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Elke Hoff (FDP): "Dieser Einsatz ist ausschließlich defensiv" / Gregor Gysi (Linke): "Sie marschieren mit der Bundeswehr in den Nahen Osten ein."

Dokumentiert: Die zweite Bundestagsdebatte über den Einsatz von Patriot-Raketen und Bundeswehr im türkisch-syrischen Grenzgebiet - Namentliche Abstimmung


Am 14. Dezember 2012 debattierte der Deutsche Bundestag in zweiter und dritter Lesung über die den Einsatz der Bundeswehr im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Dazu gab es - wie schon zuvor am 12. Dezember - eine halbstündige Debatte. Als einzige Fraktion lehnte die LINKE den Einsatz geschlossen ab. Die namentliche Abstimmung ergab folgendes Ergebnis:
Ja-Stimmen: 461
Nein-Stimmen: 86
Enthaltungen: 8
[Die Namen der Nein-Stimmen und Enthaltunge befinden sich am Ende dieser Datei: Namentliche Abstimmung]

Ein Gegenantrag der Fraktion Die Linke (Drucksache 17/11896) wurde abgelehnt.
Im Folgenden dokumentieren wir die Debatte vom 14. Dezember nach dem amtlichen Protokoll.

Es sprachen in dieser Reihenfolge:


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

(...) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:
  • Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung
    Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012
    – Drucksachen 17/11783, 17/11892 –
(...)
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Elke Hoff (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir entscheiden heute über den Einsatz von Patriot-Raketenabwehrsystemen in der Türkei, bei einem unserer wichtigen Bündnispartner. Ich glaube, dass wir heute zwei wichtige politische Signale hier von Berlin aussenden:

Wir machen sehr deutlich – das ist die erste Botschaft –,dass Deutschland ein zuverlässiger Bündnispartner ist und dass unser Bündnispartner Türkei sich auch an dieser Stelle auf Deutschland verlassen kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die zweite wesentliche politische Botschaft, die wir heute von dieser Stelle aussenden, ist, dass sich das Bündnis und die Bundesregierung auf das Parlament verlassen können, weil wir hier in einem wirklich beispielhaften Zusammenspiel zwischen Teilen der Opposition, den Regierungsfraktionen und der Bundesregierung innerhalb kürzester Zeit zu der Entscheidung, dass aus sicherheitspolitischen Gründen eine Entsendung von deutschen Streitkräften sinnvoll und notwendig ist, gekommen sind, nachdem in einer intensiven Diskussion alle notwendigen Fragen beantwortet worden waren. Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön auch an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Warum ist das so wichtig? Weil die Soldatinnen und Soldaten eine breite politische Rückendeckung benötigen, wenn sie in einen anspruchsvollen und gefährlichen Auslandseinsatz gehen. Basierend auf den Erfahrungen, die wir mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz an dieser Stelle gemacht haben, glaube ich, dass auch für unsere Soldatinnen und Soldaten dieses hohe Gut des politischen Konsenses wichtig ist für die Erfüllung ihres Auftrages vor Ort.

Die Türkei hat eine Anfrage an die NATO gestellt. Es ist darüber diskutiert worden, wie wir dieser subjektiven Bedrohungsempfindung eines wichtigen Bündnispartners Rechnung tragen, gleichzeitig aber auch innerhalb unseres eigenen Landes Klarheit darüber schaffen können, welcher Auftrag damit verbunden ist.

Ich glaube, dass es sehr gut war, dass die Bundesregierung in dem Mandat Einsatzort und Anzahl der Soldaten klar festgelegt hat, aber auch sehr deutlich die politischen Schranken aufgezeigt hat: Dieser Einsatz ist ausschließlich defensiv. Er dient explizit nicht der Implementierung einer sogenannten Flugverbotszone über syrischem Territorium. Die Aufstellung der Systeme und die Art der Entsendung unserer Soldaten zeigen klar, dass die Wirkungsmöglichkeit ausschließlich auf türkisches Territorium und damit auf NATO-Territorium beschränkt ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dies sind wesentliche Voraussetzungen für die Zustimmung der Opposition. Aber auch aus Sicht der Regierungsfraktionen sind sie dringend notwendig. Denn damit können wir Missverständnissen in der öffentlichen Debatte vorgreifen. Wir haben festgestellt, dass schon angefangen wird, zu spekulieren, Dinge zu unterstellen. Das geht sogar so weit, dass unterstellt wird, dass Deutschland oder die NATO Konfliktpartei in Syrien würde. Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir mit diesem Mandat hinreichend geklärt haben, wie der Sachverhalt ist.

Ich möchte an der Stelle eines ausdrücklich betonen: Das Parlamentsbeteiligungsgesetz sieht selbstverständlich für dieses Parlament auch die Möglichkeit vor, Streitkräfte aus einem Einsatzgebiet abzuziehen, sollte sich die sicherheitspolitische Lage bzw. die Geschäftsgrundlage dieses Mandates signifikant verändern.

(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das wäre ja mal was!)

