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Im Eilverfahren in den Krieg

Deutsche Beteiligung am Patriot-Einsatz soll schnell beschlossen werden

Von Aert van Riel *

Nach dem Beschluss der NATO über die Entsendung von Patriot-Flugabwehrraketen in das türkisch-syrische Grenzgebiet soll der Bundestag bis Ende der kommenden Woche die deutsche Beteiligung abnicken.

Nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Raketensysteme, die offiziell dem Schutz des NATO-Staates Türkei vor Angriffen aus Syrien dienen, möglichst schnell verlegt werden. Die ersten Bundeswehrsoldaten werden voraussichtlich noch in diesem Jahr in der Türkei eintreffen. Die Bundesregierung erwägt die Entsendung von zwei deutschen Staffeln mit jeweils 85 Soldaten. Auch die Niederlande und die USA wollen Patriots entsenden. Heute wird das Kabinett über den Umfang einer deutschen Beteiligung entscheiden.

Daraufhin wird sich der Bundestag im Eiltempo mit dem Mandat befassen. Aus der Tagesordnung des Parlaments geht hervor, dass das Plenum am Mittwoch das erste Mal über das Thema beraten wird. Die Abstimmung steht am Freitag an. Eine breite Zustimmung gilt als sicher. Neben den Regierungskoalitionen von CDU/CSU und FDP hat auch die SPD ihre Zustimmung signalisiert.

Die Linksfraktion lehnt den Einsatz hingegen ab. »Ich glaube, dass der bisherige Zeitplan dazu ausreicht, um eine deutliche Ablehnung zu begründen«, sagte der verteidigungspolitische Sprecher, Paul Schäfer, gegenüber »nd«. Aus seiner Sicht trägt die Stationierung zu einer Eskalation des syrischen Bürgerkrieges bei. »Die Verlegung könnte auch die Türkei zu einem aggressiveren Verhalten ermutigen«, warnte Schäfer. Die türkische Regierung unterstützt die bewaffneten Rebellen im syrischen Bürgerkrieg. Auch wenn die NATO bisher erklärt hat, dass es sich um eine »Verteidigungsmission« handelt, geht Schäfer davon aus, dass eine »Flugverbotszone« über syrischem Gebiet noch nicht vom Tisch ist. Für eine solche Intervention ist aber ein Beschluss vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen notwendig.

Auch der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, sieht in dem engen Zeitplan im Bundestag kein Problem. »Es ist ein einfacher Sachverhalt in einer komplizierten Situation. Deswegen ist für uns Grüne die inhaltliche Auseinandersetzung entscheidend, nicht die formale«, sagte er dem »nd«. Die Grünen hatten als Bedingung für ihr Ja gefordert, dass mit den Patriots keine Flugverbotszone über Syrien errichtet wird. Zudem dürften keine militärischen Aktionen auf oder über dem syrischen Gebiet stattfinden. Die Grünen vertrauen hierbei der NATO, die nach ihrer Ansicht das Kommando haben muss. Das ist auch im Sinne des Militärbündnisses. Trotzdem sprach Nouripour nur von einer »eventuellen Zustimmung« seiner Fraktion. Aus seiner Sicht müsse auch im Mandat stehen, dass die Patriots, welche ein mobiles System sind, nicht an der Grenze stationiert werden, sondern weiter im Landesinneren. »Sie werden sonst zur Zielscheibe derjenigen, die die NATO in den Konflikt hineinziehen wollen«, sagte Nouripour.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 06. Dezember 2012


Chemiewaffen und "Patriots"

Von Jan van Aken **

Genau einen Tag, bevor die NATO einen Militäreinsatz in der Türkei beschließt, vermelden US-amerikanische Geheimdienste, dass Assad in Syrien jetzt seine Chemiewaffen einsatzbereit mache. Was für ein Zufall. Das erinnert doch sehr an die Biowaffenlügen, mit denen die USA-Regierung vor ziemlich genau zehn Jahren den Irak-Krieg begann. Heute ist es nicht ein Colin Powell vor dem Sicherheitsrat, sondern ein anonymer Informant in der »New York Times«. Der Effekt ist der gleiche: Die deutschen Medien überbieten sich in Chemiewaffen-Panik, Obama und Westerwelle schicken Warnungen nach Syrien. Wer mag jetzt noch etwas gegen deutsche Soldaten und »Patriot«-Raketen in der Türkei sagen?

Fakt ist, dass es gar keinen Zusammenhang zwischen syrischen Chemiewaffen und deutschen »Patriots« gibt. Ja, das Assad-Regime verfügt sehr wahrscheinlich über chemische Waffen. Das hat im Juli sogar ein Sprecher des syrischen Außenministeriums zugegeben. Es könnte auch stimmen, dass westliche Geheimdienste jetzt beobachtet haben, wie Chemiewaffen von verschiedenen Standorten in Syrien wegbewegt und an einem anderen Ort konzentriert wurden. Das wäre aber wenig überraschend, denn natürlich will das Assad-Regime auf jeden Fall vermeiden, dass Chemiewaffen in die Hände der bewaffneten Rebellen fallen. Deshalb ist es plausibel, dass sie an die sichersten Standorte verlegt werden. Daraus aber zu schlussfolgern, dass die Waffen einsatzbereit gemacht würden, ist pure Spekulation. Hinweise darauf gibt es gar keine.

Auf der anderen Seite ist es höchst unwahrscheinlich, dass Assad seine Chemiewaffen im Bürgerkrieg einsetzt. Er weiß genau, dass der Westen dann sofort militärisch eingreifen und somit jeder Chemiewaffeneinsatz das sofortige Ende seines Regimes bedeuten würde.

Und es ist, militärisch betrachtet, ein schlechter Witz, dass nun ausgerechnet das Raketenabwehrsystem »Patriot« Schutz vor den Chemiewaffen Assads bieten soll. Denn die Raketen sind ausschließlich geeignet, ballistische Raketen oder Flugzeuge abzufangen. Und niemand - auch das Weiße Haus nicht - wird ernsthaft annehmen, dass Assad eine Scud-Rakete mit Giftgas auf Rebellen abschießen würde. Die militärische Waffe der Wahl wären dann Granaten oder Bomben, die mit Giftgasen bestückt sind. Davon abgesehen geht nicht einmal Ankara selbst davon aus, dass Assad die Türkei vorsätzlich angreift - nicht mit dem sporadischen und irrtümlichen Artilleriebeschuss der letzten Wochen und erst recht nicht mit Marschflugkörpern, die dann auch noch Giftgase transportieren.

Wir sollten uns hüten, jetzt auf das Chemiewaffen-Getöse einzusteigen und damit einen Bundeswehreinsatz samt »Patriot«-Stationierung in der Türkei zu rechtfertigen. Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun - genauso wenig, wie es vor zehn Jahren Biowaffen in Irak gab. Und wir sollten nie vergessen, dass der Irak-Krieg, der mit einer Biowaffenlüge begann, mit über 500 000 Toten endete und ein Land hinterlassen hat, das sich absehbar nicht von den Folgen erholen wird.

** Jan van Aken war UN-Biowaffeninspektor und sitzt für DIE LINKE im Bundestag.

Aus: neues deutschland, Donnerstag, 06. Dezember 2012



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