"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist ein Ukraine-Buch erschienen. Endlich!
Mehr als 2000 Menschen sind laut UNO im Ukraine-Konflikt getötet worden - viele davon gehen auf das Konto der bis dato anhaltenden Angriffe der Streitkräfte und ihrer Milizen gegen Aufständische und Zivilbevölkerung in den östlichen Landesteilen, von der Übergangsregierung in Kiew als "Terroristen" verteufelt, in den Medien hier zu Lande häufig als "prorussische Separatisten" abgestempelt. Der Konflikt ist noch längst nicht ausgestanden, die Gewalt kann weiterhin eskalieren - die sicherheitspolitischen Folgen zeichnen sich aber schon deutlich ab: Die NATO und die EU werden ihre Osterweiterung bis an die Grenzen Russland voran treiben (schon sind mit den nächsten Kandidaten Georgien und Moldawien [Moldau] EU-Assoziierungsverträge abgeschlossen worden) und ihre militärischen Fähigkeiten weiter ausbauen. Es scheint, als habe der globale Wettlauf um die knapper werdenden Ressourcen nun auch in Europa an Fahrt gewonnen.
Der Kölner Papyrossa-Verlag hat nun ein Buch vorgelegt (lieferbar ab dem 20. August 2014), in dem von einer Reihe von ExpertInnen (Historiker, Politikwissenschaftler, Juristen, Journalisten und Publizisten) zahlreiche Aspekte des andauernden Ukraine-Konflikts untersucht werden. Im Folgenden dokumentieren wir das Inhaltsverzeichnis sowie den Einführungsbeitrag des Herausgebers.
Friedensinitiativen und Organisationen können das Buch (ab drei Exemplaren) direkt beim Herausgeber beziehen. Per e-mail:
peter.strutynski@gmx.de.
Ansonsten ist das Buch über den Buchhandel zu bestellen.
Bibliografische Angaben:
Peter Strutynski (Hg.): Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen
PapyRossa: Köln 2014 (Neue Kleine Bibliothek 201), 213 Seiten, 12,90 EUR; ISBN 978-3-89438-556-9
Aus dem Inhalt
Zur Einführung
Die Ukraine und Russland
-
Reinhard Lauterbach
Vom Hoffnungsort zur Räuberhöhle: Aufstieg und Niedergang des Euro-Maidan -
Daniela Dahn
Modell Maidan – illegal aber legitim? Über die Grundlagen politischer Macht -
Willi Gerns
Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland. Aktuelle, geschichtliche und sicherheitspolitische Hintergründe -
Norman Paech
Wem gehört die Krim? Die Krimkrise und das Völkerrecht -
Ulrich Schneider
Ukraine – Faschisten als Teil der Machtausübung -
Kai Ehlers
Globaler Maidan? Liste häufig gestellter Fragen
Die Welt, Europa und Deutschland
-
Erhard Crome
Geopolitisches um die Ukraine -
Jürgen Wagner
Expansion durch Assoziierung: Die Ukraine und EUropas neoliberal-imperiale Erweiterungsstrategie auf dem Weg zur Weltmacht -
Jörg Kronauer
Die widersprüchlichen Imperative der deutschen Ostpolitik -
Lühr Henken
Die Folgen der Ukraine-Krise: Auf- oder Abrüstung?
Die Ukraine, die Medien und die Folgen – Reaktionen
-
Arno Klönne
Wie man Revolution macht -
Eckart Spoo
Medienkrieg gegen Russland -
Uli Gellermann
Ukraine, ARD & ZDF -
Susann Witt-Stahl
Unter falscher Flagge: Wie aus »Antifaschismus« Kriegspropaganda wird
Plus einem Autorinnen- und Autorenverzeichnis sowie der Dokumentation des Aufrufs: "Aus Sorge um den Frieden" (mit 100 ErstunterzeichnerInnen)
Peter Strutynski
100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg: Imperialismus reloaded?
