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"Ein Krieg gegen Iran würde das Debakel der Irak-Invasion noch in den Schatten stellen"

Die fünf großen Friedensforschungsinstitute stellen ihr "FRIEDENSGUTACHTEN 2006" vor - Presseerklärung der Herausgeber

Das Friedensgutachten 2006 wurde am 31. Mai 2006 der stellvertretenden Bundestagspräsidentin, Frau Dr. Susanne Kastner, überreicht und dem Auswärtigen Ausschuss, dem Verteidigungsausschuss, sowie dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Gesprächen vorgestellt. Am 1. Juni wurde es in der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert.
Im Folgenden dokumentieren wir die Pressemitteilung der herausgebenden Forschungsinstitute.
Die gemeinsame Stellungnahme, die dem Friedensgutachten vorangestellt ist, können Sie hier als pdf-Datei herunter laden:
Stellungnahme: Zur gegenwärtigen Situation: Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen



Vorstellung des Friedensgutachtens 2006 am 1. Juni 2006 vor der Bundespressekonferenz in Berlin

Wir möchten Sie bekannt machen mit dem Jahresgutachten 2006 der wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik. Es ist das zwanzigste Friedensgutachten.

Eines der Probleme, mit dem es sich zu befassen hat – vielleicht das ernsteste – versetzt uns geradewegs zurück in die achtziger Jahre und in die Ära des Kalten Krieges: Nukleare Abschreckung und Atomkriegsszenarien kehren in die Politikplanung zurück, eine Gefahr, der sich die Öffentlichkeit nicht hinreichend bewusst ist.

Da sind zunächst die Ambitionen Irans. Manche Analyse erweckt den Eindruck, es gäbe letztlich nur zwei Lösungen: entweder sich mit einem Kernwaffenstaat am Persischen Golf abfinden oder diese Möglichkeit militärisch verhindern. Wir halten beides für inakzeptabel. Eine Atommacht Iran könnte benachbarte Staaten zur Nachahmung verleiten, mit den Drohungen gegen Israel Ernst machen und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen Tür und Tor öffnen. Hingegen würde ein Krieg gegen Iran das Debakel der Irak-Invasion an politischer Sprengkraft noch in den Schatten stellen.

Welche Chancen hat eine diplomatische Lösung? Die zivile Nutzung von Kernenergie ließe sich Teheran nur unter Bruch des Völkerrechts verwehren. Um den militärischen Missbrauch auszuschließen, gibt es diverse technische Vorkehrungen. Alle erfordern jedoch die Kooperationsbereitschaft der iranischen Führung. Die Frage ist, welchen politischen Preis sie dafür verlangt. Fest steht, dass es keine europäischen, sondern amerikanische Gegenleistungen sind, die sie erwartet. Teheran kennt seinen Platz auf der „Achse des Bösen“. Was das bedeuten kann, illustriert das Beispiel Irak. Ehe sich nicht iranische und amerikanische Unterhändler der Sache direkt annehmen, stehen die Aussichten für eine friedliche Beilegung des Atomkonflikts schlecht.

Viele Vorwürfe an die amerikanische Administration – und das ist die Kehrseite des Nuklearproblems – treffen leider zu. Washington beansprucht für sich, Kernwaffen nicht nur zu besitzen und weiterzuentwickeln, sondern gegebenenfalls zu nutzen, politisch als Droh- und Abschreckungsinstrument, operativ als Einsatzmittel. Sie sind integraler Bestandteil der amtlichen Militärstrategie.

Hier werden auch europäische und deutsche Sicherheitsbelange berührt. Ebenso entschieden wie sie sich für eine Verständigungslösung mit Iran einsetzt, sollte die Bundesregierung den Atommächten in Erinnerung rufen, dass der Nichtverbreitungsvertrag ihnen Abrüstungspflichten auferlegt. In ihre eigene Zuständigkeit fällt, den Anachronismus taktischer Atomsprengköpfe auf deutschem Territorium zu beenden. Des Weiteren sollte sie darauf bestehen, dass bei NATO-Operationen außerhalb des Bündnisgebiets, an denen die Bundesrepublik teilnimmt, keine Kernwaffen zum Einsatz kommen werden.

Das Titelfoto des Friedensgutachtens will an das Flüchtlingsdrama vor den spanischen Exklaven in Marokko erinnern, dessen Aktualität rund um die Kanarischen Inseln anhält. In zunehmendem Umfang zahlen politisch Verfolgte und ökonomisch Perspektivlose für den Versuch, die Außengrenzen der EU zu überwinden, mit ihrem Leben.

Europa kann nicht allen Einwanderungswilligen umstandslos Einlass gewähren. Aber es kann auch nicht länger die immer perfektere Grenzüberwachung und die zügige Ausweisung illegal Eingereister als gemeinsame Migrationspolitik ausgeben. Der Europa-Afrika-Pakt der EUKommission soll nun wirtschaftliche und Entwicklungszusammenarbeit, Sicherheitspolitik und Migrationskontrolle zu einem kohärenten Konzept verknüpfen. Die Initiative weist einen richtigen Weg, aber vorerst steht sie nur auf dem Papier. Die EU hat sich die Armutsbekämpfung in Afrika als vorrangiges Ziel gesetzt. Auch das begrüßen wir. Aber die Agrar-, Zoll- und Handelspolitik der EU unterminiert dieses Vorhaben, indem sie die afrikanischen Volkswirtschaften schwächt.

Die euro-afrikanische Partnerschaftsrhetorik ist so viel wert wie sie in Notlagen konkrete Resultate zeigt. In der westsudanesischen Provinz Darfur und im benachbarten Tschad vegetieren mehr als zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge vor sich hin, abgeschnitten von ihren Nahrungsquellen und bedroht von marodierender Gewalt. Es fehlt an Personal und Transportmitteln zu ihrer Versorgung, es fehlt an bewaffnetem Schutz für die Vertreibungsopfer und ihre Helfer, und die Kassen des Welternährungsprogramms sind leer.

Das gerade geschlossene Abkommen von Abuja wird erst noch beweisen müssen, ob es das Prädikat eines Friedensvertrags verdient. Immerhin verpflichtet es die Regierung in Khartum und die größte der Rebellenorganisationen auf dieselben Waffenstillstandsbedingungen. Damit hat es die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats einen Schritt zusammengeführt. Die Entlastung der überforderten afrikanischen Schutztruppe durch personelle Verstärkung, Ausrüstungshilfe und logistische Unterstützung muss folgen. Darfur braucht Hilfe, und es braucht sie jetzt: Dieser dramatische Appell UN-Generalsekretär Annans richtet sich auch an die Adresse Europas.

Der Kongo-Krieg war der opferreichste des Kontinents, im Ostteil des Landes dauert er an. Die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sollen die nächste Etappe des politischen Wiederaufbaus einläuten – ein Prozess mit ungewissem Ausgang. Ob er gelingt oder scheitert, wird Wirkungen weit über die Landesgrenzen hinaus entfalten. Die Bundesrepublik hat sich schon auf zweifelhaftere Militärmissionen eingelassen als internationalen Wahlbeobachtern ein sichereres Arbeitsumfeld zu schaffen. Anhänger und Kritiker des deutschen Kongo-Einsatzes streiten auf sehr verschiedenen Ebenen. Ihre Diskussionsbeiträge lassen erkennen, wie schmal die Erfahrungs- und Kenntnisgrundlagen über Erfolgsaussichten externer Krisenintervention noch sind, wie klärungsbedürftig die Kriterien einer angemessenen Mittelwahl und wie disparat die Motive für die anstehende Entscheidung.

Mit ihrem Wunsch, eine breite gesellschaftliche Debatte über die Aufgaben der Bundeswehr zu beginnen, sprechen uns der Bundespräsident und der Verteidigungsminister aus dem Herzen. Das angekündigte Sicherheitsweißbuch der Bundesregierung könnte den Anstoß geben. Was bisher aus dem Verteidigungsministerium dazu verlautete, stimmt eher nachdenklich. Beispiel Verteidigung. Sie sei neu zu definieren, so heißt es. Kaum ein anderer Begriff der politischen Sprache hat einen so eindeutigen Sinngehalt. Verteidigung bedeutet Abwehr eines bewaffneten Angriffs, mehr nicht. Neue Wortschöpfungen wie „ausgreifende“ oder „vorsorgliche Verteidigung“ suggerieren, dass Verteidigung auch ihr Gegenteil, den Angriff, einschließen kann. Angriffskriege sind jedoch verboten, sowohl nach dem Völkerrecht wie nach dem Grundgesetz.

Oder die offenbar erwogene Bindung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr an eine vorherige Prüfung der nationalen Interessenlage. Gewiss hat jede Regierung die Interessen ihres Landes nach außen zu vertreten – mit politischen, diplomatischen, ökonomischen Mitteln. Auch mit militärischen, auch durch Gewaltanwendung? Wenn der Verteidigungsminister davon spricht, Interessen Deutschlands könnten einen Bundeswehreinsatz rechtfertigen, so besteht Anlass zur Sorge, dass das Interessenprinzip schleichend die Bindung an Recht und Gesetz verdrängt.

