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Rückendeckung für Ankara

Unterstützung für Dschihadisten und Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Syrien: Die Bundesregierung verteidigt in der Fragestunde des Bundestages das Vorgehen der Türkei gegen jede Kritik *


In der Fragestunde des Deutschen Bundestag am Mittwoch (2. April) wollte Die Linke wissen, wie die Bundesregierung das im Internet publik gemachte Gespräch türkischer Regierungsmitglieder zu einem Angriffskrieg gegen Syrien bewertet. Außerdem drängte Die Linke auf eine Stellungnahme zum Abschuß eines syrischen Kampfflugzeuges am 23. März 2014 durch die türkische Armee. jW dokumentiert Fragen und Antworten, die wir im Folgenden ebenfalls dikumentieren:

Frage (25) der Abgeordneten Sevim Dagdelen (Die Linke):
Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über eine auf YouTube online gestellte Audioaufnahme vor, bei der der Außenminister Ahmet Davutoglu, Geheimdienstchef Hakan Fidan, Unterstaatssekretär Feridun Hadi Sinirlioglu und Vizearmeechef Yasar Güler über einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Syrien und einen notfalls zu schaffenden rechtfertigenden Grund für den Angriffskrieg beraten, wie beispielsweise einen selbst vorgetäuschten Raketenbeschuß, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung vor dem Hintergrund der möglichen Vorbereitung eines Angriffskrieges aus völkerrechtlicher Sicht auch für den Bundeswehreinsatz in der Türkei im Rahmen der »Patriot«-Stationierung?

Antwort von Michael Roth (Staatsminister im Auswärtigen Amt):
Die Bundesregierung kann die Vollständigkeit, aber auch die Authentizität der im Internet eingestellten Audioaufnahmen nicht einschätzen. Wir nehmen grundsätzlich zu offensichtlich illegal beschafften Aufnahmen nicht Stellung.

Sevim Dagdelen:
Herr Staatsminister, das ist vor dem Hintergrund, daß die türkische Regierung selbst schon Teile dieses Videos bestätigt hat, auch wenn es illegal erworben wurde, bemerkenswert. Vor dem Hintergrund, daß sich deutsche Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Stationierung von »Patriot«-Abwehrraketensystemen an der türkisch-syrischen Grenze befinden, ist es auch bemerkenswert, daß die deutsche Bundesregierung keine Stellung beziehen möchte und sich hinter der Aussage versteckt, sie könne die Authentizität nicht feststellen.

Deshalb meine Frage: Stimmen Sie mir zu, daß jemand, der die Vorbereitung für die Entfesselung eines Angriffskrieges mit Vorwänden wie die für den Tonkin-Zwischenfall 1964 oder das Racak-Massaker 1999 betreibt, vor den Strafgerichtshof gehört? Wird die Bundesregierung daher eine audioforensische Untersuchung, die der Bestätigung der Authentizität dieses Videos dient, in die Wege leiten, was übrigens nicht allzuviel kostet?

Michael Roth:
Frau Kollegin, lassen Sie mich anführen, daß die Türkei durch die Nachbarschaft zum Bürgerkriegsland Syrien direkt von den Folgen des Konflikts betroffen ist. Die Türkei hat sich in den vergangenen Monaten und Jahren sehr besonnen verhalten, und das, obwohl 72 Zivilisten durch syrische Angriffe zu Tode gekommen sind. Auf Beschuß grenznahen türkischen Territoriums hat sie immer nur reagiert. Die Bundesregierung ist im ständigen Gespräch mit der Türkei. Wir haben derzeit keinen Grund zu der Annahme, daß die Türkei diese Politik zu ändern beabsichtigt. Wir haben von Anfang an zu Besonnenheit aufgerufen. Wir erwarten, daß sich die Türkei als NATO-Mitgliedsland verantwortungsbewußt und besonnen verhält, daß alle bündnisrelevanten Fragen mit der NATO beratschlagt werden und daß die NATO bzw. die Alliierten konsultiert werden. Dies haben wir in allen Gesprächen mit der türkischen Seite immer wieder deutlich gemacht.