Der Absturz (oder war es ein Abschuss?) eines malaysischen Passagierflugzeugs über ostukrainischem Gebiet am 16. Juli 2014 wird
den Konflikt in der und um die Ukraine aufs Neue entfachen – und
zwar ganz unabhängig von der Frage, wer denn nun die Verantwortung
für dieses schreckliche Ereignis trägt. Für den Westen schien die
Schuldfrage von Anfang an ohnehin geklärt zu sein. In Verlautbarungen
aus dem Weißen Haus und aus dem NATO-Hauptquartier
in Brüssel wurde postwendend Russland verantwortlich gemacht. In
der entsprechenden Erklärung aus Washington hieß es u. a.: »Obwohl
wir noch nicht über alle Fakten verfügen, wissen wir doch, dass
dieser Zwischenfall im Kontext einer Krise in der Ukraine geschah,
die durch die russische Unterstützung für die Separatisten befeuert
wird, was Waffen, Material und Ausbildung einschließt.« (www.whitehouse.
gov, 17.07.2014.) Und NATO-Generalsekretär Rasmussen
tönte am selben Tag: »Vieles ist ungeklärt über die Umstände des
Absturzes. Dennoch: Die Instabilität in der Region, verursacht durch
von Russland unterstützte Separatisten, hat eine zunehmend gefährliche
Situation heraufbeschworen.« (NATO-Press Release, 17.07.2014.)
Von diesen prompten Schuldzuweisungen unterschied sich die Reaktion
der Bundesregierung nicht nur in Nuancen. In zwei Stellungnahmen
(die erste vom 18., die zweite vom 19. Juli) forderte sie eine
schnelle Aufklärung des Flugzeugabsturzes und einen beiderseitigen
Waffenstillstand. Nicht Russland, sondern die »ukrainischen Separatisten
« waren damit in die Pflicht genommen. Die zweite Erklärung
war abgegeben worden, nachdem Bundeskanzlerin Merkel mit dem
russischen Präsidenten am Morgen des 19. Juli telefoniert hatte. Beide
waren sich »einig, dass es rasch ein direktes Treffen der Kontaktgruppe
mit den Separatisten geben müsse, um einen Waffenstillstand zu
vereinbaren.«
Das ist in der Tat ein anderer Ton, der hier an-, und eine in Teilen
andere politische Richtung, die hier eingeschlagen wird. Die »Kontaktgruppe « besteht aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der
OSZE; und die Kiewer Übergangsregierung hat es bis dato stets abgelehnt,
mit den »Separatisten« zu verhandeln – auch der zuvor von
Kiew angebotene »Runde Tisch« sollte ohne die Aufständischen aus
dem Donbass tagen und war damit von Anfang an eine Alibiveranstaltung,
die sich deshalb auch sehr schnell erübrigte. Die Bundesregierung
spielt also ein mehrfaches Spiel: Einerseits war und ist sie
im Ukraine-Konflikt stets Partei für die prowestlichen Kräfte um die
Übergangsregierung, wobei sie weder deren verfassungswidriges Zustandekommen
noch deren rechtsradikale und faschistische Unterstützung
problematisierte. Damit setzt sie sich andererseits nolens volens
in Widerspruch zum russischen Präsidenten, der im Ukraine-Konflikt
aus sicherheitspolitischen und gewiss auch innenpolitischen Gründen
eine weitere Ostverschiebung der EU und der NATO verhindern
will. Zum Dritten ist sie seit Jahren treibende Kraft bei der Ausweitung
ihres ökonomischen und politischen Einflusses in Südost- und
Osteuropa: Die Zerschlagung der jugoslawischen Föderation in den
90er Jahren ging maßgeblich auf das Konto der deutschen Außenpolitik;
aus der Osterweiterung der EU mittels Vollmitgliedschaften
und Assoziierungsverträgen – neben Ukraine neuerdings auch mit
Georgien und Moldau – kann Deutschland als stärkste ökonomische
Macht der EU den meisten Honig saugen. Viertens aber muss Berlin – ebenfalls aus ökonomischen Gründen – an guten und stabilen Beziehungen
zu Russland interessiert sein. Dabei geht es nicht nur um
Energiesicherheit (die Gas- und Öl-Lieferungen aus Russland werden
perspektivisch rückläufig sein), sondern auch um einen interessanten
Absatzmarkt, der größer ist als alle seit den 90er Jahren in die EU aufgenommenen Staaten, und um ein großes Terrain für deutsche Direktinvestitionen.
