"Der Westen hat den Konflikt geschürt"
Die Mehrheit der Syrer ist gegen Einsatz von Gewalt. Ein Gespräch mit Louay Hussein *
Der Journalist und Schriftsteller Louay Hussein gehört seit vielen Jahren zu den politischen Gegnern der regierenden Assad-Familie. 1984 verhaftet, kam er erst 1991 aus dem Gefängnis frei. Im Juni 2011 gehörte Hussein zu den Organisatoren der ersten Oppositionskonferenz in Syrien. Anfang Oktober 2011 war er Mitbegründer der Gruppe »Aufbau des syrischen Staates«. Sie versteht sich als nationale Opposition, lehnt bewaffnete Aktionen aber ab und befürwortet eine Verhandlungslösung.
Wie würden Sie die politische und gesellschaftliche Situation in Syrien heute beschreiben?
Obwohl der jetzige Konflikt in Syrien nun zweieinhalb Jahre dauert, hat er keine politischen Bewegungen hervorgebracht, vor allem natürlich, seitdem die bewaffneten Auseinandersetzungen die Szene beherrschen. Nachdem sich einige Länder in den Bürgerkrieg eingemischt und oppositionelle Gruppierungen geschaffen haben, ist die Legitimität der politischen Arbeit im Land selbst beschädigt worden. Hinzu kommt, daß die meisten dieser Länder entschieden dazu beigetragen haben, den bewaffneten Konflikt zu schüren, der zu scharfen gesellschaftlichen Spaltungen geführt hat. Mehr als sieben Millionen Bürger, ein Drittel der Bevölkerung, sind gezwungen worden, aus ihren Häusern zu fliehen. Zwei Millionen haben Zuflucht in den Nachbarländern gesucht. Schwerste Menschenrechtsverletzungen, besonders gegen Frauen und Kindern, sind an der Tagesordnung. In diesem Jahr gehen über zwei Millionen syrische Kinder nicht in die Schule. Ein Fünftel der Bevölkerung erhält nicht genug Nahrung, wie die UNO in einem Bericht vom 11. Oktober bekanntgab, Tausende Kinder sterben an Hunger oder mangelnder medizinischer Versorgung.
Wir fühlen uns hilflos angesichts dieser Tragödie. Die Zahl der Geschädigten und das, was sie dringend benötigen, übersteigt bei weitem die Möglichkeiten der aktiven Gruppen der Zivilgesellschaft innerhalb Syriens. Deshalb bestand unsere Arbeit darin, die Menschenrechtsverletzungen und das, was die Opfer brauchen, zu dokumentieren sowie Schülerinnen und Schüler zu unterrichten.
Vor einem Jahr waren Sie Gast auf einer Veranstaltung der Partei Die Linke in Berlin. Es ging um die Notwendigkeit eines Waffenstillstands und den Beginn eines politischen Dialogs. Wie ist der Stand bei der friedlichen syrischen Opposition, einschließlich Ihrer Organisation, angesichts der heutigen Kämpfe? Setzen Sie noch Hoffnungen in die Friedensgespräche in Genf?
Vor über einem Jahr wurden die friedlichen Oppositionsbewegungen in den Medien und den Ländern, die sich in die syrische Krise einmischen, marginalisiert. Auch das syrische Regime hat das getan. Die Aufmerksamkeit galt den Parteien des bewaffneten Konflikts und ihren Unterstützern. Es sah so aus, als unterstützten alle Syrer diesen Kampf. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Mehrheit der Syrer ist gegen den Einsatz von Gewalt. Die friedlichen Oppositionsbewegungen sind im Land selbst immer noch sehr aktiv, damit sich der Bürgerkrieg nicht weiter ausweitet. Es ist ihnen teilweise auch gelungen, dies zu verhindern, auch wenn die friedlichen Kämpfe international weiterhin nicht wahrgenommen und nur die Anhänger und Propagandisten der Gewalt in den Vordergrund gerückt werden.
Wir und andere mit uns waren erfolgreich darin, auf der Genfer Konferenz im Juni 2012 die internationale Gemeinschaft von unserem Ziel, den bewaffneten Kampf zu beenden, zu überzeugen. Durch unsere Kontakte auf internationaler Ebene haben wir uns bemüht, eine zweite Genfer Konferenz zustande zu bringen. Ich glaube, unsere einzige Hoffnung liegt darin, abzuwarten, was »Genf 2« hervorbringt. Sowohl die Amerikaner als auch die Russen scheinen diese Konferenz ernsthaft anzustreben. Ziel muß sein, der bewaffneten Auseinandersetzung die Legitimität zu entziehen. Nur der politische Kampf sollte voll legitimiert sein. Das bedeutet die Schaffung einer Koalitionsregierung, die aus Teilen der jetzigen Führung, der Opposition und der anderen nationalen Kräften zusammengesetzt ist.