Da erscheint es kaum zufällig, dass auch das Grundgesetz selbst zur Disposition steht. Weil ein massiver Terroranschlag einem militärischen Angriff gleichkomme, so die Befürworter der Verfassungsänderung, soll die Bundeswehr künftig auch im Inneren eingesetzt werden können. Überzeugend wäre das Argument dann, wenn Streitkräfte mehr oder bessere Fähigkeiten aufwiesen als Polizei und Justiz, um politisch motivierter Schwerkriminalität entgegenzutreten. Das Gegenteil ist der Fall. Ebenso wenig leuchtet ein, warum der Auftrag der Bundeswehr erfordert, die Mitwirkungsrechte des Bundestages an Einsatzentscheidungen zu beschneiden.

Unsere Folgerungen, zu drei Kernempfehlungen zusammengefasst, lauten:

Die Bundesregierung sollte
  1. im Mittleren Osten sich jeder gewaltsamen Lösung des Streits mit Iran widersetzen und den Dialog mit der neuen palästinensischen Regierung aufnehmen,
  2. ihr friedens- und entwicklungspolitisches Engagement, insbesondere in Afrika, ausbauen und sich auf die Instrumente ziviler Krisenprävention konzentrieren,
  3. die Bundeswehr ausschließlich zur Verteidigung und Friedenssicherung einsetzen, die Rechte des Parlaments nicht einschränken und das Grundgesetz unangetastet lassen.
Die Herausgeber:
  • Dr. Reinhard Mutz, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
    Falkenstein 1, 22587 Hamburg, Tel.: 040-866077-0, Fax: 040-8663615; mutz@ifsh.de; http://www.ifsh.de
  • Dr. Bruno Schoch, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)
    Leimenrode 29, 60322 Frankfurt/Main, Tel.: 069-959104-0, Fax: 069-558481; schoch@hsfk.de, http://www.hsfk.de
  • Dr. Corinna Hauswedell, Bonn International Center for Conversion (BICC)
    An der Elisabethkirche 25, 53113 Bonn´, Tel.: 0228-91196-0, Fax: 0228-241215; ch@bicc.de, http://www.bicc.de
  • Dr. Jochen Hippler, Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen (INEF)
    Geibelstr. 41, 47057 Duisburg, Tel.: 0203-379-4450, Fax: 0203-379-4425; post@Jochen-Hippler.de, http://www.inef.de
  • Dr. Ulrich Ratsch, Forschungsstätte der Evangelischen, Studiengemeinschaft (FEST)
    Schmeilweg 5, 69118 Heidelberg, Tel.: 06221-9122-41, Fax: 06221-167257; ulrich.ratsch@fest-heidelberg.de, http://www.fest-heidelberg.de

Friedensgutachten 2006

Das Friedensgutachten 2006 befasst sich mit zentralen Herausforderungen für Frieden und Sicherheit: den Machtasymmetrien im internationalen System, ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit, Zerfallsprozessen in Staaten und Gesellschaften sowie der internationalen Waffen- und Rüstungskonkurrenz. In den meisten Gewaltkonflikten wirken mehrere dieser Faktoren zusammen. Mit veränderten Erklärungs- und Handlungsmustern reagieren Wissenschaft und Politik: der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, der robusten Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten, neuen Einsatzdoktrinen für militärische Mittel. Was leisten die Konzepte, was leisten sie nicht? Wichtige friedenspolitische Reformprojekte haben ihre Erwartungen verfehlt. Die Erneuerung der Vereinten Nationen ist im Ansatz stecken ge- blieben, die ehrgeizigen Millenniumsentwicklungsziele harren der Verwirklichung, die internationale Rüstungskontrolle tritt auf der Stelle, die europäische Integration stagniert. Die Gefahr terroristischer Gewalt und der Griff suspekter Regierungen nach Massenvernichtungswaffen beherrschen die Sicherheitssorgen westlicher Gesellschaften. Wie begründet sind sie? Die EU bemüht sich, die ganze Palette nötiger Strategien und Instrumente zur Krisenbewältigung und Friedenssicherung vorzuhalten. Sind es die richtigen? Zeigen sie Wirkung?

Das Friedensgutachten 2006 ist erschienen im LIT-Verlag, Münster. ISBN: 3-8258-9511-4; 12,90 €

Das Friedensgutachten ist das gemeinsame Jahrbuch der fünf wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Es wird im Auftrag des Bonn International Center for Conversion (BICC), der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und des Instituts für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen (INEF) herausgegeben von Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Jochen Hippler und Ulrich Ratsch..

Rund vierzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen untersuchen die internationale Konfliktrealität aus friedensstrategischer Perspektive. Auf ihre Analysen stützt sich die Stellungnahme der Herausgeber. Sie zieht Bilanz, pointiert die Ergebnisse und formuliert Empfehlungen für die friedens- und sicherheitspolitische Praxis in Deutschland und Europa.



Über vergangene Friedensgutachten liegen folgende Seiten vor:
Friedensgutachten 2005
Friedensgutachten 2004
Friedensgutachten 2003
Friedensgutachten 2002
Friedensgutachten 2001


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