Wenn man zudem berücksichtigt, dass Deutschland in vielfacher
Hinsicht in das westliche Bündnissystem NATO mit ihrer Führungsmacht
USA integriert ist und deshalb deren ausgeprägt antirussische
Politik [1] zumindest nach außen mittragen muss, erklärt sich die vieldeutige deutsche Ukraine- und Russlandstrategie. Wirtschaftssanktionen gegen Russland? Ja, aber stets eine Stufe weniger als die USA vorgeben. Militärische Muskelspiele in den NATO-Randstaaten
des Baltikums und Polen? Ja, aber nicht mit eigenen Truppen. Steigerung
der »Verteidigungsbereitschaft« (sprich: Aufrüstung) der NATO-Mitgliedstaaten auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts? Kein
öffentlicher Widerspruch aus Berlin, aber auch der Hinweis, dass
Deutschland schon genug für die Verteidigung ausgebe (von der Zielmarke
2 % ist Deutschland mit gegenwärtig etwa 1,3 % weit entfernt). Wenden wir den Blick von den spezifischen Interessen Deutschlands
ab und sehen auf die anderen Mitgliedstaaten von NATO und EU,
dann haben wir eine noch viel unübersichtlichere Gemengelage an
nationalen Interessen und Regierungs-Politiken, von den alten transatlantischen Differenzen ganz zu schweigen.
In zahlreichen Veröffentlichungen zur Ukraine-Krise wird vor
einem Rückfall in den Kalten Krieg gewarnt oder werden gar Erinnerungen an die europäische Mächtekonstellation vor dem Ersten Weltkrieg
wach gerufen. An beidem ist etwas dran – beides führt aber auch
in die Irre.
In der Periode des Kalten Kriegs standen sich zwei militärisch
annähernd gleich starke Supermächte nebst ihren Satelliten gegenüber
und garantierten den Weltfrieden im Großen. Unterhalb dieser
auf atomarer Abschreckung basierenden Übereinkunft, keinen Krieg
gegeneinander zu führen – weil das zum Untergang beider Mächte
und wohl auch der ganzen Menschheit geführt hätte –, erlebten wir
zahlreiche »kleine« Gewaltkonflikte und Bürgerkriege, in denen es
meist um die Befreiung aus kolonialer Abhängigkeit und/oder um Sezessionsbestrebungen ging. Die Großmächte waren an ihnen in der
Regel nur indirekt beteiligt (sogenannte Stellvertreterkriege). Außerdem
fanden diese innerstaatlichen Kriege in der Peripherie statt; Europa
war eine schwer bewaffnete Insel des zwischenstaatlichen Friedens.
Diese Konstellation gab es mit dem Zerfall der Sowjetunion und der
Auflösung des Warschauer Pakts nicht mehr – und prompt kehrte der
Krieg nach Europa zurück. Russland, der Nachfolgestaat der UdSSR,
verfügt heute nicht mehr über den damaligen Cordon sanitaire (in
Form der vorgelagerten Bündnisstaaten), während der frühere Gegner,
die NATO, ihm immer näher rückt. Dabei nehmen die neuen
NATO-Mitglieder (insbesondere die baltischen Staaten, Polen und
Rumänien) gegenüber Russland eine sehr viel unversöhnlichere Position
ein als die alten EU-Mitglieder. Der frühere US-Verteidigungsminister
und Hardliner Donald Rumsfeld kann sich heute durchaus
bestätigt fühlen in seiner Auffassung vom »alten Europa« (das dem
Irakkrieg skeptisch bis ablehnend gegenüberstand) und dem »neuen
Europa« (das den USA mit fliegenden Fahnen in den Krieg gefolgt
ist). Es scheint paradox: Mit der Rückgängigmachung sozialistischer
Strukturen in Ökonomie und Gesellschaft und der Wiedereinführung
privatkapitalistischer Verhältnisse hat sich die politische Konkurrenzsituation zwischen dem Westen und Russland keineswegs verflüchtigt. An den Kalten Krieg erinnert allenfalls noch die Tatsache, dass Russland nach wie vor eine starke Atommacht ist, gegen die man nicht ungestraft militärisch vorgehen kann.
Der historische Rückgriff auf die Situation vor dem Ersten Weltkrieg
ist vor dem Hintergrund des Medienhypes um die 100 Jahr-
Feiern verständlich, weist aber ebenfalls in eine falsche Richtung.