Sevim Dagdelen:
Ich möchte das kurz Revue passieren lassen. Herr Minister, der türkische Außenminister, der türkische Geheimdienstchef Fidan und der Vizegeneralstabschef treffen sich, und der Geheimdienstchef sagt: Wenn es nötig ist, kann ich vier Männer nach Syrien schicken. Ich würde sie acht Granaten auf die türkische Seite abfeuern lassen und so einen Vorwand für einen Krieg schaffen. Wenn nötig, kann auch ein Angriff auf die Grabstätte erfolgen. – Vor dem Hintergrund, daß Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Stationierung der »Patriot«-Abwehrraketensysteme und die NATO vor Ort sind, möchte ich Sie gerne fragen – auch weil das Erdogan-Regime wiederholt versucht, einen Einmarsch nach Syrien zu legitimieren, und weil die Bundesregierung aufgrund von NATO-Berichten weiß, daß alle Vorwände der türkischen Regierung einschließlich der Grundlage für die Stationierung der »Patriot«-Abwehrraketensysteme erlogen sind –: Welche Konsequenzen könnte ein Krieg, der von der türkischen Seite vom Zaun gebrochen wird, für die Stationierung der Bundeswehr haben, und ist die Bundesregierung dann gewillt, in diesen Krieg zu ziehen, der unter konstruierten Vorwänden von der türkischen Regierung ausgelöst wurde?

Michael Roth:
Ich hatte Ihnen schon mitgeteilt, daß die derzeitigen Reaktionen der türkischen Regierung rein reaktiv und defensiv sind, daß das NATO-Engagement – auch mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland – rein defensiv ist, daß wir bislang keinen Zweifel an Politik und Ausrichtung der Türkei hatten und daß wir in allen Gesprächen mit der türkischen Regierung darauf hingewiesen haben, daß wir erwarten, dass die Politik, die rein defensiv ausgerichtet ist, auch so fortgesetzt wird.

(…)

Inge Höger (Die Linke):
Herr Staatsminister Roth, ist Ihnen nicht bekannt, daß die türkische Regierung schon seit längerem dschihadistische Gruppen unterstützt, Waffenlieferungen über die Grenze zuläßt und ihnen die Türkei als Rückzugsgebiet zur Verfügung stellt? Wie kann man da noch von einer neutralen Rolle der Türkei sprechen?

Michael Roth:
Ich habe nicht von einer neutralen Rolle der Türkei gesprochen. Das ist auch schlechterdings nicht möglich, weil die Türkei mehrfach und wiederholt vom syrischen Staatsgebiet aus angegriffen wurde. Sie hat darauf reagiert, sie hat sich verteidigt, und sie wird im Rahmen der Bündnisverpflichtungen auch dabei von NATO-Einheiten unterstützt. Aber auch diese haben einen rein defensiven Charakter.

***

Frage (26) der Abgeordneten Sevim Dagdelen:
Welche eigenen Informationen (Anzahl, Kurs, Geschwindigkeit, Flughöhe, Abschußort) liegen der Bundesregierung aktuell über den Abschuß eines syrischen Kampfflugzeuges am 23. März 2014 vor, das nach Angaben türkischer Behörden den türkischen Luftraum verletzt haben soll und auf syrischem Gebiet westlich der Grenzstadt Kasab (Provinz Latakia) abgestürzt ist (dpa vom 23. März 2014), nachdem sich die Bundesregierung analog zum vermeintlichen Abschuß eines türkischen Kampfflugzeuges vom Typ F-4 Phantom am 22. Juni 2012 auf die Angaben der türkischen Regierung verlassen hat, obwohl diese später einräumen mußte, daß deren ursprüngliche Darstellung des Zwischenfalls unzutreffend war, und in welcher Form war die Integrierte Luftverteidigung der NATO – NATINADS – in den Abschuß des syrischen Kampfflugzeuges involviert?

Antwort Michael Roth:
Frau Kollegin Dagdelen, am 23. März 2014 kam es zum Abschuß eines syrischen Kampfflugzeuges durch türkische Luftverteidigungskräfte unter nationaler türkischer Führung. Dazu liegen der Bundesregierung keine eigenen Erkenntnisse vor. Der in den Erklärungen des türkischen Außenministeriums bzw. des türkischen Generalstabs benannte Luftraum liegt außerhalb der Bereiche, die durch die Radarsysteme der in Kahramanmaras stationierten deutschen »Patriot«-Systeme erfaßt werden können.

Sevim Dagdelen:
Herr Staatsminister, die integrierte Luftverteidigung der NATO beinhaltet nicht nur die Stationierung deutscher »Patriot«-Einheiten. Sie haben gesagt, daß Sie keine eigenen Erkenntnisse haben. Normalerweise liegen auch geheimdienstliche Informationen vor, die die Bundesregierung, wenn sie Interesse hat, abrufen kann, was normalerweise der Fall ist. Insofern möchte ich gerne wissen, inwieweit die integrierte Luftverteidigung der NATO vorausgegangene Flugbewegungen verfolgt hat und wem sie diese gemeldet hat. Sie können mir gerne die Antworten nachreichen, wenn Sie diese im Moment nicht geben können.