Das heißt, wir haben eine Reihe von Brandmauern eingebaut, die explizit deutlich machen, dass weder die NATO noch die Bundesrepublik Deutschland ein Interesse daran haben, unmittelbar Konfliktpartei in Syrien zu werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das seid ihr ja schon längst! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

Damit ist ein weiterer Punkt verbunden. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, meine Damen und Herren, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir mit einem Verbündeten in unserer unmittelbaren Nähe, mit unserem Nachbarn, den Niederlanden, gemeinsam zeigen, dass wir in Zukunft dem Gedanken von Smart Defence, von Pooling und Sharing, die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Das reibungslose Miteinander, die Abstimmung hinter den Kulissen und die erfolgreiche politische Rückendeckung, die sich die Niederlande und Deutschland gemeinsam geben, zeigen meiner Ansicht nach, dass dies ein guter Weg ist, um in Zukunft die Kooperationen im sicherheitspolitischen Bereich zwischen europäischen Partnern substanziell voranzutreiben.

Ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam mit unseren niederländischen Verbündeten versuchen werden, so viele Dinge wie möglich gemeinsam abzubilden – nicht nur, um Ressourcen zu schonen, sondern auch, um den Gedanken einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an einem ganz konkreten Beispiel voranzutreiben, meine Damen und Herren.

Meine Fraktion wird dem Mandat zur Entsendung von Patriot-Raketen die Zustimmung erteilen. Ich freue mich, dass es einen breiten Konsens gibt.

(Zurufe von der LINKEN)

Lassen Sie mich an der Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten, die entsandt werden, ein herzliches Dankeschön und ein herzliches „Glück auf!“ mit auf den Weg geben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Und einen weihnachtlichen Gruß!)

Herr Minister, ich freue mich auch, dass es gelungen ist, unsere Soldatinnen und Soldaten nicht schon zum Weihnachtsfest oder zum Jahreswechsel in den Einsatz bringen zu müssen, sodass sie die Festtage noch gemeinsam mit ihren Familien zu Hause feiern können.

Ich darf mich bei Ihnen allen sehr herzlich für die hervorragende Zusammenarbeit in diesem Jahr bedanken und wünsche allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Rainer Arnold (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Verantwortliche Sicherheitspolitik heißt, Risiken frühzeitig zu erkennen und langfristig Vorsorge zu betreiben. Das gilt in erster Linie für politische Prozesse, auch in Syrien. Wir finden, es ist ein richtiger Schritt, dass sich die Opposition in Syrien zusammengefunden hat und für die deutsche Außenpolitik ein Gesprächspartner sein kann.

Dazu gehört allerdings auch, dass bei aller Kritik an Russland – und Russlands Verhalten ist zu kritisieren – gleichzeitig akzeptiert und erkannt wird, dass russische Interessen mitbedacht werden müssen, wenn man in Prozesse eintreten will, die das Blutvergießen beenden sollen. Dazu gehört auch, dass die syrische Armee am Ende nicht zerschlagen wird; denn wir wissen, dass dieses Land, vollgestopft mit Waffen, eine Armee braucht, die den Daumen auf diese Waffen hält. Dazu gehört weiterhin, dass wir unserer Verantwortung für die Flüchtlinge gerecht werden. Diese Verantwortung umfasst mehr, als nur Geld zu geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen aber auch: Nicht alle Risiken sind vorsorgend politisch anzugehen. Dieses Land hat fast 1 000 Mittelstreckenraketen und besitzt chemische Kampfstoffe, die in Raketen verfüllt werden können. Die Realität ist, dass Assad fast täglich seine eigene Bevölkerung beschießt, dass Granaten in der Türkei einschlagen – eine Familie wurde ausgelöscht, und ein türkisches Flugzeug wurde über dem Mittelmeer abgeschossen – und dass Qassam-Raketen auf die eigene Bevölkerung gerichtet werden. Wer sagt uns eigentlich, dass nicht eines Tages eine fehlgeleitete Qassam-Rakete in der Türkei einschlagen könnte? Wir werden bei der Verlegung militärischer Fähigkeiten diese Risiken bedenken, gleichzeitig aber prüfen: Tragen die Patriot-Systeme zur Eskalation der Situation bei, oder wirken sie deeskalierend? Wir stimmen der Verlegung dieser Systeme zu, weil wir der festen Überzeugung sind: Sie wirken deeskalierend. Hierfür gibt es eine ganze Reihe von Gründen.

In erster Linie ist diese Verlegung einer routinemäßig vorhandenen, integrierten NATO-Fähigkeit der Luftverteidigung zum Schutz der Türkei eine politische Ansage. Sie lautet: Die NATO hält zusammen. Es ist gut, wenn dies alle wissen. Dieses Wissen hat in der Geschichte der NATO zu Frieden und Stabilität bei uns geführt.

Sollte aber – selbst wenn es ein unwahrscheinlicher Fall ist – eine Rakete auf türkisches Gebiet zufliegen, in urbanem Gebiet einschlagen und den Tod von Hunderten Menschen verursachen, dann würde das zu einer absoluten Eskalation der Situation bis hin zum Ausbruch eines Krieges führen. Deshalb ist es besser, dass Patriot-Systeme dies möglicherweise verhindern. Insofern trägt die Verlegung militärisch zur Deeskalation bei. Dieses System ist per se defensiv ausgerichtet.