Gewiss: Wenn wir die heutige Welt unter dem Aspekt der ökonomischen
Formierung betrachten, sehen wir – ähnlich wie zu Zeiten
des klassischen Imperialismus – nur noch kapitalistische Staaten (von
wenigen Ausnahmen, z. B. in Lateinamerika, abgesehen), die mehr
oder weniger korporatistisch, mehr oder weniger wohlfahrtsorientiert,
mehr oder weniger neoliberal verfasst sind. Gleichwohl haben sich
die grundlegenden Konkurrenzverhältnisse verschoben: Die imperialistischen Staaten am Vorabend des Ersten Weltkriegs wetteiferten um Kolonien und Einflusssphären zwecks Erringung von Extraprofiten, Absatzmärkten und Rohstoffen. Da die Welt damals so gut wie aufgeteilt war und das deutsche Kaiserreich das Nachsehen hatte, war
es für eine besonders aggressive Außen- und Militärpolitik und damit
schließlich für die Entstehung des Weltkriegs in erster Linie verantwortlich. Zugleich gab es ein relativ komplexes Bündnissystem,
das sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr im Bismarckschen
Sinn austarieren ließ, sondern konflikteskalierend wirkte. Schließlich
dürften innenpolitische Motive (z. B. Herrschaftssicherung der dynastischen Regime in Deutschland und Russland gegen die aufstrebende
Sozialdemokratie) für die Entscheidung zum Krieg eine größere Rolle
gespielt haben. Die Lage heute scheint wesentlich klarer strukturiert
zu sein: Mit der NATO gibt es nur noch ein militärisches Gravitationszentrum, das Russland weiterhin ausschließt, die USA weiterhin einschließt und Deutschland nicht mehr »unten« hält.[2] Hinzu kommen neue globale Interessenskonstellationen, die mit dem Begriff der Triade (USA, EU-Europa, China) nicht mehr hinreichend beschrieben
sind – zu sehr drängen weitere Schwellenländer wie Indien, Brasilien
oder Indonesien in die Weltpolitik. Die wichtigste Veränderung auf
dem europäischen Schauplatz liegt darin, dass alle früheren imperialistischen Mächte (außer Russland) heute in einem Wirtschafts- und Militärblock vereinigt sind – was sie friedlich untereinander, aber
nicht friedlich nach außen macht.
Wie kaum ein anderes außenpolitisches Thema der letzten Jahre
hat der Ukraine-Konflikt die öffentliche Debatte hier zu Lande erregt.
Politik und Medien haben auf geradezu unanständige Weise einen
ähnlichen aggressiven Ton angeschlagen, sich wechselseitig überbietend
in antirussischer Hetze auf der einen und ukrainischer Propaganda
auf der anderen Seite. Dass die großen deutschen Friedensforschungsinstitute
hierin keine grundsätzliche Ausnahme machten, ist
eine besonders irritierende Erfahrung, erwartet man von ihnen doch
eher eine regierungsunabhängige und alternative Sichtweise.
Das von den fünf führenden Instituten herausgegebene »Friedensgutachten
2014« [3] befasst sich in ihrer gemeinsamen »Stellungnahme«
100 Jahre nach 1914 mit dem zentralen Thema Europa. Es hätte ja
alles so schön sein können: Während der Erste Weltkrieg ein Krieg
der rivalisierenden europäischen Mächte, der Zweite Weltkrieg ein
deutscher Eroberungs-, Raub und Vernichtungskrieg war, herrscht
seit über 60 Jahren (weitgehend) Frieden. Anlass zur Freude und
Genugtuung darüber, dass die Europäer ihre Lektion gelernt haben.
