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"Diese Sprengfallen sind besonders gefährlich"

Die befreite Kurdenstadt Kobani ist voller Munitionsreste und gefährlicher Blindgänger. Ein Gespräch mit Eva Maria Fischer *


Eva Maria Fischer ist Leiterin der Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit des Vereins Handicap International Deutschland mit Sitz in München.
www.inew.org


Die Terrormilizen des »Islamischen Staats« hatten im vergangenen Jahr Kobani im Norden Syriens erobert. Die in Grenznähe zur Türkei gelegene kurdische Stadt ist jetzt aber befreit. Wie ist die Situation dort?

Kobani ist mit Rückständen explosiver Waffen extrem belastet – unsere Räumungsexperten sagen, sie hätten so etwas noch nie erlebt. Das ist Ergebnis der vier Monate dauernden Bodenkämpfe sowie der Luftangriffe durch die Koalition unter Führung der USA. Dabei wurden fast 80 Prozent aller Gebäude zerstört; durchschnittlich zehn Munitionsteile pro Quadratmeter blieben im Stadtzentrum zurück. Blindgänger und Sprengfallen gefährden die Rückkehr der syrischen Bevölkerung und schränken somit auch die humanitäre Hilfe ein. Handicap International klärt deshalb über die Risiken auf und hat vor einer Woche mit Räumungsmaßnahmen begonnen. Wir fordern zudem die internationale Gemeinschaft auf, sich um das gefährliche Erbe zu kümmern, das durch den Einsatz explosiver Waffen in bevölkerten Gebieten entsteht. Die an den Kämpfen Beteiligten haben Blindgänger aller Art hinterlassen, die auch jetzt noch jederzeit explodieren können.

Es ist also nicht nur von absichtlich hinterlassenen Fallen des IS die Rede?

Natürlich sind diese vom IS für die zurückkehrende Bevölkerung gebauten und ausgelegten Sprengfallen besonders gefährlich; gleichermaßen ist es aber auch die ungeheure Menge der Rückstände der Bombardierungen, die von allen Seiten stattgefunden hat. Unter den Trümmern eingestürzter und beschädigter Häuser findet man zahlreiche Blindgänger. Besonders für rückkehrende Kinder sind die Gefahren schwer zu erkennen. In den Vierteln, in denen der Krieg am heftigsten getobt hat, gibt es jede Menge Explosivfallen, darunter Sprengsätze, die der IS in Leichen versteckt hat. Das ist unvorstellbar grausam, da die Menschen natürlich versuchen, die Toten zu beerdigen – bei Berührung explodieren sie.

Wie arbeiten Ihre Teams?

Im April waren Fachkräfte von Handicap International in Kobani, um die Lage zu bewerten. Sie haben sich an Ort und Stelle davon überzeugt, welche Konsequenzen die brutalen Kämpfe hatten, die im Zentrum sowie in südlichen und nördlichen Vierteln stattfanden. Über die Stadt verteilt entdeckten sie fast 1.000 Bombenkrater, manche mit mehr als zehn Metern Durchmesser. Sie sind das Ergebnis von mehr als 700 Luftangriffen mit 250 bis 1.000 Kilogramm schweren Fliegerbomben, sowie der Explosionen von 40 Autos mit Sprengfallen.

Wir haben dort drei ausländische Experten, die momentan mit zwei Teams zu je fünf Personen arbeiten und weitere Teams für die Räumung an Ort und Stelle rekrutieren.

In Kobani und den anderen beiden kurdischen Kantonen in Nordsyrien wollen die Einwohner ein basisdemokratisches Selbstverwaltungsprojekt verwirklichen. Wird dort in absehbarer Zeit normaler Alltag einkehren und die Bevölkerung zurückkehren können?

Ganz Syrien ist eine Krisenregion, aber insbesondere Kobani ist eine Stadt voller Trümmer und Gefahren. Dennoch soll es Berichten zufolge etwa 70.000 Rückkehrer geben. Diese Menschen sind meist kaum oder schlecht über die in ihrer Heimatstadt lauernden Gefahren informiert, viele wissen gar nicht, wohin sie sonst sollen. Deshalb ist ein Engagement hier notwendig.

Wieso hat Handicap International beschlossen, sich ausgerechnet in diesem Krisengebiet, dem kurdischen Kanton Rojava in Nordsyrien, zu engagieren? Welches Ziel streben Sie an?

Unsere Hilfsorganisation engagiert sich in verschiedenen Krisenregionen in Syrien sowie in den Flüchtlingslagern im Libanon und in Jordanien. Wichtig ist uns auch, alle beteiligten Kriegsparteien sowie die Weltgemeinschaft darauf aufmerksam zu machen, welche extremen Konsequenzen der Einsatz von explosiven Waffen in bevölkerten Gebieten hat. Gemeinsam mit der Kampagne INEW, International Network on explosive weapons, möchten wir eine internationale Verpflichtung erreichen, um deren Einsatz künftig zu verhindern.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Mai 2015

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