmacht … a. a. O
  17. ebenda.
  18. Altvater, Elmar. Von der Währungskonkurrenz zum Währungskrieg: Was passiert, wenn der Ölpreis nicht mehr in US-Dollar fakturiert wird? In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Schurkenstaat und Staatsterrorismus. Die Konturen einer militärischen Globalisierung. Münster 2004, S. 178 - 194. [vgl. auch Altvater: Die Währung des schwarzen Goldes]
  19. Vgl. Ruf, Werner: Pax Americana - eine neue Weltordnung? In: Sack, Detlef/Steffens, Gerd (Hrsg.): Gewalt statt Anerkennung? Aspekte des 11. 9. 2001 und seiner Folgen. Frankfurt/Main 2003, S. 97 - 112, hier S. 109f.
  20. Giegerich, Bastian / Wallace, William: Not Such a Soft Power: The External Deployment of European Forces; in. Survival Bd. 46, Nr. 2/2004, S. 163 - 182.
  21. Ebenda.
  22. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Oktober 2003, S. 6.
  23. Zit. n. Brigot a.a.O.
  24. http://usinfo.state.gov , zuletzt abgerufen 02. 07. 2004.
  25. Der Standard 30. Juni 2004.
  26. In einer gewissen Analogie zum Helsinki-Prozess umfasste die Deklaration von Barcelona (November 1995) drei Körbe: I. Politische und Sicherheitspartnerschaft, II. Wirtschafts- und Finanzpartnerschaft, III. Partnerschaft im kulturellen, sozialen und menschlichen Bereich. Ausführlicher und die Widersprüche benennend: Jünemann, Annette:Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union; in: Frankreich Jahrbuch 1977, Opladen 1977, S. 93 - 115. Zur Kritik der sicherheitspolitischen Dimension der Erklärung von Barcelona: Ruf, Werner: Möglichkeiten einer konstruktiven Sicherheitspolitik zwischen Europa und dem Maghreb; in: a. a. O. S. 117 - 134. Die Ziele der EU-Politik im Mittelmeerraum wurden aktualisiert zusammengefasst in: Common Strategy of the European Council of 19 June 2000 on the Mediterranean Region (2000/458/CSFP) Official Journal of the European Communities, 22.7.2000, L 183/5 - 10.
  27. S. dazu: Monitor Nr. 519, 3. Juni 2004: Kampf gegen den Terror: Wie die USA in Syrien foltern lassen. Bericht: Georg Restle und Petra Ensminger.
  28. Ruf, Werner: Algier - Washington: Eine Beziehung der besonderen Art; in: INAMO Nr. 35, Jahrgang 9, 2003, S. 19 - 22.
  29. United Nations Development Programme/Arab fund for Social and Economic Development: The Arab Human Development Report 2002. Creating opportunities for future generations; New York 2002 (www.undp.org/rbas/ahdr/), zuletzt abgerufen 02 .07. 2004
  30. Ähnlich argumentiert Wallerstein, Immanuel: The U.S. and Europe, 1945 to Today, in: Rivista del Manifesto, Juni 2004. dt. Übersetzung: Die USA und Europa, zuletzt abgerufen 20. 07. 2004.
  31. Vgl. auch Hauswedell, Corinna/Wulf, Herbert: Die EU als Friedensmacht? In: Friedensgutachten 2004, Münster 2004, S. 12 2 - 130.
  32. European Initiative for Democracy and Human Rights Programming Document 2002-2004
  33. Commission staff working document.
  34. Ausführlich zu dieser Argumentation s. Ruf, Werner: Amerikanischer Unilateralismus und europäische Unfähigkeit? Grenzen und Chancen einer zivilen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik; in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Europa Macht Frieden, Münster 2003, S. 130 - 143.
  35. In diesem Sinne argumentiert Hoffmann, Stanley: Clash of Globalizations; in: Foreign Affairs, Nr. 4 (Juli-August) 2002, S. 104 -115.
  36. Friedensgutachten 2004, S. 13.

* Danach gab die EU eine weitere "konsolidierte" Fassung heraus, und zwar am 6. August. Hierbei ergaben sich noch zahlreiche Änderungen, u.a. änderte sich die Platzierung und Nummerierung vieler Artikel. So wurde etwa aus dem zentralen Art. I-40 nun der Art. I-41. Aus Art. III-210 wurde III-309! Die im August konsolidierte Fassung ist auf der Homepage der AG Friedensforschung dokumentiert: EU-Verfassung (pdf-Version, August 2004)


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