Wären da nicht die beunruhigenden Vorgänge in der und um die Ukraine,
die das »Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit
« (KSZE-Gipfel 1990) jäh beendeten und die Friedensforschungsinstitute
zu der Frage veranlassten: »Ist das Friedensprojekt Europa
am Ende?« Ist es aus Sicht der Institute natürlich nicht – trotz einiger
weniger schönen Entwicklungen etwa hinsichtlich der Migrations-,
Rüstungs- und Rüstungsexportpolitik.[4]
Auch die Eskalation um die Ukraine kann das »Friedensprojekt«
EU nicht grundsätzlich erschüttern. Diese Interpretation der Vorgänge
in der Ukraine unterscheidet sich nur graduell vom herrschenden
westlichen Diskurs. Die friedensgefährdende Krise in Osteuropa hat
einen Namen: Putin. Er verleibte sich – nach dem »Pseudoreferendum« die Krim »völkerrechtswidrig« ein, schürte Zwietracht in der
Ukraine, »lenkt« mit seiner aggressiven Politik »von innenpolitischen
Problemen ab« und regiert in Russland mit »Autoritarismus und Repression
«. Und die von Putin angestrebte »Eurasische Union« ist »als
autoritäres Gegenprojekt zur EU gedacht«. Die Vorgänge auf dem
»Euro-Maidan« in Kiew bis zum Sturz Janukowitschs werden als »Revolution
« gefeiert, die Beteiligung rechter und faschistischer Gruppen
wie beiläufig erwähnt, allerdings nicht mehr als Bestandteil der »Revolutionsregierung«. Natürlich wird auch Kritik geübt, freilich längst nicht so entschieden, wie es Altbundeskanzler Helmut Schmidt tat,
der dem Westen die Hauptverantwortung für das Ukraine-Debakel
anlastete. Dass die EU die Ukraine vor die Wahl zwischen Russland
und dem EU-Assoziierungsvertrag stellte, wird von den Friedensforscher/
innen lediglich als »unklug« kritisiert. Auch die langjährige
Praxis des Westens, sowohl die EU- als auch die NATO-Grenzen immer
weiter nach Osten zu verschieben und damit Russland auf den
Pelz zu rücken, wird nur als Perzeptionsproblem der Russen gesehen:
Russland »empfand« die Osterweiterung als »Ausgreifen des Westens
an seine Grenzen«; der Kreml hat es »nie verwunden«, dass er im
NATO-Russland-Rat »zwar mit am Tisch sitzt, aber nicht wie im UN-Sicherheitsrat mit entscheiden darf«. Und wenn schließlich einem Regimewechsel in Moskau das Wort geredet wird (der Westen wird nur davor gewarnt, ihn »von außen zu forcieren«), dann ist die Grenze
friedenswissenschaftlicher Seriosität doch wohl eindeutig überschritten.[5]
Die politischen Empfehlungen zur Lösung des Ukraine-Konflikts
entsprechen nur zum Teil den Forderungen der Friedensbewegung:
Runde Tische mit allen Konfliktparteien, Absage an einen NATOBeitritt
der Ukraine, Kritik (aber nur ganz leise) an »riskanten« Sanktionen,
Stopp der Waffenexporte (allerdings nur an Russland!). Zum
Teil sind sie aber auch wenig nachvollziehbar oder schlicht abwegig.
Was soll z. B. die Einrichtung einer »Kontaktgruppe P5+3«, der
neben den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern und der
Ukraine noch Polen und Deutschland angehören sollen?!
Von der Friedensforschung zur Friedensbewegung: Auch sie hat
sich keineswegs mit Ruhm bedeckt. Zwar war sie in ihrer klaren Kritik
an der herrschenden Politik auf der Höhe der Zeit [6], doch mit der
Mobilisierung ihrer Anhänger tat sie sich sehr schwer. Zwar stellten
die Ostermärsche 2014 mit Tausenden von Teilnehmer/innen in nahezu
100 deutschen Städten respektable Friedensmanifestationen
dar, auf denen die Ukraine-Politik von USA, NATO, EU und Bundesregierung
scharf verurteilt wurde, danach blieb es aber weitgehend
ruhig im Land. Auch ein Aufruf zu bundesweiten dezentralen
Aktivitäten zum 31. Mai 2014 blieb in der Wirkung eher bescheiden:
Aktionen wurden lediglich aus 30 Städten gemeldet.
