Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hoffnung auf Waffenstillstand

Plan Putins zur Einigung bis Freitag

Von Klaus Joachim Herrmann *

So viel Bewegung war lange nicht im Ukraine-Konflikt – schon gar nicht in Richtung eines Rückzugs vom Waffengang.

Hoffnung auf den Schwenk zu einer friedlichen Lösung im Ukraine-Konflikt weckten Mittwoch Meldungen über eine Einigung zwischen Kiew und Moskau. Erst war in einer Mitteilung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko von einem »dauerhaften Waffenstillstand« die Rede. Der wurde dann herabgestuft auf ein »vereinbartes Regime einer Waffenpause«. Der Kreml hatte durch den Pressesprecher des Präsidenten Wladimir Putin ohnehin nur mitgeteilt, beide Staatschefs hätten in ihrem Telefonat »verschiedene Aspekte der politischen und humanitären Krise« in der Ukraine erörtert und in »beträchtlichem Maße« übereingestimmt.

Das Moskauer Dementi war alles andere als eine brüske Zurückweisung. Denn Kremlsprecher Dmitri Peskow bestätigte einen Meinungsaustausch über »Schritte«, die zu einem Waffenstillstand zwischen Separatisten und ukrainischen Streitkräften führen sollten. Die russische Regierung könne den aber »grundsätzlich« nicht vereinbaren, da sie nicht »Konfliktpartei« sei. Damit blieb Moskau offiziell weiter draußen.

Das wiederum hinderte Präsident Putin nicht daran, einen eigenen Aktionsplan zur Lösung des Ukraine-Konflikts vorzulegen. Der sieben Punkte umfassende Plan sehe ein Ende der Offensiven der ukrainischen Armee und der prorussischen Separatisten in den ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk vor, sagte Putin im Fernsehsender Rossija 24 am Mittwoch während eines Besuchs in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator.

Weiter müssten sich die Regierungstruppen aus dem Umfeld der beiden Großstädte zurückziehen und dürften diese nicht weiter mit Artillerie beschießen oder mit Kampfflugzeugen bombardieren. Außerdem sollten internationale Beobachter die Waffenruhe überwachen, alle Gefangenen sollten bedingungslos freigelassen werden, humanitäre Hilfs- und Fluchtkorridore eingerichtet und die Infrastruktur von Donezk und Lugansk auch mit russischer Hilfe repariert werden.

Putin äußerte die Hoffnung, dass die Regierung in Kiew und die prorussischen Separatisten im Osten des Landes bis Freitag zu einer »endgültigen Einigung« kommen und damit beim nächsten Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe ein »endgültiges Abkommen zementiert« werde.

Kiew aber winkte ab. »Das ist ein Plan zur Vernichtung der Ukraine und zur Wiederherstellung der Sowjetunion«, sagte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk. Er strebt einen Status als »besonderer Partner Nummer eins« in der NATO an, wie er demonstrativ erinnerte. Die Aufnahme in den Pakt wäre eine »richtige Entscheidung«. Er wies auf den vom Kabinett gebilligten Gesetzentwurf zur Aufhebung der Blockfreiheit hin. Angesichts größerer Vorbehalte wichtiger Mitglieder der Allianz könnte allerdings eher die von ihm angestrebte Mauer oder der Elektrozaun mit Minen und Stacheldraht zur Abgrenzung von Russland stehen.

Zuvor hatte US-Präsident Barack Obama Zweifel am Waffenstillstand. Während seines Besuchs in Tallinn erkannte er aber die Meldung aus Kiew zumindest als eine Chance. Wäre Russland bereit, die Separatisten in der Ukraine nicht weiter zu bewaffnen, zu finanzieren und auszubilden, sei das ein willkommenes Zeichen.

