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Ostukraine zwischen Krieg und Frieden

Minsker Memorandum für eine entmilitarisierte Zone / Protestmarsch der Opposition in Moskau

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Waffenruhe in der Ostukraine bleibt brüchig. Versuche, die kämpfenden Seiten zu trennen, wurden fortgesetzt.

Aus dem ostukrainischen Krisengebiet wurden auch am Sonntag wieder bewaffnete Zusammenstöße zwischen Einsatzkräften der Kiewer Zentralmacht und Milizen der abtrünnigen Gebiete gemeldet. Insgesamt habe es Schusswechsel in 24 Ortschaften und Dutzende verletzte Militärs gegeben, berichtete die Armeeführung. Sie informierte auch über die »Vernichtung«, also den Tod, von 40 Kämpfern der prorussischen Milizen.

Die Aufständischen beklagten einen fortgesetzten Beschuss von Stellungen durch reguläre Truppen. In Donezk explodierte nach dem Einschlag von Artilleriegeschossen eine von den Rebellen kontrollierte Waffenfabrik. Der Waffenstillstand galt aber insgesamt weiter als eingehalten, wenn auch brüchig. Ein dritter russischer Hilfskonvoi, der von Kiew als Provokation gewertet wurde, verließ die Ukraine.

In der Nacht zu Samstag war in der belorussischen Hauptstadt Minsk unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Memorandum über die Schaffung einer entmilitarisierten Zone vereinbart worden. Beide Seiten sollen dazu mit einem Rückzug von schweren Waffen und Verbänden um 15 Kilometer von der aktuellen Frontlinie beitragen. Die Überwachung obliegt der OSZE. Damit könnte der Konflikt zwischen Krieg und Frieden eingefroren werden.

Bestätigt wurde am Sonntag von beiden Seiten ein Rückzug von Regierungstruppen. Nach Angaben eines Militärsprechers sollte eine Einkesselung von Einheiten vermieden werden. Zudem würden taktisch günstigere Positionen bezogen.

Die Waffenruhe sowie der Austausch von Gefangenen hätten zu einem »bedeutenden Rückgang« der Gewalt geführt, hieß es in einer in Brüssel veröffentlichten Mitteilung der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton.

Zu einem »Marsch des Friedens« der Opposition mit laut Miliz 5000, laut Veranstaltern aber Zehntausenden Teilnehmern kam es Sonntagabend im Moskauer Stadtzentrum, wie die Onlinezeitung gaseta.ru informierte. Die Teilnehmer seien gegen die »aggressive Politik der russischen Führung« gegenüber der Ukraine aufgetreten, hieß es. Aufhören müsse die propagandistische und materielle Hilfe für die prorussischen Separatisten, hieß es laut dpa in einer »Anti-Kriegs-Resolution«, zu deren Unterzeichnern die Menschenrechtlerin Ludmilla Alexejewa und der Oppositionspolitiker Boris Nemzow gehören. Die führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) erwarten den russischen Präsidenten Wladimir Putin beim Gipfeltreffen im November in Australien, berichteten Agenturen. Bei Gesprächen mit »einer Reihe von Mitgliedern« sei klar geworden, »dass wir natürlich die Teilnahme Russlands am G-20-Gipfel erwarten«, sagte der australische Finanzminister Joe Hockey.

* Aus: neues deutschland, Montag 22. September 2014


Foltervorwürfe gegen Kiew

Ukraine: Leichen Mißhandelter an Standort von Freiwilligenbataillon entdeckt. Waffenruhe vereinbart – und mißachtet

Von Reinhard Lauterbach **


Die Aufständischen im Donbass haben schwere Foltervorwürfe an die Adresse der ukrainischen Freiwilligenbataillone gerichtet. Auf einem ehemaligen Golfplatz bei Lugansk, der in den letzten Monaten als Standort des Bataillons »Aidar« genutzt wurde, seien mehrere Leichen mit Mißhandlungs- und Hinrichtungsspuren entdeckt worden. Ein ins Netz gestelltes Video zeigt Tote, die aus einem kleinen See auf dem Gelände des Golfplatzes geborgen worden seien. Den Leichen, darunter die einer Frau, fehlten Zehen und Finger. Sie waren mit Steinen an den gefesselten Füßen in dem Gewässer versenkt worden. Ob sie zu diesem Zeitpunkt noch lebten, ist unklar. Gegen das Bataillon »Aidar« hatte auch Amnesty International vor einigen Tagen Foltervorwürfe erhoben. Die nördlich von Lugansk eingesetzte Truppe ist auch unter Anwohnern für Plünderungen und Mißhandlungen mutmaßlicher »Separatisten« berüchtigt. Sie hatte die Position im Zuge der erfolgreichen Gegenoffensive der Aufständischen Anfang September räumen müssen.

Foltervorwürfe gegen den »Rechten Sektor« erhob unabhängig davon der mehrfache Europameister im Karate und Medaillengewinner für die Ukraine, Pjotr Giljow. Wie der im Zuge eines Gefangenenaustausches freigekommene Giljow dieser Tage russischen Zeitungen berichtete, sei er Ende Juni an einem Kontrollpunkt von Angehörigen dieser faschistischen Miliz aus einem Autobus heraus festgenommen und tagelang verprügelt, getreten und mit Stuhlbeinen und anderen Gegenständen traktiert worden. Angesichts seiner Prominenz habe der Sicherheitsdienst der Ukraine vom »Rechten Sektor« verlangt, ihn herauszugeben. Die Ermittlungsrichterin habe es angesichts seines körperlichen Zustands abgelehnt, ein Verfahren gegen ihn zu eröffnen. Giljow sagte, er habe die Torturen nur überlebt, weil er als professioneller Karatekämpfer gewohnt sei, Schmerz auszuhalten.

Ein am vergangenen Freitag ausgehandelter erweiterter Waffenstillstand für das Donbass wird unterdessen ebensowenig eingehalten wie die erste Waffenruhe vom 5. September. Das in Minsk unterzeichnete Memorandum sieht vor, daß beide Seiten ihre schwere Artillerie um jeweils 15 Kilometer von der Frontlinie zurückziehen, außerdem fordert es ein Flugverbot für Militärmaschinen und Drohnen sowie den Abzug aller ausländischen Söldner aus der Region. Ungeachtet dessen berichtete Kiew von Angriffen auf Stellungen der »Antiterroroperation«, und die Aufständischen informierten über ständigen Granatbeschuß der Wohnviertel von Donezk und der umliegenden Städte. In der Nähe von Lugansk zerstörte ein ukrainischer Kampfflieger durch »Friendly fire« eine Basis der eigenen Truppen.

Die Hinterbliebenen der drei deutschen Opfer des Abschusses der malaysischen Verkehrsmaschine am 17. Juli wollen die Ukraine auf Schadenersatz in Millionenhöhe verklagen. Wie ihr Anwalt, der Berliner Luftverkehrsrechtler Elmar Giemulla, der Bild am Sonntag erläuterte, wird die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg eingereicht. Giemulla warf der Ukraine Totschlag durch Unterlassen vor, weil sie ihren Luftraum über dem Donbass nicht für den Flugverkehr gesperrt habe. Jeder Staat, der seinen Luftraum öffne, sei verantwortlich für das, was in ihm geschehe.

** Aus: junge Welt, Montag 22. September 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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