Mehr Aufsehen erregten dagegen sogenannte Montagsmahnwachen,
die sich seit April von Berlin aus in zahlreiche Großstädte
ausgebreitet haben. Mit ihnen fiel die Gründung einer auch von der
NPD unterstützten »Friedensbewegung 2014« zusammen, die sich anschickte, der »alten« Friedensbewegung den Rang abzulaufen.[7]
Die »Montagsdemos« intonieren das Ukraine-Thema zunächst auf
eine ähnliche Weise wie die Friedensbewegung. Da werden insbesondere
die NATO und die EU für die Zuspitzung der Krise verantwortlich
gemacht und es wird darauf hingewiesen, dass Russland
ein berechtigtes Sicherheitsinteresse gegen das Vorrücken der
NATO an seine Grenzen hat. Die Angliederung der Krim und die
besonderen Beziehungen Russlands zum Osten der Ukraine werden
mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigt. Dieses
Selbstbestimmungsrecht wird dabei ethnisch (man könnte auch
sagen: völkisch) und historisch interpretiert. Und hier können Altund
Neonazis natürlich ansetzen und die europäischen Nachkriegsgrenzen
in Frage stellen. Eine solche Sicht trifft – nicht ganz zufällig
– auf geschichtsrevisionistische Fälschungen der bislang gesicherten
Kenntnisse über Ursachen und Hauptverantwortliche der beiden
Weltkriege des 20. Jahrhunderts, insbesondere wenn führende Initiatoren
der »Montagsdemos« die alleinige Schuld bei der »jüdischen
« (!) US-amerikanischen Federal Reserve, der US-Notenbank,
festmachen.[8]
Der vorliegende Band möchte sowohl Grundlagen für eine realistische
Analyse und Einschätzung des Ukraine-Konflikts und einer
Reihe damit zusammenhängender globaler Fragen schaffen, als auch
notwendige Argumentationen für die tagesaktuelle Auseinandersetzung
bereitstellen. Besonders wichtig ist dies vor dem bedauernswerten
Hintergrund, dass die privaten und öffentlich-rechtlichen
Leitmedien neben der Politik den größten Anlass zu empörter Kritik
bieten. In einer sehr aufwändigen Dissertation hat der Leipziger
Medienwissenschaftler Uwe Krüger die enge Verzahnung von
Politik, Wirtschaft und »Elitejournalisten« herausgearbeitet und
festgestellt, dass die Leitmedien hauptsächlich die Diskussion in nerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten abbilden.[9] Die
untersuchten Medien (ZDF, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Die Welt und Die Zeit) sind danach eingebettet in
den »aktuell laufenden Elitediskurs« und hinterfragen dessen Prämissen
nicht. Kritiker der Eliten sowie systemkritische Ideen werden
»ignoriert, marginalisiert oder durch den Kontext delegitimiert«.[10]
Dies gilt umso mehr, »je existenzieller das zu diskutierende Thema
ist«. Das heißt, die geschilderten Mechanismen greifen am stärksten
bei Fragen von Krieg und Frieden, Militäreinsätzen eigener Soldaten
oder verbündeter Staaten oder der Sicherheitspolitik. Es ist interessant
zu sehen, dass dieselben Journalisten, die Uwe Krüger als Teil
des transatlantischen Elitenetzwerks ausgemacht hat, den Absturz der
malaysischen Passagiermaschine zum Anlass nehmen, Putin vorzuverurteilen. »Das Monster, das Putin schuf«, verkündete Stefan Kornelius in seinem ersten Kommentar zu der Katastrophe (Süddeutsche
Zeitung [SZ], 19.07.2014). Folgerichtig wird die EU zu einer härteren
Gangart gegenüber Russland gedrängt. Nicht nur an der Sanktionsschraube
müsse weiter gedreht werden (so Stefan Kornelius in der SZ
vom 22.07.2014), auch die Wehretats des NATO-Bündnisses dürften
»nicht länger sinken« (so Stefan Ulrich in der SZ vom 21.07.2014). Und
in der ZEIT (Online-Ausgabe, 18.07.2014) wird prophezeit: »Dieser
Abschuss verändert alles«; was damit gemeint sein könnte, gibt der
Kommentator Carsten Luther unverblümt preis, wenn er schreibt, die
»Beteiligung westlicher Kräfte an den Militäroperationen der Kiewer
Regierung seien nun »kein Tabu mehr«. Das fügt sich in die kritische
Medienanalyse: Die Leitmedien sind einerseits Sprachrohre, Verstärker
und willfährige Instrumente der herrschenden Politik und schießen
andererseits im wahrsten Sinn des Wortes über das Ziel hinaus,
indem sie die Politik zu mehr militärischer Aktion aufstacheln.