Michael Roth:
Ich möchte versuchen, Ihnen zu antworten, Frau Kollegin Dagdelen. Für die Kolleginnen und Kollegen, die mit dem Vorgang nicht so intensiv betraut sind, wiederhole ich: Eingangs hatte ich geschildert, daß am 23. März die türkische Luftwaffe ein syrisches Kampfflugzeug abgeschossen hat. Nach offiziellen türkischen Angaben haben sich zwei syrische Kampfjets aus Richtung Mittelmeer kommend dem türkischen Luftraum genähert. Die türkische Luftwaffe habe die beiden Kampfjets viermal gewarnt, in den Luftraum der Türkei einzudringen. Eine der beiden Maschinen ist abgedreht. Die zweite Maschine ist in den türkischen Luftraum vorgedrungen und dabei abgeschossen worden. In meiner Beantwortung kann ich mich nur auf die Informationen beziehen, die die deutsche Bundeswehr durch ihr Engagement im Rahmen des »Patriot«-Einsatzes vor Ort hat. Dort liegen uns keine eigenen Erkenntnisse vor, weil unsere Radarsysteme darauf nicht ausgerichtet sind.

Sevim Dagdelen:
Da man hier keine Antworten bekommt, wird man wieder gezwungen, Kleine Anfragen zu stellen. (…) Ich habe nicht nach den deutschen Erkenntnissen gefragt, sondern nach denen der integrierten Luftverteidigung der NATO. Meines Wissens müßte es Berichte der NATO geben wie bei dem Zwischenfall im Juni 2012, als die Türken behauptet haben, ein türkisches Militärflugzeug sei von Syrern abgeschossen worden. Das wurde von der NATO nicht bestätigt. Durch den Bericht der NATO wurden die Syrer entlastet. Deshalb trifft auch Ihre Behauptung nicht zu, daß die Türken neben der Bewaffnung der Al-Qaida-Milizen bisher defensiv agieren würden. Ich frage Sie noch einmal: Kann die Bundesregierung bezüglich des Zwischenfalls vom 23. März die Berichte der NATO und dazu noch zusätzliche Geheimdienstinformationen den Abgeordneten des Bundestages zur Verfügung stellen?

Michael Roth:
Ich habe Sie über den derzeitigen Kenntnisstand der Bundesregierung informiert. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, stehe ich Ihnen selbstverständlich uneingeschränkt zur Verfügung. Wir werden dann andere Wege finden, um Ihr Informationsbedürfnis zu stillen. Das tun wir selbstverständlich gerne.

Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen):
Herr Staatsminister! Die beiden Fragen der Kollegin Dagdelen stehen in einem inneren Zusammenhang. Wenn Sie hier keine eigenen Erkenntnisse haben und Ihre Einschätzung auf den Informationen unseres Bündnispartners Türkei beruhen, dann ist die Frage: Als wie glaubwürdig ist diese Information vor dem Hintergrund der Frage 25 der Kollegin Dagdelen einzuschätzen? Deshalb frage ich Sie noch einmal, und zwar eindeutig – ich bitte, das mit einem Ja oder Nein zu beantworten; denn bei der Frage sind keine Geheimschutzinteressen vorzuschieben –: Liegen der Bundesregierung von unseren oder befreundeten Diensten Informationen über die Echtheit oder Nichtechtheit der veröffentlichten Tonbandausschnitte vor? Ich frage Sie nicht nach der Einschätzung; ich frage Sie: Liegen Ihnen Erkenntnisse vor?

Michael Roth:
Ich habe die Frage schon mehrfach beantwortet …

Volker Beck:
Nein!

Michael Roth:
… und ich kann der bisherigen Beantwortung nichts weiter hinzufügen, Herr Kollege Beck.

Volker Beck:
Sie sollen ja oder nein sagen!

Michael Roth:
Sie können mir, bei aller Wertschätzung Ihnen persönlich und dem Deutschen Bundestag gegenüber, gar nicht vorschreiben, wie ich eine Frage zu beantworten habe. Das müssen Sie dann schon mir selber überlassen.

Vollständiger Wortlaut des Bundestagsprotokolls: bundestag.de (ab Seite 1960) [externer Link]

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. April 2014



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