Angesichts der jüngsten militärischen Erfolge gegen die ukrainischen Einsatzkräfte in ihrem »Anti-Terror-Einsatz« zeigte sich der Vizepremier der »Volksrepublik Donezk«, Andrej Purgin, selbstbewusst. Da der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko mit ihr keinen Waffenstillstand vereinbart habe, sehe sich die Republik dazu berechtigt, den Vorschlag abzulehnen. »Das ist irgendeine Spielerei von Kiew. Für uns ist das eine totale Überraschung. Diese Entscheidung wurde ohne unsere Teilnahme getroffen«, zitierte ihn ein Berater. Der Vorschlag sei »unerfüllbar, solange sich die Militärkräfte auf dem Territorium der Republik aufhalten. Eine Voraussetzung für die Einstellung der Kampfhandlungen bleibt der Abzug der ukrainischen Truppen.«

Bereits zuvor teilten die Aufständischen allerdings mit, ukrainische Soldaten würden sich aus der Konfliktregion zurückziehen. Bereits in der Nacht hätten sie bedeutende Truppenbewegungen beobachtet. Separatistenführer Miroslaw Rudenko begrüßte die Ankündigung einer Waffenruhe durch den ukrainischen Präsidenten, blieb aber auch misstrauisch. Sollte es Kiew ernst meinen, seien die Aufständischen zu einer politischen Lösung des Konflikts bereit, sagte er. In der Großstadt Donezk übernahmen prorussischen Kräfte den Flughafen. Die Armee hatte das Gelände zuvor aufgegeben.

Die Behörden des umkämpften Lugansk erinnerten daran, dass keine Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff angeliefert würden. Den Einwohnern gehe das Geld aus, da weder Gehälter noch Renten oder soziale Zuwendungen ausgezahlt werden. Seit einem Monat sei die Stadt ohne Strom, Wasser und Telefonverbindungen. Nach Angaben des Energieministeriums sind in den Gebieten Donezk und Lugansk infolge der Kampfhandlungen rund 260 Ortschaften ohne Strom.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014


Putin will Frieden

Präsident Rußlands legt Plan für Lösung im Ukraine-Konflikt vor: Sofortiger Stopp aller Angriffe, Teilrückzug der Kiewer Truppen

Von Reinhard Lauterbach **


Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Mittwoch einen Plan zur Beendigung des Kriegs im Osten der Ukraine vorgelegt. Wie Putin bei einem Besuch in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator sagte, beinhaltet sein Vorschlag einen sofortigen Stopp aller Angriffshandlungen durch beide Seiten, den Rückzug der Kiewer Truppen, bis die Städte des Donbass außerhalb der Reichweite von deren Artillerie sind, die internationale Kontrolle der Einhaltung eines noch zu vereinbarenden Waffenstillstands, das Verbot des Einsatzes der Luftwaffe gegen zivile Ziele, den Austausch aller Gefangenen beider Seiten, die Öffnung von Korridoren für die Versorgung der Zivilbevölkerung und um Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen sowie die freie Durchfahrt für Reparaturkolonnen, um die zerstörte Infrastruktur instand zu setzen.

Zunächst hatte stundenlang Verwirrung geherrscht, nachdem die ukrainische Seite am Mittwoch morgen gemeldet hatte, Putin und sein ukrainischer Amtskollege Petro Poroschenko hätten sich auf einen »sofortigen Waffenstillstand« geeinigt. Diese Meldung mußte wenig später von Kiew unter dem Druck eines Moskauer Dementis zurückgezogen werden. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte, Rußland könne keinen Waffenstillstand vereinbaren, weil es keine Konfliktpartei sei. Aber beide Präsidenten seien sich über das Verfahren, wie ein Waffenstillstand zu erreichen wäre, weitgehend einig gewesen. Schon das ist neu, denn bisher hatte Poroschenko Feuerpausen immer davon abhängig gemacht, daß die Rebellen zuvor ihre Waffen niederlegen sollten. Diese Bedingung scheint er fallengelassen zu haben. Statt dessen erklärte er, Friedensgespräche könnten am morgigen Freitag in Minsk beginnen.