Deutsche humanitäre Nichtregierungsorganisationen arbeiten hauptsächlich von der türkischen Grenze aus und unterstützen jene Nordregionen, die unter der Kontrolle der Aufständischen stehen. Ziel der deutschen Regierung hierbei ist, die Infrastruktur der gewalttätigen Opposition für eine Nach-Assad-Ära zu stärken. Was halten Sie von dieser politischen Vermischung der humanitären Hilfe, die per Definition neutral sein müßte?
Solche Projekte der deutschen Regierung sind eine eklatante Einmischung, vor denen wir wiederholt gewarnt haben. Sie tragen wesentlich dazu bei, Syrien zu zerstückeln. Jede Region, die unter der Kontrolle einer bewaffneten Gruppierung steht, ist in ein militärisches Emirat verwandelt worden, das sich weder um den Zentralstaat noch um die nationalen Fragen kümmert.
Seit Beginn des Aufstands haben wir bei unseren Begegnungen mit europäischen Diplomaten, darunter auch mit Vertretern der deutschen Botschaft in Damaskus, davor gewarnt, sich zugunsten einer politischen Seite und gegen eine andere einzumischen. Solch eine Unterstützung würde zu Spaltungen in der Gesellschaft führen. Ihre Unterstützung muss sich ausschließlich mit friedlichen Mitteln auf den Schutz der Menschenrechte beschränken. Mehr nicht. Aber eine Reihe dieser deutschen Organisationen hatte nur die Agenda der deutschen Regierung oder anderer Regierungen, die sie unterstützen, im Blick. Das ist weit entfernt von der erforderlichen Neutralität bei humanitärer Hilfe und ging sogar soweit, die Hilfszuteilung an die Positionen und politischen Bindungen der Hilfsbedürftigen zu koppeln.
Diese Form der Einmischung hat eine große Rolle dabei gespielt, daß viele Syrer überhaupt zu den Waffen gegriffen haben nach dem Motto: Bewaffne dich, befreie dich von denen, die über dich herrschen, dann geben wir dir die materielle Unterstützung, die dich von deiner Regierung unabhängig macht.
Welchen Beitrag können die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft leisten, um den Krieg zu beenden?
Das Blutvergießen in Syrien wird nicht zu beenden sein ohne eine entschiedene und klare Haltung der internationalen Gemeinschaft, in der die Ablehnung der Gewalt ausdrücklich erklärt und somit dem bewaffneten Konflikt die Legitimität entzogen wird. Eine Reihe von bewaffneten Gruppierungen sind direkt oder indirekt unter der Schirmherrschaft westlicher Staaten aktiv. Viele haben erst zu den Waffen gegriffen, als dies seitens der westlichen Staaten legitimiert wurde. Der bewaffnete Akt wurde geradezu als prophetische Mission betrachtet, als ein Zeichen von Heiligkeit und vollkommener Moral.
Der Griff zu den Waffen kann nicht mit Verweis auf die exzessive Unterdrückung seitens des syrischen Regimes gerechtfertigt werden. Es war von Anfang an klar, dass man das Regime nicht mit Gewalt besiegen kann. Waffen in einer Gesellschaft, in der fast gar keine Organisationen der Zivilgesellschaft, keine Parteien und politischen Bewegungen vorhanden sind, führen unweigerlich zu einem Sicherheitschaos. Wenn diese Gesellschaft obendrein auch noch multiethnisch, multikonfessionell und multikulturell ist, dann muß so ein Konflikt in Richtung Bürgerkrieg treiben.
Es ist weder ein Geschenk noch ein Zeichen von Großzügigkeit seitens der deutschen Regierung und der internationalen Gemeinschaft, sich jetzt um die Beendigung des bewaffneten Konflikts zu bemühen. Es ist vielmehr ihre Verpflichtung. Denn sie haben kräftig dazu beigetragen, diesen Bürgerkrieg zu schüren.
Ich wünsche mir, daß die Bundesregierung auf die Stimme der überwältigenden Mehrheit der Syrer in Syrien selbst hört. Diese lehnen den bewaffneten Konflikt ab. Die deutsche Regierung sollte erkennen, daß es diese Mehrheit der Syrer ist, die man politisch und sozial unterstützen sollte.
Vielleicht kann Deutschland es schaffen, die Standpunkte der russischen und amerikanischen Regierung einander anzunähern, um die Genfer Konferenz einzuberufen und zum Erfolg zu führen.
Das Gespräch führten Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, und Dr. Birgit Bock-Luna, wissenschaftliche Mitarbeiterin.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. Oktober 2013
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