Wir stimmen auch deshalb zu, weil die Regierung, aber auch die NATO und die Türken bei der Diskussion über diesen Antrag zugehört haben. Die Bedenken der Opposition wurden aufgenommen. Das gilt vor allen Dingen für die Formulierung, dass dieses System ausdrücklich nicht auf syrischem Staatsgebiet wirken darf. Das trifft aber schon aus operativen Gründen zu: Die Entfernungen sind nämlich so groß, dass dies technisch gar nicht möglich wäre. Für Fachpolitiker ist ebenfalls klar: Patriot-Systeme sind nicht das Mittel der Wahl zur Durchsetzung einer Flugverbotszone.

Nun hören wir natürlich immer wieder den Einwand: Dieses defensive System könnte auch andere Funktionen haben; es könnte der Türkei möglicherweise eigene Handlungsoptionen und -freiräume eröffnen. Dazu ist zu sagen: Bisher hat sich die Türkei in dieser ernsten Situation an ihrer Grenze außerordentlich besonnen verhalten. Dies muss so bleiben; das dürfen wir den Türken durchaus signalisieren. Dazu ist auch zu sagen: Das Patriot-System macht die Türkei in keiner Weise unverwundbar. Das System ist in der Lage, in einem sehr eng gefassten Kreis mit Radius von 30 Kilometern urbanes Gebiet und sensible Infrastruktur zu schützen, aber nicht das gesamte Staatsgebiet. Die Regierung hat in der Diskussion über die Mandatsfrage zugehört und am Ende unsere Rechtsauffassung übernommen. Wir sagten von vornherein: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 ist dieser Einsatz zu mandatieren. Dazu gehört dann auch, AWACS ins Mandat aufzunehmen.

In einem Punkt stimme ich mit der Kollegin Hoff völlig überein. Die schnelle Diskussion im Deutschen Bundestag über diesen Einsatz zeigt: Wir haben überhaupt keinen Grund, uns von irgendjemandem – weder von unseren Freunden in der NATO noch von einigen Kollegen der CDU/CSU – einreden zu lassen, die Bündnisfähigkeit werde beschränkt, weil es in Deutschland einen Parlamentsvorbehalt gibt. Der deutsche Parlamentsvorbehalt behindert nichts. Wir zeigen heute, dass er gut funktioniert.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie des Abg. Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU])

Nun wünschen wir uns allerdings, dass die Regierung auch noch in zwei anderen Punkten auf die Opposition hört. Der erste Wunsch bezieht sich auf die Frage der Finanzierung. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass weitere Aufgaben der Bundeswehr aus dem Einzelplan 60 finanziert werden sollen. Im Mandat steht aber, dass das Geld direkt aus dem Etat der Bundeswehr kommt. Gleichzeitig erzählen Sie den Soldaten, es sei kein Geld für dies und jenes vorhanden, vor allen Dingen nicht für Beförderungen von Mannschaftsdienstgraden. Ich hätte mir schon gewünscht, dass die Bundeskanzlerin sagt, wo es langgeht, wenn sich die Ressorts in dieser Frage nicht einigen können. Aber sie taucht auch bei diesem Thema ab.

Meinen zweiten Wunsch richte ich direkt an Sie, Herr Minister: Wann erkennen Sie angesichts der Realitäten, über die wir heute und möglicherweise auch im Januar diskutieren, endlich, dass Ihr Ansatz „Breite vor Tiefe“ nicht zukunftsfähig ist?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir verlegen ein System von Patriot-Raketen inklusive knapp 400 Soldaten in die Türkei, und gleichzeitig müssen diese Soldaten umziehen, weil Sie die Fähigkeit der Patriot-Raketen sozusagen halbieren, eine Fähigkeit, die innerhalb der NATO in nur drei Ländern vorhanden ist. Sie halbieren die Fähigkeit, statt zu sagen: Deutschland ist an dieser Stelle stark, hier können wir dem Bündnis etwas Präventives anbieten.

Mein letzter Punkt. Ich habe mit Sicherheitsvorsorge begonnen und will damit auch enden. Sicherheitsvorsorge ist etwas anderes, als immer nur situativ zu diskutieren und zu reagieren. Wir alle wissen um die Umbrüche in der arabischen Welt und im nördlichen Afrika. Deutsche Politik handelt hier – siehe Libyen, siehe die Debatten, die wir aktuell geführt haben; der Einstieg in die Diskussion über die Patriot-Raketen war wirklich nicht ganz glücklich – ein Stück weit situativ statt konzeptionell und langfristig unterlegt.

Herr Minister und Frau Bundeskanzlerin, es reicht nicht aus, wenn Sie bei einer Konferenz die Überschrift produzieren: „Es gibt Länder, die strategische Partner sind“. Nein, wir brauchen in der deutschen Gesellschaft, vor allen Dingen auch im Deutschen Bundestag, eine echte sicherheitspolitische Debatte über die strategische Ausrichtung und über die wohlverstandenen Stabilitätsinteressen Deutschlands.

Diese Debatte fehlt bis jetzt. Sie könnten sie anstoßen. Warten Sie nicht darauf, dass sie sich irgendwie ergibt. Geben Sie hier eine Regierungserklärung zur Sicherheitspolitik ab. Wir können dann gemeinsam darüber diskutieren. Wir bieten Ihnen das ausdrücklich an.