In den international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurde Putins Vorschlag kühl aufgenommen. »VRD-Ministerpräsident« Alexander Sachartschenko sagte, Bedingung für eine Feuereinstellung sei der völlige Rückzug der ukrainischen Truppen aus dem Donbass. Er bezweifelte im übrigen, ob alle ukrainischen Einheiten in der Region dem Befehl zur Feuereinstellung gehorchen würden. An den Fronten kam es zu keinen größeren Kämpfen; die ukrainische Militärführung ist offenbar dabei, ihre noch vorhandenen Kräfte halbwegs geordnet zurückzuziehen. Die Armee der Ukraine hat in mehreren Kesselschlachten im Süden des Donbass in den letzten Tagen Tausende Soldaten und große Mengen schweren Materials verloren. Da das Land nach Einschätzung von NATO-Militärs keine operativen Reserven mehr hat, verschafft Putins Waffenstillstandsvorschlag der Kiewer Junta objektiv eine Atempause.

Ob sie es ihm danken wird, ist offen. In Kiew kündigte der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk, der Putin vorwarf, lediglich »neue Sanktionen verhindern« zu wollen, die durchgehende Befestigung der ukrainisch-russischen Grenze an. Das Projekt trägt den Arbeitstitel »Mauer«. In der Praxis dürfte es aber auf die Errichtung eines Metallgitterzauns hinauslaufen. Ob dieser Zaun auch elektrisch geladen oder vermint werden soll, ist nach Jazenjuks Angaben noch nicht entschieden. Die Kosten des Projekts werden auf 100 Millionen Euro geschätzt. Die ukrainisch-russische Grenze ist nach dem Stand vor Beginn des Donbass-Konflikts etwa 2000 Kilometer lang.

Putins Vorschlag kam im übrigen mit präzisem Timing einen Tag vor dem NATO-Gipfel im walisischen Newport. Dort will das Bündnis eine Verstärkung seiner militärischen Präsenz in Osteuropa beschließen: eine »schnelle Eingreiftruppe« mit einigen tausend Soldaten, die innerhalb von 48 Stunden einsatzbereit sein sollen. Einstweilen kündigte die NATO ein Manöver im westukrainischen Bezirk Lwiw noch in diesem Monat an. Beteiligt sein sollen nach Angaben aus Warschau etwa 1100 ukrainische und 200 westliche Soldaten. US-Präsident Barack Obama besuchte am Vortag des Gipfels Estland und machte dort weitgehende Zusagen: Die USA würden die Balten und ihre anderen osteuropäi­schen Alliierten »nie im Stich lassen«. Bereits früher war bekanntgeworden, daß die NATO in Estland für 400 Millionen US-Dollar einen Stützpunkt für ihre abwechselnd den baltischen Luftraum kontrollierenden Militärflugzeuge bauen will.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 4. September 2014


Kiew droht harter Sparkurs

Internationaler Währungsfonds warnt, die Ukraine bräuchte womöglich weitere 19 Milliarden Dollar Unterstützung – und schärfere Reformen

Von Guido Speckmann ***


Der Internationale Währungsfonds vertritt in einem neuen Bericht die Ansicht, dass andauernde Kämpfe im Osten der Ukraine ein großes Risiko für die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung darstellen.

Die Überlegung des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist simpel: Dauern die Kämpfe in der Ostukraine an, könnten zusätzliche Mittel notwendig werden. Dass es diese Mittel nur gegen harte Auflagen geben wird, verschweigt der IWF. In einem am Dienstag in Washington veröffentlichten Report des IWF heißt es: »Eine weitere Verschärfung der geopolitischen Spannungen könnte erhebliche ökonomische Konsequenzen haben.« Der IWF-Europadirektor Poul Thomsen erklärte, sie gingen bisher von der Hypothese einer Abschwächung des Konflikts in den kommenden Monaten aus. Trete dies nicht ein, werden möglicherweise mehr internationale Finanzhilfen gebraucht, als bisher erwartet. Thomsen sagte, dass im schlimmsten Fall bis Ende 2015 weitere 19 Milliarden Dollar für die Ukraine benötigt würden.

