Bush, der Bruchpilot
Das Dilemma der USA im Irak
Im Folgenden dokumentieren wir - leicht gekürzt - einen Beitrag, der in der Augustausgabe 2003 von "Le Monde diplomatique" erschienen ist (zu den Bezugsbedingungen siehe am Ende des Artikels*). Der Verfasser, Noam Chomsky, ist den Besuchern unserer Homepage weithin bekannt. Darum nur in Kürze: Noam Chomsky ist Linguist und Sozialwissenschaftler, seit 1961 Professor am Massachusetts Institute of Technology, Boston. Letzte Veröffentlichung in deutscher Übersetzung: "Media control - wie Medien uns manipulieren", Hamburg (Europa Verlag) 2003.
Von Noam Chomsky
(...)
DER September 2002 war für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten
ein entscheidender Monat. Er brachte drei Ereignisse von erheblicher
Tragweite, die eng miteinander zusammenhängen. Erstens veröffent-
lichten die USA ihre neue "Nationale Sicherheitsstrategie". Zweitens
begannen sie die Kriegstrommeln zu rühren. Und drittens entschied
sich im Zwischenwahlkampf zum Kongress, dass die Bush-Regierung ihr
radikales außen- und innenpolitisches Programm weiter durchziehen
konnte.
Nach der neuen imperial grand strategy, wie sie in der führenden
außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs sogleich tituliert
wurde, sind die USA "ein revisionistischer Staat, der seine gegen-
wärtigen Vorteile zu einer Weltordnung verfestigen will, in der
allein er das Sagen hat". Angestrebt ist also eine "unipolare
Weltordnung", in der "kein Staat und keine Koalition" den USA ihre
Rolle "als globale Führungsmacht, als Schutzmacht und als Durch-
setzungsorgan" streitig machen kann (so John Ikenberry in Foreign
Affairs vom September/Oktober 2002). Diese Strategie berge Gefahren
für die USA selbst, warnte der Autor des Artikels allerdings - und
viele außenpolitische Experten haben seither seine Warnung wieder-
holt.
Was nach dieser Konzeption "geschützt" werden muss, sind Macht
und Interessen der USA - nicht die Interessen der Welt insgesamt.
Meinungsumfragen zeigen, dass sich seit September 2002 die Angst
vor den Vereinigten Staaten im gleichen Maße verstärkt hat wie
das Misstrauen gegen ihre politische Führung. (...)
Die Vereinten Nationen ließ Washington wissen, sie könnten nur dann
weiter eine "relevante" Rolle spielen, wenn sie die Pläne der USA
absegneten; andernfalls würden sie zu einem Debattierklub verkommen.
Die USA hätten "das souveräne Recht, Militäraktionen zu unternehmen",
eröffnete US-Außenminister Colin Powell dem Weltwirtschaftsforum in
Davos, wo die Kriegspläne Washingtons ebenfalls auf heftigen Wider-
stand stießen. Dabei führte er aus: "Wenn wir eine entschiedene Ein-
schätzung von einer Angelegenheit haben, dann übernehmen wir die
Führung, selbst wenn uns niemand folgen sollte" (Wall Street Journal,
27. Januar 2003).
Noch deutlicher gaben George W. Bush und Tony Blair ihre Missachtung
des Völkerrechts und der internationalen Organisationen zu erkennen,
als sie sich am Vorabend der Invasion auf den Azoren trafen. Hier
verkündeten sie ein
Ultimatum - nicht etwa an den Irak, sondern an
die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats: Wenn ihr nicht kapituliert,
beginnen wir auch ohne eure unerhebliche Zustimmung mit der Invasion;
und zwar auch wenn Saddam Hussein und seine Familie vorher das Land
verlassen sollten. (1) Es ging also nur darum, dass die USA den Irak
unter ihre Kontrolle bekommen.
Präsident Bush erklärte, die USA hätten "die souveräne Befugnis, zur
Behauptung ihrer nationalen Sicherheit Gewalt anzuwenden". Im Irak
solle ruhig eine "arabische Fassade" aufgebaut werden (so nannten
es die Briten, als sie noch den "Platz an der Sonne" innehatten),
vorausgesetzt, die USA können ihre Macht in dieser ölreichen Region
fest verankern. Nach allem, was wir aus der historischen wie aus
der gegenwärtigen Praxis schließen können, wird auch im Irak ein
äußerlich demokratisches System willkommen sein - sofern die Iraker
so willfährig sind, wie es sich für den "Hinterhof" Washingtons
geziemt.
Nach der neuen grand strategy hat Washington die Generalvollmacht zu
einem preventive war, dem vorbeugenden Krieg, nicht zu verwechseln
mit dem preemptive war, was so viel heißt wie dem Gegner zuvorkommend.
Wie immer die Rechtfertigung für einen preemptive war aussehen mag,
sie deckt keineswegs einen preventive war ab, schon gar nicht in
der Bedeutung, die seine Befürworter dem Präventivkrieg geben: als
Einsatz von militärischer Gewalt, um eine fiktive Bedrohung auszu-
schalten, sodass selbst der Ausdruck "vorbeugend" eigentlich zu
milde ist. Preventive war im Sinne der
Bush-Doktrin ist schlicht und
einfach das Verbrechen des Angriffskriegs, das nach 1945 den "Haupt-
kriegsverbrechern" im Nürnberger Prozess zur Last gelegt wurde.