Ich bin überzeugt davon: Es gibt eine Reihe von Punkten, bei denen Konsens zu erzeugen wäre. Aber es ist nicht gut, dass Sie solche Überschriften produzieren, um möglicherweise Rüstungsexporte zu erleichtern, aber in der Gesellschaft, im Parlament den Diskurs darüber verweigern. Das tut den deutschen Interessen nicht gut, weil wir einen Nachholbedarf an strategischer Orientierung haben. Ich wünsche mir, dass Sie auch hier auf die Opposition hören.

Ansonsten ist es ein Thema, das zu den friedlichen Tagen kurz vor Weihnachten passt. Wir sind froh, dass an die Soldaten das Signal ausgeht: Der Deutsche Bundestag trägt Ihre schwierige Aufgabe mit sehr großer Mehrheit.

Herzlichen Dank und ein frohes Fest.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Philipp Mißfelder, CDU/CSU




Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei meinem Kollegen Arnold dafür bedanken, dass er das Mandat und die Tragweite des Mandates richtig eingeordnet hat. Gerade der defensive Charakter, den Sie stark herausgearbeitet haben – das ist etwas, was die Fraktionen im Deutschen Bundestag weitgehend verbindet –, zeigt, wie wichtig die Beratung im Vorfeld war. Damit konnten wir in der Öffentlichkeit dem Eindruck entgegenwirken, wir würden auch nur einen Schritt, und sei er noch so klein, in Richtung Eskalation gehen.

Wir gehen auf eine Bitte ein, die unser NATO-Partner Türkei an uns gerichtet hat. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Wenn ein NATO-Partner uns um Hilfe bittet, dann entsprechen wir dieser Hilfe auch. Trotzdem hat es im Vorfeld Diskussionen gegeben. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass aufgrund der Vielzahl von Einsätzen, die wir mittlerweile hier im Plenum zu beraten haben, zu Recht kritische Fragen gestellt werden. Sie sind bei uns rauf und runter diskutiert worden. Ich glaube, wir haben gemeinsam mit der Regierung mit diesem Mandat die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen gefunden.

Ich möchte eine grundsätzliche Bemerkung zur NATO selber machen. Deutschland ist das Land, das am stärksten von der NATO profitiert hat. Die NATO hat uns zu Zeiten des Kalten Krieges geschützt; die NATO hat Deutschlands Bürgern immer Sicherheit garantiert; die NATO hat vor allem einen enormen Beitrag dazu geleistet, dass unser Vaterland wiedervereinigt worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Um es deutlich zu sagen: Für unsere Fraktion ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir helfen, wenn uns ein NATO-Partner, in diesem Falle die Türkei, um unsere Hilfe bittet. Deshalb weise ich die Kritik am Mandat und die Kritik an der Türkei ausdrücklich zurück. Seitens der SPD-Fraktion ist schon gesagt worden: Die Türkei leistet zurzeit wirklich sehr, sehr gute Arbeit.

(Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Gerade dadurch, dass sie sich so zurückhaltend verhält, wirkt sie deeskalierend.

Herr Kollege Nouripour, ich höre Ihre Zwischenrufe; die Zuschauer zu Hause können Zwischenrufe in der Regel nicht verstehen. Sie, Herr Kollege, haben sich im Vorfeld sehr kritisch geäußert. Die Türkei ist für uns ein wichtiger strategischer Partner und Freund. Ich glaube, wir werden keine Lösung des Syrien-Konflikts ohne die Türkei erreichen. Deshalb müssen wir die Türkei politisch und an dieser Stelle auch militärisch unterstützen, damit die Lage in der Türkei sicher bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Türkei ist außerhalb Syriens das mit Abstand am stärksten von diesem Konflikt betroffene Land: 120 000 Flüchtlinge, zum Teil katastrophale Zustände. Deshalb möchte ich hier auch sagen – das haben wir in dieser Woche schon oft betont –, dass die militärische Komponente für uns nie die Gesamtlösung darstellt. Unsere Fraktion legt größten Wert auf einen gesamtpolitischen Ansatz. Deshalb hat unser Außenminister in dieser Woche in Marrakesch zu Recht starke Signale ausgesendet, die zeigen, dass wir die politische Unterstützung der Opposition in Syrien vorantreiben und weiter an einer politischen Lösung arbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist natürlich sehr schwierig, eine solche Lösung zu finden. Neben dem militärischen Engagement, über das wir hier heute beraten, und der Soforthilfe, die geleistet wird, ist aber auch strukturelle Hilfe unabdingbar, um der Flüchtlingsproblematik gerecht werden zu können. Problematisch ist in diesem Fall natürlich vor allem die Rolle Russlands. Ich möchte unserem Bundesaußenminister insbesondere dafür danken, dass er sein Werben um die Russen nicht aufgegeben hat. Die Situation ist sehr verfahren, weil die UNO sich in einer Selbstblockade befindet und weil China und Russland nicht konstruktiv mitarbeiten. Dadurch verhindern sie letztendlich, dass die UNO ihrer Rolle als Weltpolizei gerecht werden kann. Wir sollten trotzdem weiter auf Dialog setzen. Das tun Sie, Herr Minister, und dafür danke ich Ihnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich fand es richtig, dass sich der NATO-Russland-Rat mit dem Thema beschäftigt hat, auch wenn die Ergebnisse bei weitem noch nicht so waren, wie sie sein müssten.

