Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Israelischer Experte: "Arabischer Frühling" gefährdet Israels Positionen im Nahen Osten

Ein Beitrag der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti *

Das postrevolutionäre Ägypten kann nach Meinung von Giora Eiland, dem ehemaligen Chef des nationalen Sicherheitsrates Israels, im Zuge der Demokratisierungsprozesse bereits in den nächsten zwei Jahren unter Kontrolle von Islamisten geraten.

Laut seiner Prognose erwartet das Regime in Syrien so gut wie unvermeidlich der Untergang, der durch eine Einmischung der Türkei in den innenpolitischen Konflikt auf der Seite der Opposition beschleunigt werden könnte.

Der Experte ist von den optimistischen Einschätzungen des Westens in Bezug auf den „Arabischen Frühling“ weit entfernt und sieht darin weniger Ähnlichkeiten mit den „samtenen“ Revolutionen in Osteuropa, als vielmehr mit der islamischen Revolution im Iran sowie mit den Revolutionen 1917 in Russland. Eiland prophezeit einen Aufschwung des radikalen Islam, der die weltlichen nationalistischen Regimes ablösen werde, und verweist auf die wachsenden Bedrohungen für Israel, das sich in den bisherigen Nahost-Realitäten recht komfortabel gefühlt habe.

Ägypten

„Bei den bevorstehenden Parlamentswahlen in Ägypten werden die Muslimbrüder voraussichtlich 30 bis 35 Prozent der Wählerstimmen bekommen“, prognostiziert Eiland. „Dies ist zwar keine Mehrheit, sie werden aber überaus einflussreich. Dann kommen die Präsidentenwahlen. Die Muslimbrüder werden niemanden als ihren Kandidaten nominieren. Egal wer Präsident wird – er wird unweigerlich ein Fiasko erleiden - angesichts des kolossalen Unterschieds zwischen den Erwartungen des Volkes und dem, was jeder mögliche Präsident dem Volk anbieten kann.“

Der Experte verwies dabei auf „kolossale“ Wirtschaftsprobleme Ägyptens. „In einem oder zwei Jahren wird eine nächste Welle von Demonstrationen über Ägypten rollen, die die Enttäuschung des Volkes über das Ausbleiben von positiven Veränderungen zum Ausdruck bringen werden. In dem Moment treten die Muslimbrüder in den Vordergrund, die den Islam als die einzige Lösung anbieten werden. Am wahrscheinlichsten ist ein Szenario, nach dem sie innerhalb von zwei Jahren zu den eigentlichen Herrschern in Ägypten werden.“

„Ist es das, was die Demonstranten in Kairo erreichen wollten? Die Antwort lautet ‚nein’. Ist es das, wovon Präsident Obama geträumt hat? Natürlich nicht. Dies ist aber, was geschehen kann, dies ist, was in der Vergangenheit bereits mehrmals passiert ist: Das, was überaus positiv begann, verwandelte sich plötzlich in das Gegenteil.“

Syrien

Der israelische Experte sieht ein „Wunder“ darin, das Baschar al-Assad trotz der Aktionen der Opposition, die in blutige Zusammenstöße mit den Regierungskräften münden, und des Drucks von außen her, unter anderem in der Form von Wirtschaftssanktionen, immer noch an der Macht ist. „Der Fall des Regimes ist offenbar nur eine Frage der Zeit“, so Eiland.

„Das Regime in Syrien kann nicht mehr lange durchhalten. Die Wirtschaftslage ist sehr schlecht. Über kurz oder lang wird Syrien das Geld für den Kauf von Lebensmitteln und sonstigen Waren des täglichen Bedarfs ausgehen“, lautet seine Prognose.

Die Türkei könne den Sturz von Assad beschleunigen. Die türkische Führung, die auf die Integration in Europa zugunsten ihres Anspruchs auf eine Spitzenposition in der moslemischen Welt verzichtet habe, habe gewichtige Gründe, sich um einen Machtwechsel im Nachbarstaat zu bemühen.