Nach dem vom Westen unterstützen Putsch gegen den gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Einsetzung einer prowestlichen Regierung hatte der IWF Hilfskredite in Höhe von 16,7 Milliarden Dollar zur Stabilisierung der wirtschaftlich und finanziell angeschlagenen Ukraine gebilligt. Von der Europäischen Union kamen weitere rund elf Milliarden Dollar. Die Gelder werden in Tranchen ausgezahlt. Um über die Auszahlung zu entscheiden, werden Berichte wie den soeben veröffentlichten erstellt. Sie dienen dem Exekutivrat, um über die Freigabe weiterer Teile der genehmigten Finanzhilfen an die Ukraine zu entscheiden. Erst in der vergangenen Woche hatte das Gremium eine zweite Tranche in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar (1,04 Milliarden Euro) freigegeben.

Die Mitarbeiter der Institution gehen davon aus, dass sich die Rezession durch den Konflikt im industriellen Osten des Landes vertiefe und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um bis zu 7,25 Prozent schrumpfe. So sei vor allem in den von Kämpfen betroffenen Regionen Donezk und Lugansk die Produktion in der Industrie und Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und Handel deutlich zurückgegangen. Beide Landesteile trügen insgesamt rund 15 Prozent zum BIP des Landes bei.

Sollten die Kämpfe hingegen weitergehen, heißt es in dem Report, werde »eine neue Strategie benötigt«. Was der Bericht nicht erwähnt, ist dass eine solche Strategie nicht nur weitere Finanzhilfen beinhalten wird, sondern auch stärkere Einsparungen und schärfere Reformen vorschreiben wird, an deren Erfüllung die Hilfsgelder gebunden werden. Ein Umstand, der in den Medien kaum Erwähnung findet. Der IWF, berüchtigt für seine neoliberalen Strukturanpassungsprogramme, hat das Mantra von Privatisierung, freier Marktwirtschaft und Haushaltsdisziplin eben auch in der Ukraine zur Bedingung gemacht. Konkret knüpfte er die Auszahlung der Raten an das Einfrieren von Mindestlohn und Renten. Darüber hinaus soll der Staatshaushalt entlastet werden, was mit einer Reduzierung der Beamtenzahl erreicht werden soll. Bereits im März hat das Parlament beschlossen, den Staatshaushalt um 17 Prozent zu kürzen; insgesamt sollen rund 24 000 Beamte entlassen werden, zehn Prozent aller Staatsbediensteten.

Wichtig ist dem IWF auch der Abbau der Gassubventionen, die unter der alten Regierung galten. In der Summe bedeutet dies die Verschlechterung der sozialen Lebensverhältnisse für einen Großteil der Menschen. Alexis Tsipras, Vorsitzender der linken griechischen Partei Syriza, hat Erfahrungen mit verordneten Sparprogrammen. Mitte Mai hatte er in recht deutlichen Worten gesagt: »Die Bürger der Ukraine sollten sich darüber klar werden, dass jene, die sich Erretter nennen, in Wirklichkeit eher Henker und Mörder sind. Das Volk der Ukraine muss wissen, wie es in den letzten vier Jahren Griechenland ergangen war: Der IWF, die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank haben das griechische Volk sozial geplündert.« Einige Wirtschaftswissenschaftler sehen Nachteile für die breite Bevölkerung durch die IWF-Auflagen, nennen es jedoch »Anpassungslasten« oder »extrem hohe soziale Kosten«.

Poul Thomsen vom IWF zeigt sich indes zufrieden mit der »Reform«-Bereitschaft der Regierung Jazenjuk: »Ich bin ermutigt, dass unsere neuen Gesprächspartner in Kiew sich überzeugt zeigen, dass radikale Strukturreformen dringend notwendig sind.«

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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