Vor zehn Jahren war das nicht viel anders. Uwe Krüger erinnert
in seinem Buch an den Medien-Hype, der hier zu Lande um die »orangene Revolution« in der Ukraine 2004 ausbrach. Die deutschen
Medien übersahen in ihrem »Demokratie-Taumel« geflissentlich die
massive Unterstützung der ukrainischen »Revolutionäre« durch US-amerikanische Stiftungen, deren Nähe zur Regierung in Washington
mit den Händen zu greifen war. Abweichungen von dem publizierten
Schema: hier der »gute« prowestliche Kandidat – dort der »böse«
prorussische Kandidat, hatte es in den Medien kaum gegeben. Und
als der SPIEGEL einige Monate später in einer aufwändig recherchierten
Titelgeschichte die US-amerikanische Hilfe thematisierte, geschah
dies »nach dem unkritischen Erzählmuster, dass selbstlose US-Organisationen den unterdrückten Völkern Osteuropas die ›Fackel
der Freiheit‹ brächten«. Geostrategische Interessen der USA in dieser
Region blieben vollständig »ausgeblendet«.[11]
Letzteres wird sich das vorliegende Buch gewiss nicht vorwerfen
lassen müssen – auch wenn andere Aspekte wie etwa landes- oder
kulturgeschichtliche vielleicht zu kurz kommen mögen. Und wie bei
jedem Buch, das sich mit aktuellen Entwicklungen und Problemen
befasst, wird es keine Betrachtung des Ukraine-Konflikts »vom Ende
her« geben können. Es ist nur leider zu befürchten, dass die Eskalation
der Gewalt in der und um die Ukraine noch nicht an ihr Ende
gekommen ist.
Fußnoten:-
Die US-Administration war wie selten darum bemüht, Medien und Öffentlichkeit
zeitnah mit Informationen und deren offiziellen Interpretationen zu
versorgen. Ungewöhnlich war deren Form: Zwei Mal meldete sich die USBotschaft
in Berlin, um die »Irrtümer über die gegenwärtige Kontroverse«
auszuräumen« und das Publikum mit der »Wahrheit« vertraut zu machen,
am 23. Mai (»Sechs Irrtümer…«) und am 24. Juni 2014 mit einer Erklärung
der US-Botschafterin bei der UNO (»Widerlegung der falschen Schilderungen
Russlands«). Man darf davon ausgehen, dass diese Statements auch die
befreundeten Regierungen »briefen« sollten.
- Vom früheren NATO-Generalsekretär Lord Ismay stammt das geflügelte
Wort, wonach es bei der Gründung des Militärpakts 1949 darum gegangen
sei, »to keep the Russians out, the US in, and Germany down«.
- Ines-Jacqueline Werkner / Janet Kursawe / Margret Johannsen / Bruno Schoch /
Marc von Boemcken (Hrsg.): Friedensgutachten 2014 der Forschungsstätte
der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Institut für Interdisziplinäre
Forschung, des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF), des Instituts
für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH), der Hessischen Stiftung
Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Bonn International Center for
Conversion (BICC), Berlin / Münster u. a. 2014.
- Die Vorstellung vom »Friedensprojekt« EU abstrahiert vollkommen von den
Entstehungshintergründen der Vorgängerorganisationen der EU. An der
Wiege dessen, was sich heute Europäische Union nennt, stand die Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch »Montanunion« genannt).
Sie war kein Friedensprojekt, sondern ein Mechanismus zur Kontrolle
der deutschen Schwerindustrie. Völlig ausgeblendet bleiben in dem
Gutachten auch die Militarisierungstendenzen des Lissabon-Vertrags (Aufrüstungsverpflichtung,
Battlegroups, Verteidigungsagentur und Beistandspflicht).
Vgl. P. Strutynski: Viel Expertise – viel Mainstream. Friedensgutachten
beschwört das »Friedensprojekt Europa« – Ukraine im Fokus, www.
ag-friedensforschung.de/science1/gutachten14-stru.html
- Vom Tenor der »Stellungnahme« unterscheidet sich allerdings wohltuend
der wissenschaftliche Beitrag im Friedensgutachten: Andreas Heinemann-
Grüder, Revolution und Revanche: Die Ukraine am Abgrund, in: Friedensgutachten
2014, a. a. O., S. 266-282.
- Siehe z. B. die Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag:
Verhandeln ist besser als schießen. Nicht Russland, der Westen ist das Problem,
9. März 2014, in: www.ag-friedensforschung.de/regionen/Ukraine1/
baf.pdf
- Siehe hierzu und zum Folgenden P. Strutynski: Selbst aktiv werden, in: junge
Welt, 26.05.2014.
- Siehe hierzu Ulla Jelpke: Linkes Angebot fällig
- Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und
Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse, Köln 2013.
- Ebd., S. 84.
- Ebd., S. 27.
* Aus: P. Strutynski (Hg.): Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen. PapyRossa: Köln 2014 (Neue Kleine Bibliothek 201), [ISBN 978-3-89438-556-9], S. 7-17
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