Wir profitieren von einer sicheren, von einer starken Türkei, die als Regionalmacht in vielen anderen Konflikten, aber auch bei der Neuorientierung der arabischen Welt zukünftig eine fundamentale Rolle spielen wird. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir der Türkei das notwendige Vertrauen entgegenbringen. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir den Sicherheitsinteressen der Türkei, die um unsere Solidarität wirbt, gerecht werden und uns darum kümmern, dass die Türkei ein sicheres Land ist, das sich in der NATO-Partnerschaft gut aufgehoben fühlt.

Die Zivilbevölkerung in der Türkei ist voller Sorge über mögliche Angriffe aus Syrien. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf den Fortgang des Mandats eingehen. Der amerikanische Präsident hat deutliche Worte zur Problematik der Chemiewaffen in Syrien gefunden. Nach den aktuellen Erkenntnissen sind syrische Waffen weiterhin auf Israel gerichtet, nicht auf die Türkei. Das könnte sich natürlich jederzeit ändern. Mit dieser Sorge haben die türkische Politik und die türkische Zivilbevölkerung zu leben. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Patriot-Systeme einsetzen. Damit begegnen wir von vornherein der Gefahr einer weiteren Eskalation, die angesichts dieser schwierigen Situation in Syrien jederzeit stattfinden kann. Außerdem beruhigen wir damit auch die türkische Bevölkerung und sorgen dafür, dass das türkische Staatsgebiet unverletzt bleibt und keine Region unbewohnbar wird.

Ich glaube auch, dass wir der Auffassung der Amerikaner zustimmen können, dass der Einsatz von Chemiewaffen das Überschreiten einer roten Linie darstellt, angesichts dessen sich die Weltgemeinschaft endgültig fragen lassen muss, warum sie bislang nicht in der Lage gewesen ist, dem UNO-Statut „Responsibility to Protect“ gerecht zu werden, also der Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Bislang blockiert sich die UNO selbst; bislang liefert die UNO in diesem Konflikt um Syrien ein Trauerspiel ab.

Wir können es nicht hinnehmen, dass Assad sein Volk weiter tötet. Wir können es nicht hinnehmen, dass es möglicherweise zu einer weiteren Eskalation in Richtung Libanon kommt oder gar unser NATO-Partner Türkei in diesen Konflikt hineingezogen wird. Deswegen werben wir für dieses Mandat und für unsere weiteren politischen Initiativen, um den Konflikt einzugrenzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Reißen Sie sich am Riemen, Herr Gysi!)

Dr. Gregor Gysi, Die Linke




Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland besitzt zwölf einsatzfähige Patriot-Feuereinheiten, die uns seit 1989 immerhin 3,048 Milliarden Euro gekostet haben. Die Linke hat immer erklärt: Wir müssen darauf verzichten, die modernste Kriegstechnik einzukaufen. Sie ist auch die teuerste. Sie sahen das immer anders. Es gibt kein Land, das Deutschland überfallen will. Wir brauchen überhaupt nicht die modernste Kriegstechnik auf der Welt.

(Beifall bei der LINKEN)

Damit ist auch eine riesige Verschwendung von Steuergeldern verbunden. Nun kommt ein neuer Aspekt hinzu: Wer die modernsten Waffen besitzt, wird am häufigsten zum Krieg eingeladen. Denn die Türkei bittet nur die USA, Holland und Deutschland um Hilfe, weil wir die modernste Technik haben. Vielleicht hören Sie einmal auf die Linke und hören auf, immer die modernste Kriegstechnik einzukaufen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Mit Patriot-Raketen kann man, so sagt es auch der Bundesverteidigungsminister, nicht ein einziges Geschoss abwehren, das bisher aus Syrien in der Türkei eingetroffen ist. Sie sind also gar nicht dafür geeignet. Eigentlich ist es sinnlos. Nun wird der Verdacht eines möglicherweise bevorstehenden Einsatzes von Chemiewaffen geäußert. Ich halte diesen für falsch; denn auch Assad weiß, dass dann die internationale Gemeinschaft einmarschieren würde. Das wird nicht passieren. Mit Patriot-Raketen können Sie übrigens auch Chemiewaffen nicht bekämpfen.

Wieso also wird etwas stationiert, das überhaupt nicht gebraucht wird? Das macht nur in einem Fall Sinn: Wenn es eine Flugverbotszone gibt. Aber der Außenminister und der Verteidigungsminister sagen beide, dass es sie nicht geben wird. Ich sage Ihnen: Das ist ein schweres Eingeständnis von Untreue. Wir sollen 25,1 Millionen Euro bis zum 31. Januar 2014 für etwas ausgeben, das niemand braucht, nur zur Beruhigung der Gefühle der türkischen Regierung? Dazu sage ich Ihnen: Wenn die türkische Regierung besser schlafen will, dann soll sie endlich einmal die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Oppositionellen, Kurdinnen und Kurden und Alawiten einstellen, also lernen, Minderheiten anders zu behandeln.