„Der ambitionierte Politiker Tayyip Erdogan erhebt Anspruch auf eine Spitzenposition nicht nur in seinem Land, sondern auch unter allen Sunniten im gesamten Nahen Osten. Er sieht ein, dass die Sunniten, die 80 Prozent der Bevölkerung Syriens ausmachen, dort über kurz oder lang an die Macht kommen. Warum soll er ihnen dann nicht helfen und damit seinen Einfluss in diesem Teil der Welt sichern?“

„Der Tag, an dem sich Erdogan entschließt, der syrischen Opposition militärische Unterstützung zu erweisen und ihr die Möglichkeit zu bieten, vom türkischen Territorium aus anzugreifen, wird das Ende von Baschar al-Assad sein“, so der Experte.

Israels Interessen

Im Kontext des „Arabischen Frühlings“ sind die Israelis am meisten über Ägypten und das Schicksal des Friedensvertrages besorgt, mit dem sich der Nachbar im Süden vom größten Gegner und Organisator feindlicher Koalitionen in den wichtigsten Partner des israelischen Staates in der Arabischen Welt verwandelt hatte.

„Der Vertrag hält bereits 32 Jahre“, stellt Eiland fest. „Er hat Israel viel gebracht. Vor seiner Unterzeichnung hat Israel 30 Prozent seines BIP für die Verteidigung ausgegeben, heute aber nur sechs. Das konnten wir uns in erster Linie dank dem Umstand leisten, dass wir in Ägypten keinen potentiellen Feind mehr sehen.“

„Wenn Ägypten von den Muslimbrüdern kontrolliert wird, wenn diese aus den Friedensverträgen aussteigen, wird dies ein reales strategisches Problem für Israel. Dieses Problem ist da. Es wird zwar nicht morgen eintreten, aber wahrscheinlich in fünf Jahren.“

Mit Syrien, seinem Nachbarn im Norden, bleibt Israel im Kriegszustand, aber auch dort wird dem Experten zufolge eine neue Regierung für Israel kaum besser sein als das Regime von Assad, das einerseits stark genug sei, um seit Jahren für die Ruhe an der gemeinsamen Grenze zu sorgen, und zudem zu stark mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist, um den israelischen Staat bedrohen zu können. Außerdem sei das Regime Assad im Westen zu unpopulär, um Trümpfe beim Friedensprozess in der Hand zu halten, behauptet Eiland.

„Als ich vor sieben Jahren den nationalen Sicherheitsrat leitete, erschien ein sehr wichtiger Minister bei Premier Ariel Sharon und schlug vor, einen Sturz des Regimes Assads zu einem Ziel Israels zu machen, weil dieses Regime laut diesem Minister mit dem Iran kooperiert und Hisbollah unterstützt. Sharon schaute den Minister an und fragte: ‚Bist du verrückt?’“

„Wenn Assad fällt, sind zwei Varianten möglich“, erwiderte Sharon damals. „Entweder wird Syrien von islamistischen Gruppierungen erobert, und wir werden ein Land sehen, in dem der Einfluss von Al Qaida stark ist… Oder dort wird ein demokratisches Regime entstehen, das als erstes mit Israel Frieden haben wollen und uns zwingen wird, die Golanhöhen zurückzugeben. Die beste Variante für uns wäre es, wenn Assad ein Präsident bleibt, der erbittert um sein politisches Überleben kämpft und an einem Mangel an internationaler Legitimität leidet – insbesondere in der Vorstellung der USA.“

„Ich stimme dem Standpunkt zu, dass Assad in moralischer Hinsicht ein Tyrann ist und gehen muss, während die Syrier ein besseres Los verdient haben“, stellt der Experte abschließend fest. „Vom pragmatischem Standpunkt gesehen bin ich aber bei weitem nicht überzeugt, dass ein Machtwechsel etwas Positives bringen würde.“

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 26. Oktober 2011


Zurück zur Israel-Seite

Zur Ägypten-Seite

Zur Syrien-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage