Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Germans to the Front

Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg: Deutschland schickt Soldaten und Raketen in die Türkei. Bundestag und NATO vor vollendete Tatsachen gestellt

Von Knut Mellenthin *

Deutschland macht sich zum direkten Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg bereit, und der Bundestag läßt sich dabei zur Lachnummer degradieren. Zwar teilte Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) mit, man sei »nach intensiver juristischer Prüfung« zu dem Schluß gekommen, daß die Stationierung deutscher Soldaten und Raketen an der türkisch-syrischen Grenze der vorherigen Billigung durch das Parlament bedürfe. Aber schon einen Tag zuvor hatte Außenminister Guido Westerwelle verkündet, daß er die deutschen Diplomaten bei der NATO angewiesen habe, dem türkischen »Hilfsersuchen« zuzustimmen. Warum auch nicht, da das »Ja« des Bundestags angesichts der klaren Regierungsmehrheit schon feststeht. Auch die SPD »signalisierte« am Donnerstag ihre Bereitschaft zum Mitziehen, während die Grünen anscheinend noch nach Ausreden suchen, um sich diesem Trend anzuschließen. Mehr als eine Enthaltung ist von ihnen jedenfalls nicht zu erwarten. Nur die Fraktion der Linken wird mit Nein stimmen.

Juristische Formalitäten spielen in der deutschen Bilderbuchdemokratie ohnehin keine große Rolle. So fällt auch kaum auf, daß die Bundesregierung ihre »Hilfsbereitschaft« schon in der vorigen Woche öffentlich herausgeschrien hat, bevor es überhaupt eine offizielle Anfrage aus Ankara gab. Die traf erst am Mittwoch ein. Überfahren wurde von der deutschen Dampfwalze auch die NATO, die sich eigentlich als Kollektiv ihrer 28 Mitgliedstaaten mit dem türkischen Ersuchen befassen und dieses positiv entscheiden müßte, bevor einzelne Länder dazu Stellung nehmen. Die Allianz werde die Angelegenheit »unverzüglich« diskutieren, versprach NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Aber da hatte Berlin die Entscheidung schon verkündet, obwohl es noch nicht einmal den Text eines vom Bundestag zu beschließenden Mandats gibt.

Nach dem gegenwärtig bekannten Zeitplan soll die Entschließung in der ersten Dezemberhälfte oder vielleicht sogar noch in den letzten Novembertagen durch das deutsche Parlament gejagt werden. Warum es dann noch bis zum »Frühjahr« 2013 – ein nicht gerade präzise definierter Zeitraum – dauern soll, bis die Bundeswehr wirklich an der syrischen Grenze ankommt, ist nicht ersichtlich. Noch wird offengehalten, ob es sich um eine oder zwei Batterien des Luftabwehrsystems »Patriot« handeln wird. Jede einzelne erfordert 85 Mann Personal.

Die »Patriot« könnte Raketen oder Flugzeuge abfangen, nicht aber Artilleriegranaten, wie sie gelegentlich über die türkische Grenze geschossen wurden, ohne daß über deren Herkunft irgend etwas mit Sicherheit gesagt werden konnte. Daß der Türkei aus Syrien in Wirklichkeit keine Gefahr droht, gegen die die »Patriots« Sinn machen würden, verkündete dieser Tage ausgerechnet Springers Welt. Beim Flaggschiff der deutschen Pro-Israel-Lobby nimmt man Erdogan übel, daß er Israel als »Terrorstaat« bezeichnet und vor einer »ethnischen Säuberung« im Gazastreifen gewarnt hatte.

Aus ganz anderer Perspektive kritisierte das russische Außenministerium am Donnerstag die geplante »Militarisierung der türkisch-syrischen Grenze« durch die NATO-Raketen als »ein beunruhigendes Zeichen«. Besser wäre es, sagte Sprecher Alexander Lukaschewitz, wenn der Westen seinen Einfluß auf die Rebellen nutzen würde, »um schnellstmöglich den Beginn eines innersyrischen Dialogs zu erreichen«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 23. November 2012

Erklärung des Friedensratschlags zum Thema:

Unter der Rubrik "Abgeschrieben" veröffentlichte die jW einen Auszug aus der Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag. Der vollständige Text befindet sich hier:
Patriots für die Türkei? Bundeswehr auf dem Weg in den syrischen Bürgerkrieg?
Friedensratschlag appelliert an den Bundestag: Zehn triftige Gründe NEIN zu sagen (23. November 2012)




Zurück zur Türkei-Seite

Zur Syrien-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage