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Eskalation nimmt ihren Lauf

Bundeskabinett beschließt Einsatz von Awacs-Flugzeugen und Patriot-Raketen in der Türkei

Von Aert van Riel *

Im syrischen Bürgerkrieg droht eine weitere Eskalation. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen deutsche Truppen Anfang 2013 in dem Nachbarland Türkei einsatzbereit sein.

In wenigen Wochen wird die Bundeswehr mit Kriegsgerät in der Türkei anrücken. Das Kabinett beschloss gestern in einer Sondersitzung, dass zwei Patriot-Raketenabwehrstaffeln entsendet werden. Damit folgt die Bundesregierung dem kürzlich getroffenen Beschluss der NATO. Für jede Batterie werden etwa 85 Soldaten benötigt. Zudem werden weitere Bundeswehrsoldaten für die Verlegung in die Türkei und die Teilnahme Deutschlands an den Befehlsstäben der NATO gebraucht. Auch der Einsatz von Awacs-Aufklärungsflugzeugen, die ohnehin in der Region stationiert sind, soll mit dem Mandat abgedeckt werden. Die Flugzeuge sollen per Radar den Luftraum überwachen. Die Höchstgrenze der Soldaten liegt laut Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) bei insgesamt 350 sowie einer Reserve von 50 Soldaten. Das Mandat ist zunächst bis Ende Januar 2014 befristet.

Offiziell geht es bei dem Patriot-Einsatz in der Türkei, an dem sich auch die USA und die Niederlande in einer ähnlichen Größenordnung wie die Bundesrepublik beteiligen, um die Bündnissolidarität mit dem NATO-Partner. In der Türkei waren aus Syrien, wo seit Monaten ein blutiger Bürgerkrieg tobt, immer wieder Granaten eingeschlagen. Ankara hatte die Angriffe erwidert. Die Patriot-Raketen sind für die Abwehr von Flugzeug-, Raketen- oder Drohnenangriffen geeignet. Nach dem vorliegenden Mandat dürfen sie nicht zur Durchsetzung einer Flugverbotszone eingesetzt werden. Allerdings hatten in den vergangenen Monaten Militärvertreter der Türkei sowie der USA an Plänen für eine Flugverbotszone im Norden Syriens gearbeitet. Ob diese Pläne nun vom Tisch sind, ist zumindest zweifelhaft.

Obwohl Syrien die Türkei derzeit keineswegs mit Flugzeugen oder Raketen bedroht, sprach Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) von einem »rein defensiven Einsatz innerhalb der Befehls- und Kommandostrukturen der NATO«. Deutschland sei an »keinerlei Überlegungen begleitet, die auf eine Intervention hinauslaufen«. Für die Politik Ankaras äußerte er Verständnis. Angesichts des zunehmenden Zerfalls des syrischen Regimes sei es verständlich, »dass sich die Türkei wappnen möchte«, sagte Westerwelle.

Linksparteivize Jan van Aken wies hingegen darauf hin, dass »die türkische Regierung die bewaffneten Rebellen im syrischen Bürgerkrieg unterstützt und dadurch einen zwischenstaatlichen Konflikt heraufbeschwört«. Es sei vollkommen inakzeptabel, die Türkei in dieser Eskalationspolitik auch noch mit deutschen Soldaten und Waffen zu unterstützen, erklärte der Außenpolitiker. Bisher konnte Ankara den Verdacht illegaler Waffenlieferungen in den Bürgerkrieg nicht widerlegen. Zudem dürfen die Rebellen die Türkei als Rückzugsgebiet nutzen.

Die Linksfraktion will in der kommenden Woche im Bundestag gegen den Militäreinsatz stimmen. Dagegen kann die Bundesregierung voraussichtlich mit der Unterstützung der Fraktionen von SPD und Grünen rechnen. Als Bedingung für eine Zustimmung nannte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin, dass in den nächsten Tagen noch geklärt werden müsse, wo die Patriots genau stationiert werden. Die Grünen wollen, dass die Raketensysteme nicht direkt an der Grenze zu Syrien stehen, weil sie ansonsten zur »Zielscheibe« werden könnten. So sieht es offenbar auch Schwarz-Gelb. Derzeit werden gemeinsam mit den Niederlanden vier Standorte geprüft. Die Raketensysteme sollen demnach in der Nähe von türkischen Städten etwa 80 Kilometer hinter der Grenze stationiert werden. Allerdings handelt es sich bei den Patriots um mobile Systeme, die auch näher an die Grenze heranfahren können.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 07. Dezember 2012


Deutschland schickt Raketen und Soldaten

Türkei erhält im Syrien-Konflikt angeforderte »Patriot«-Staffeln. Ablehnung nur von der Linkspartei **

Die Bundesregierung wird der Türkei in ihrem Konflikt mit Syrien zwei Staffeln »Patriot«-Raketen und bis zu 400 Soldaten für ein Jahr bereitstellen. Das beschloß das Kabinett am Donnerstag in Berlin. In der kommenden Woche soll der Bundestag darüber abstimmen. Während Die Linke ihr Nein ankündigte, begrüßen SPD und Grüne den Einsatz grundsätzlich.

Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) versicherte, die deutschen »Patriots« würden nicht in den syrischen Luftraum hineinwirken. Er begründete die Bereitstellung auch damit, daß Syrien im Besitz von Chemiewaffen sei. Worauf entsprechende Berichte westlicher Geheimdienste beruhen, ist unklar. Das NATO-Mitglied Türkei hatte die Raketen zu seinem Schutz angefordert.

Der Linke-Bundestagsabgeordnete Jan van Aken erklärte, es sei »verantwortungslos, 400 deutsche Soldaten mitten in den Nahostkonflikt zu schicken, der momentan jederzeit in einen regionalen Krieg münden kann«. Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, warnte, »Patriot«- und AWACS-Einsatz stellten »einen Meilenstein auf dem Weg der NATO in den Krieg dar«. Damit könne eine Flugverbotszone durchgesetzt werden, auch eine Bodeninvasion sei nicht auszuschließen, sagte Strutynski. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wiederum versicherte: »Deutschland ist an keinerlei Überlegungen oder Planungen beteiligt, die auf eine Intervention hinauslaufen«.

Die syrische Regierung nannte den NATO-Beschluß unterdessen eine Provokation. Zugleich betonte der stellvertretende syrische Außenminister Faisal Mekdad am Donnerstag im Interview des libanesischen TV-Senders Al-Manar, die Behauptungen, Damaskus könne Chemiewaffen einsetzen, seien Teil einer Verschwörung, die vermutlich die Grundlage für ein militärisches Eingreifen in Syrien legen solle. Selbst, wenn solche Waffen existieren würden, werde man »sie nicht gegen das syrische Volk« einsetzen, versicherte der Politiker.

** Aus: junge Welt, Freitag, 07. Dezember 2012

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Bundesregierung zündelt mit - Friedensbewegung gegen Patriot-Einsatz an der türkisch-syrischen Grenze (6. Dezember 2012)



Neuer Angriffskrieg

Raketen und Truppen für die Türkei

Von Von Sevim Dagdelen ***


Die Bundesregierung hat beschlossen, bis zu 400 Bundeswehrsoldaten und Luftabwehrraketen in die Türkei zu entsenden. Zudem will sie vom Bundestag die seit Monaten stattfindenden AWACS-Flüge mit deutscher Besatzung absegnen lassen. Die Begründung, die Verteidigungsminister de Maizière hierzu gab, ist deutlich: Die Aufklärungsflüge würden zukünftig in einem »mandatspflichtigen Umfeld« stattfinden. Das heißt: als Teil einer bewaffneten Auseinandersetzung, die erwartbar ist.

Das sind nicht die einzigen Hinweise darauf, daß am Rande der Sitzung des NATO-Rates am Dienstag, auf der dem türkischen Antrag auf die Verlegung der »Patriot«-Raketen »zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO« entsprochen wurde, ein Krieg beschlossen wurde. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verband die Ankündigung sogleich mit der Drohung einer »sofortigen Reaktion«, falls die Regierung in Damaskus chemische Waffen einsetzen sollte. Dem schloß sich Bundesaußenminister Westerwelle an. Eine entsprechende Drohung hatte am Tag zuvor US-Präsident Obama ausgesprochen. Sein Regierungssprecher Carney wollte nicht präzisieren, ob die »rote Linie« bereits mit verdächtigen Aktivitäten und Transporten von Chemiewaffen überschritten sei, machte aber deutlich, daß die Planungen für eine militärische Intervention bereits laufen. Es scheint, als würde das Drehbuch des Irak-Kriegs neu aufgelegt.

Die Bemühungen, die anstehende NATO-Intervention als Verteidigung oder Bündnisfall darzustellen, sind ohnehin halbherzig. Sowohl Obama, als auch Carney wiesen im gleichen Atemzug auf die Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten für die bewaffnete Opposition und weitere Aktivitäten für einen Regime change in Syrien hin. Darum geht es. In Teilen Aleppos ist das »neue Syrien« schon zu besichtigen. Dort, wo die Rebellen das Sagen haben, trägt es alle Züge einer saudischen Diktatur. Dies schert die NATO-Verbündeten allerdings wenig. Der NATO-Krieg gegen Syrien scheint beschlossene Sache. Dazu paßt, daß Merkels Sprecher zum Kabinettsbeschluß twitterte: »Solidarität mit der Türkei.« Während die AKP-Regierung islamistische Milizen in der Türkei für den Bürgerkrieg in Syrien ausbilden und bewaffnen läßt, und 10000 Oppositionelle, darunter über 100 Journalisten, in türkischen Gefängnissen schmoren, übt die Bundesregierung den Schulterschluß. Es geht um nicht weniger als um eine deutsch-türkische Waffenbrüderschaft für einen NATO-Angriffskrieg gegen Syrien. Die Bevölkerungen in Deutschland wie auch der Türkei sind gegen die Stationierung der Bundeswehr und einen Krieg gegen Syrien. Sie stehen für eine Kultur des Friedens gegen das aggressive NATO-Bündnis, das nach Afghanistan und Libyen bereit scheint, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen.

***Sevim Dagdelen ist Außenpolitikerin der Linksfraktion im Bundestag und Vizevorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe

Aus: junge Welt, Freitag, 07. Dezember 2012 (Gastkommentar)


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