(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Mein Gott, Herr Gysi! Das hat doch mit Assad nichts zu tun!)

Drittens. Sie kennen die Bedenken Russlands. Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. Das wissen auch Sie, Herr Westerwelle.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das macht er doch die ganze Zeit!)

Viertens. Die schlimmste Katastrophe – dazu komme ich jetzt – ist eine andere: Sie marschieren mit der Bundeswehr in den Nahen Osten ein.

(Lachen bei der FDP – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Herr Gysi, jetzt ist aber Schluss! Meine Güte! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

– Machen Sie nicht? Ich bin ja noch nicht fertig. Hören Sie zu. – Sie marschieren mit der Bundeswehr in den Nahen und Mittleren Osten ein, nicht etwa auf Beschluss der UNO, nicht etwa, um die Einhaltung eines Waffenstillstandes zu kontrollieren,

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Sie wissen überhaupt nicht, worum es geht!)

sondern auf Wunsch der Türkei im Rahmen des NATO-Bündnisses. Sie machen Deutschland schon mit dem Einmarsch und erst recht mit dem Abschuss einer einzigen Rakete zur Kriegspartei im Nahen und Mittleren Osten.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wollen Sie die Raketen lieber einschlagen lassen?)

Genau das darf Deutschland niemals werden. Wir können dort eine Rolle als Vermittler spielen, aber um Gottes Willen nicht als Kriegspartei. Die Folgen wären verheerend. Sie wissen gar nicht, was Sie damit anrichten können.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Sie sind aber wirklich 20 Jahre stehen geblieben! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Keine Ahnung! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

– Ich wusste, dass Sie sich aufregen werden, aber Sie müssen mir trotzdem zuhören.

Die Türkei stellt sich immer deutlicher gegen Israel.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt hören Sie aber auf! Ihre Fraktion stellt sich die ganze Zeit gegen Israel!)

Die Bundesregierung steht immer auf der Seite Israels. Die Türkei unterstützt die Hamas. Die Bundesregierung redet nicht einmal mit der Hamas. Ich habe jetzt keine Zeit, zu sagen,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das reicht jetzt auch!)

was davon ich richtig und was davon ich falsch finde.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Sie selbst begeben sich damit in unlösbare Widersprüche.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie diesen Schnellschuss. Mir ist es ein Rätsel, dass wieder einmal auch SPD und Grüne zustimmen.

Jetzt habe ich noch eine Frage. Herr Schockenhoff von der CDU hat hier am Mittwoch Folgendes erklärt. Er hat gesagt:

Da der UN-Sicherheitsrat bis heute blockiert ist und keine wirksamen Maßnahmen ergreifen konnte, war kein anderer Weg möglich, als die syrische Opposition mit Waffen zu versorgen, um das syrische Regime zu stoppen. ... Ja, ich sage das ganz offen ...

So weit sein Zitat.

Das muss jetzt geklärt werden. Das wäre völkerrechtswidrig, und es würde auch das Recht der Bundesrepublik Deutschland ganz energisch verletzen, wenn heimlich Waffen nach Syrien geliefert worden sein sollten.

(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das wollen Sie uns doch wohl nicht unterstellen?)

Mein letzter Satz: Wir müssen in Anbetracht unserer Geschichte gemeinsam verhindern, dass Deutschland zur Kriegspartei im Nahen oder Mittleren Osten wird.

(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Mein Gott!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller, (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):




Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Also, bei aller Liebe, Gregor Gysi – –

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Lieber nicht! – Heiterkeit)

– Na ja, manchmal kann man ja auch mit ihm einen Kaffee trinken.

Nur ein kleiner Hinweis, ein Satz: Die Türkei ist NATO-Partner, sie ist im NATO-Bündnis, es gilt der NATO-Vertrag. Angesichts des Antrags der Bundesregierung von einem Einmarsch der Deutschen in den Nahen Osten zu sprechen, das ist ein derart abstruser Populismus, dass man auf diese Rede nicht weiter eingehen muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Zum Thema. Nach 21 Monaten blutigem Bürgerkrieg – dazu wurde hier wenig gesagt – gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass das Regime Assad auf sein Ende zusteuert.

Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung und mehr als 100 weitere Staaten die Nationale Koalition endlich als legitime Vertreterin des syrischen Volkes anerkannt haben. Das war überfällig, und das ist für die Menschen in Syrien sehr wichtig.

Die Tatsache allerdings, dass die Zahl der Flüchtlinge gerade noch einmal dramatisch zunimmt – jeden Tag sind es 3 000 mehr, die sich an den Grenzen melden –, deutet darauf hin, dass das Regime jetzt noch brutaler gegen sein eigenes Volk vorgeht, mit Brandbomben und mit Scud-Raketen. Mehr als eine halbe Million Syrer sind in die Nachbarländer geflohen, allein die Türkei hat 136 000 aufgenommen. Bis zu 2 Millionen Flüchtlinge irren innerhalb Syriens umher.

Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, im Kontext der Stationierung der Patriot-Systeme war viel von Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei die Rede. Ich möchte hier sehr deutlich sagen: Für mich gehört zur Solidarität auch, dass wir den betroffenen Nachbarländern bei der Bewältigung dieses Flüchtlingsdramas helfen, und zwar nicht nur mit humanitärer Hilfe, sondern ganz konkret mit der unbürokratischen Aufnahme von Flüchtlingen. Selbst der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ihr Kollege Polenz, hat gesagt: Lassen wir doch wenigstens die Flüchtlinge, die von ihren hier lebenden Angehörigen eingeladen werden, nach Deutschland kommen!

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das wäre ein wichtiges politisches Signal und ein wichtiges Signal der Humanität, gerade jetzt vor Weihnachten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe für die Fraktion der Grünen von Anfang an deutlich gemacht: Wenn sich der Partner Türkei durch den blutigen Bürgerkrieg an seinen Grenzen bedroht fühlt und sich deshalb an die NATO wendet, dann werden wir eine solche Anfrage ernsthaft prüfen; denn genau das ist der Sinn des NATO-Bündnisses.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?

(Zurufe: Nein!)

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich glaube, nicht. – Meine Damen und Herren von der Linken, bei allem Misstrauen, das man gegenüber Erdoğans sonstigen Interessen haben kann und muss, sage ich: Dass die Türkei nach mehrfachem Granatenbeschuss Sorge hat, in Zukunft von syrischen Scud-Raketen bedroht zu werden, können Sie ihr nicht ernsthaft absprechen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Es ist zwar richtig: Viel Rationalität hätte ein solches Vorgehen aus Sicht des syrischen Regimes nicht; denn solange dieser Bürgerkrieg nicht internationalisiert wird, kann der Diktator Assad Menschen morden, sie foltern, sie vertreiben, sie mit Raketen beschießen. Aber welche Rationalität hat ein zerfallendes Regime? Maßen Sie sich an, zu wissen, welche Teile des Regimes morgen mit Raketen um sich schießen?

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sie aber auch nicht!)

Und das Assad-Regime verfügt über Chemiewaffen. Das Regime hat das nicht bestritten, sondern es im Gegenteil noch einmal zugegeben. Ein Einsatz dieser Waffen ist ein Szenario, auf das die Patriot-Systeme keine ausreichende Antwort wären. Selbst der russische Protest gegen die Stationierung der Patriot-Systeme hat sich merkwürdig schnell gelegt.

Also: Der NATO-Partner Türkei sieht sich subjektiv in seiner Sicherheit bedroht. Allein das ist hinreichend für eine Anwendung von Art. 4 NATO-Vertrag.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dennoch ist uns wichtig, dass wir mit der Stationierung der Patriot-Systeme nicht in den Bürgerkrieg hineingezogen werden. Wir begrüßen es daher sehr, dass im Mandat jetzt ganz klar festgehalten ist: Die Patriots dienen nicht der Einrichtung einer Flugverbotszone. Sie werden so aufgestellt, dass sie nicht in den syrischen Luftraum hineinwirken. Damit hat die Bundesregierung unsere Bedenken ausgeräumt, ebenso mit der klaren Ansage in den Ausschüssen: Sollte sich daran etwas ändern, wird der Bundestag noch einmal mit dieser Angelegenheit befasst. Meine Fraktion wird dem Mandat aus diesen Gründen mit großer Mehrheit zustimmen.

(Zurufe von der LINKEN)

Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Es geht uns darum, dass die Türkei eingebunden wird. NATO bedeutet eben auch: Verantwortung auf beiden Seiten. Mir ist lieber, wir binden die Türkei frühzeitig im Rahmen der NATO ein und senden damit die klare Botschaft: Keine Alleingänge! Dafür sorgen wir aber für eure Sicherheit.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum letzten Satz. – Wir verbinden mit dieser breiten Zustimmung aber auch die Forderung, dass die Bundesregierung nicht nur militärisch, sondern auch humanitär und menschenrechtlich alles tut, um den Nachbarstaaten zu helfen und das Leid der syrischen Bevölkerung zu lindern.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Letzter Redner in der Debatte ist Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Tagen haben wir als Parlament unsere Bündnisfähigkeit unter Beweis gestellt. Es vergingen nur zehn Tage vom Beschluss der NATO bis zur Beschlussfassung hier im Bundestag. Niemand kann sagen, unser parlamentarisches Verfahren halte etwas auf bzw. die Reaktionsfähigkeit der Regierung sei durch uns eingeschränkt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Gegenteil: Ich würde sogar sagen: Wenn das Parlament heute nicht in der Verantwortung wäre, dann hätte es die Regierung sehr schwer gehabt, das Thema so schnell zu einem breiten Konsens zu führen.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Gibt es denn einen Konsens? Das bilden Sie sich doch nur ein!)

Ich möchte mich bei unserem Verteidigungsminister und unseren Soldaten in der Bundeswehr bedanken, weil ja nicht nur wir diesen kurzen Vorlauf hatten. Die Soldaten müssen sich auf diesen Einsatz vorbereiten, und wir wissen, dass die Patriot-Staffeln auch andere Einsatzverpflichtungen haben. Innerhalb von wenigen Wochen jetzt in den Einsatz zu gehen, ist eine enorme logistische Herausforderung. Von unserer Seite allen Dank und Respekt dafür!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Zum Mandat selbst. Die Türkei hat die NATO zum Schutz ihrer Bevölkerung und ihres Territoriums um Hilfe gebeten. Wir als NATO-Mitglied haben die Fähigkeit, diese Hilfe zu leisten, und wir helfen unserem bedrohten Partner Türkei selbstverständlich. Genau dafür ist die NATO auch da. Die wenigen Kritiker des Mandats fragen: Ist die Türkei überhaupt bedroht? Warum soll Assad die Türkei denn überhaupt angreifen? Herr Gysi hat gesagt, Assad wisse doch, dass er dann die gesamte internationale Gemeinschaft und die NATO gegen sich hätte. Richtig, aber genau das zeigt ja, dass die Strategie der Abschreckung funktioniert. Genau das ist der Ansatz der NATO. Mit der Stationierung der Patriots unterstreichen wir das und setzen ein sichtbares Zeichen der Bündnissolidarität: Die Türkei ist einer von uns!

Es geht aber nicht nur darum, Zeichen zu setzen. Die Türkei ist bedroht – Punkt! Herr Gysi, ich finde es, ehrlich gesagt, ziemlich arrogant, das von hier aus zu verneinen. Ich weiß nicht, wie sicher Sie sich fühlen würden, wenn an unseren Grenzen Scud-Raketen einschlagen würden, die auch bis zu uns reichen würden,

(Jan van Aken [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht! Sie wissen doch, dass das gelogen ist!)

und wenn Sie genau wissen würden, dass derjenige, der sie abschießt, über geschätzte 1 000 Tonnen chemische Massenvernichtungswaffen verfügt, die er gegen uns einsetzen kann.

(Jan van Aken [DIE LINKE]: Herr Brandl, das stimmt doch gar nicht!)

Wir müssen doch damit rechnen, dass das Regime zerfällt, dass dann Chaos herrscht und dass dann irgendjemand in diesem Chaos auf die Idee kommt, sich bei denen zu rächen, die die Opposition unterstützt und zum Beispiel auch die Flüchtlinge aufgenommen haben. Die Türkei ist nun einmal das einzige Land in Reichweite. „In Reichweite“ ist hier durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn das keine Bedrohung für ein Land und ein Volk darstellt, dann weiß ich nicht, was eine Bedrohung sein soll. Vor diesem Hintergrund finde ich auch die Diskussion über die Stationierungsorte nicht angemessen. Das Kriterium muss doch sein: „Wo entfalten die Raketen die größte Schutzwirkung? Wo sind Menschenansammlungen? Wo sind die großen Städte? Wo ist die wichtige Infrastruktur?“, und nicht: Je weiter weg von der Grenze, desto besser. Auch die Unterstellungen zwischen den Zeilen gegenüber der Türkei haben mich geärgert.Wenn die Türkei in ihrem Antrag explizit schreibt: „Es ist eine rein defensive Maßnahme, und es geht nicht um die Durchsetzung einer Flugverbotszone“, dann sollten wir unserem Bündnispartner Türkei glauben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind Teil der NATO. Wir haben von der Solidarität der Partner in der NATO jahrzehntelang profitiert. Jetzt sind wir gefragt, Solidarität zu zeigen. Wir sollten uns dem nicht verweigern. Ich bitte Sie herzlich um Zustimmung zu diesem Mandat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11892, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/11783 anzunehmen.

Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Hierzu liegen mir eine ganze Reihe persönlicher Erklärungen zur Abstimmung vor.1)

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.


Quelle: Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht, 215. Sitzung, Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012, S. 26553 - 26561; das ganze Protokoll: http://dip21.bundestag.de.

Namentliche Abstimmung

Im Folgenden dokumentieren wir die Nein-Stimmen und Enthaltungen:

Mit NEIN stimmten:

Die Linke: Jan van Aken, Agnes Alpers, Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Christine Buchholz, Eva Bulling-Schröter, Martina Bunge, Roland Claus, Sevim Dagdelen, Diether Dehm, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Nicole Gohlke, Diana Golze, Annette Groth, Gregor Gysi, Heike Hänsel, Rosemarie Hein, Barbara Höll, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Harald Koch, Jan Korte, Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Michael Leutert, Stefan Liebich, Ulla Lötzer, Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Ulrich Maurer, Dorothee Menzner, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau, Jens Petermann, Richard Pitterle, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Paul Schäfer, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Petra Sitte, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Kirsten Tackmann, Frank Tempel, Axel Troost, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Johanna Voß, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann

Fraktionslos: Wolfgang Neskovic

SPD: Klaus Barthel, Bärbel Bas, Lothar Binding, Ulla Burchardt, Peter Danckert, Angelika Graf, Hans-Joachim Hacker, Petra Hinz, Bärbel Kofler, Christine Lambrecht, Steffen-Claudio Lemme, Hilde Mattheis (hier geht es zu ihrer Stellungnahme, Swen Schulz, Marlies Volkmer, Waltraud Wolff

Bündnis 90/Die Grünen: Monika Lazar, Hans-Christian Ströbele

Enthaltungen:

SPD: Marco Bülow, Marlene Rupprecht, Ewald Schurer

Bündnis 90/Die Grünen: Memet Kilic, Maria Klein-Schmeink, Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Wolfgang Strengmann-Kuhn

(65 Abgeordnete haben sich an der Abstimmung nicht beteiligt.)


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