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Sanktionen – nein danke

Ukrainische Rüstungsbetriebe arbeiten trotz Verbots weiter mit Rußland zusammen. Industrieproduktion generell eingebrochen

Von Reinhard Lauterbach *

Im Juni hielten die westlichen Sanktionsbefürworter den Zögerern im eigenen Lager den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko als Beispiel für »politischen Mut« vor. Der hatte per Erlaß alle Zulieferungen ukrainischer Betriebe für den russischen Rüstungssektor mit sofortiger Wirkung verboten. Jetzt stellt sich heraus, daß Poroschenkos Exportstopp von den betroffenen Firmen offenbar in aller Seelenruhe ignoriert wird. Sie haben viel zu verlieren: Es geht um einen Markt von schätzungsweise einer Milliarde US-Dollar und 70 Prozent der Produktion militärischer Güter in der Ukraine.

Vor einigen Tagen berichtete die US-Zeitung Washington Post aus der südukrainischen Industriestadt Saporischschja. Das dort ansässige Unternehmen »Motor-Sitsch« beliefert den Markt in der ehemaligen Sowjet­union mit Hubschraubermotoren. Von arktischen Gasbohrstellen bis zum Militär steckt in praktisch jedem in Rußland fliegenden Hubschrauber ein Antrieb aus der Ukraine. Der Konzern beschäftigt nach eigenen Angaben 27000 Personen. In den ersten Tagen nach Poroschenkos Embargoerlaß hatte die Unternehmensleitung auf Journalistenfragen ausweichend geantwortet: Man habe die Anordnung noch nicht schriftlich vorliegen. Inzwischen stellt sie sich, bildlich gesprochen, auf die Hinterbeine. Egal, was die Politiker in Kiew beschlossen – in Saporischschja gebe es nur eine Partei, die der Arbeitsplätze, erklärte ein Unternehmenssprecher dem US-Reporter. Man werde die bestehenden Verträge weiter bearbeiten.

Die ukrainische Industrie ist schon jetzt schwer getroffen. Dmitri Medwetschuk, ehemals Chef der Präsidialverwaltung und heute russischer Lobbyist im Kiewer Politikbetrieb, warnte kürzlich davor, daß das Land einen Großteil der entsprechenden Kapazitäten verlieren könnte. Er nannte alarmierende Zahlen: Die Waggonproduktion sei auf 23 Prozent des Standes vom 1. Halbjahr 2013 zurückgegangen, der Bau von Landmaschinen auf 46 Prozent, der Fahrzeugbau auf die Hälfte. Der Verband der ukrainischen Autohersteller teilte dieser Tage mit, daß die gesamte Produktion von Kraftfahrzeugen im Juli noch 555 Stück betragen habe. Dazu paßt die Meldung, daß das ebenfalls in Saporischschja angesiedelte Automobilwerk SAS dieser Tage den Betrieb völlig eingestellt hat – angeblich nur vorübergehend. Als Gründe nannte ein Sprecher, die Verarmung der Bevölkerung und der Krieg hätten den Absatz zusammenbrechen lassen, und der Kursverfall der Währung mache den Import von Halbfabrikaten unrentabel. Zumal SAS keine Eigenentwicklungen mehr baut, sondern nur noch in Lizenz fertigt, also auf Zulieferungen angewiesen ist. Hier rächt sich ein Wirtschaftsmodell, das ausschließlich auf den Faktor niedriger Lohnkosten setzt.

Den Kiewer Politikern ist durchaus bewußt, daß Poroschenkos Entscheidung zur Beendigung der Kooperation mit dem russischen Rüstungssektor Arbeitsplätze kosten und Betriebe in den Ruin treiben wird. Dies wird aber aus politischen Gründen in Kauf genommen. Die Frage ist, was an die Stelle der russischen Aufträge treten kann. Im Frühjahr war eine Delegation der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA in Dnipropetrowsk und besuchte das Raketenwerk Piwdenmasch (früher: Juschmasch). Aber mehr als Absichtserklärungen über Zulieferungen in ferner Zukunft kamen bei der Visite nicht heraus. In Dnipropetrowsk ließ über Jahrzehnte die Sowjetarmee ihre Lang- und Mittelstreckenraketen bauen. Inzwischen hat das Unternehmen, einst der Stolz der Stadt, die Löhne gesenkt und Kurzarbeit eingeführt.

Rußland will offiziell schon seit dem Zerfall der Sowjetunion seine Rüstungsindustrie von Zulieferungen aus den ehemaligen Unionsrepubliken unabhängig machen. Jetzt erklären russische Politiker, kurzfristig könne man sich mit Lagerbeständen behelfen, und die Ersetzung ukrainischer Komponenten durch im eigenen Land Produziertes werde nur zwei bis drei Jahre dauern. Das dürfte ehrgeizig gerechnet sein: Hochtechnologieproduktionen lassen sich nicht eben mal so auf die Beine stellen, weder von der technischen, noch von der Personalseite her. Man sieht das auch daran, daß trotz der seit 20 Jahren ausgegebenen Parole der Importsubstitution auf russischer Seite wenig geschehen ist. Das hatte wahrscheinlich auch politische Gründe. Man setzte in Moskau auf die ökonomischen Sachzwänge durch den Erhalt von Tausenden Arbeitsplätzen in der ukrainischen Schwer- und Maschinenbauindustrie. Die würden die Politik Kiews schon auf einem Kurs halten, der zumindest nicht offen antirussisch ist. Diese Kalkulation ist durch den Machtwechsel im Februar gegenstandslos geworden. Einstweilen lockt Rußland Ingenieure und Facharbeiter des ukrainischen Rüstungssektors mit Arbeitsangeboten.

* Aus: junge Welt, Dienstag 26. August 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
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Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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