Auch US-Amerikaner, denen ihr Land wirklich am Herzen liegt, sind
sich über diesen Sachverhalt im Klaren. Als die US-Armee ihre
Invasion im Irak begann, schrieb der Historiker Arthur Schlesinger,
die grand strategy von Bush erinnere "auf alarmierende Weise an
die Strategie des kaiserlichen Japan beim Angriff auf Pearl Harbor,
der als ein Datum der Schande in die Geschichte eingegangen ist ..."
Schlesinger bezog sich damit auf den bekannten Satz von Präsident
Franklin D. Roosevelt, fügte aber hinzu: "Heute sind es wir Ameri-
kaner, die mit dieser Schande leben müssen." Deshalb sei es keine
Überraschung, dass "die Welle der Sympathie, die den Vereinigten
Staaten nach dem 11. September entgegenschlug, inzwischen verebbt
ist und stattdessen weltweit der Hass auf die Arroganz und den
Militarismus der USA wächst". Damals konstatierte Schlesinger, dass
in den Augen vieler Menschen Präsident Bush "die größere Bedrohung
für den Weltfrieden darstellt als Saddam Hussein". (2)
(...)
Rumsfeld und die Leute in seiner Umgebung wissen genauso gut wie ihre
Kritiker, dass ihre Aktionen das Risiko der Ausbreitung von Massenver-
nichtungswaffen und Terror eher vergrößern. Aber auch das ist für
sie kein großes Problem. An der Spitze ihrer Prioritätenliste stehen
zwei andere Ziele: Sie wollen erstens ihre globale Vorherrschaft
durchsetzen und zweitens ihr innenpolitisches Programm durchziehen.
Letzteres besteht darin, die im Lauf der letzten hundert Jahre hart
erkämpften sozialen Errungenschaften wieder rückgängig zu machen, und
zwar ein für alle Mal.
Eine Hegemonialmacht kann sich nicht damit begnügen, ihre Strategie
kundzutun. Sie muss sie vielmehr mit exemplarischen Aktionen als
"neue Norm des internationalen Rechts" durchsetzen. Man geht also
davon aus, dass nur ein Staat "mit Knarre" in der Lage ist, "Normen"
zu setzen und das Völkerrecht zu verändern.
Der Feind muss allerdings drei Bedingungen erfüllen: Er muss erstens
wehrlos sein und zweitens so wichtig, dass ein Krieg sich lohnt;
drittens muss er als unmittelbare Bedrohung für unsere Existenz,
als das Böse schlechthin erscheinen. Der Irak erfüllte alle drei
Kriterien: Er war erstens wehrlos und zweitens wichtig genug.
Was die von ihm ausgehende Bedrohung angeht, so galt sie nach den
Reden von Bush, Blair und Co. als erwiesen. Demnach hatte sich der
Diktator "die gefährlichsten Waffen der Welt verschafft, um andere
Länder zu beherrschen, einzuschüchtern oder anzugreifen"; außerdem
habe er sie bereits eingesetzt und dabei tausende seiner Landsleute
getötet oder verstümmelt: "Wenn das nicht böse ist", so Bush, "hat
das Wort böse jede Bedeutung verloren."
Bushs Urteil über das Hussein-Regime hört sich berechtigt an. Und
von den Leuten, die dieses üble Regime gestärkt haben, soll keiner
ungestraft davonkommen. Nur gehört zu ihnen eben auch der Mann,
der diese hehren Worte ausgesprochen hat, samt seiner gegenwärtigen
Helfer und jener Leute, die vor Jahren im Auftrag der US-Regierung
das Böse schlechthin unterstützt haben, lange nachdem Saddam seine
schrecklichen Verbrechen begangen hatte. Diese Hilfe erfolgte nach
Aussagen der Regierung von George Bush sen., um die Exportinteressen
der USA zu unterstützen. Es ist schon eindrucksvoll, wie leicht
es unseren politischen Führern fällt, sich bei der Aufzählung der
schlimmsten Verbrechen dieses Ungeheuers um die entscheidenden
Worte zu drücken: Hussein bekam, so heißt es dann, "unsere Unter-
stützung, weil wir uns um solche Nebensächlichkeiten nicht kümmern".
Die Verurteilung erfolgte erst, als der einstige Freund sein erstes
echtes Verbrechen beging: als er nämlich den Befehl aus Washington
missachtet (oder vielleicht auch nur missverstanden) hat und in
Kuwait einmarschierte. Die Bestrafung fiel hart aus - jedenfalls
für Saddams Untertanen.
Leicht zu verdrängen sind auch die Gründe für den Entschluss der
USA, Saddam Hussein im Anschluss an den ersten Golfkrieg erneut
zu unterstützen, als er die Aufstandsversuche erstickte, die sein
Regime hätten stürzen können. Der außenpolitische Kolumnist der
New York Times stellte damals klar, welche die "beste aller Welten"
für Washington sei: " ... eine brutale irakische Junta ohne Saddam
Hussein". Aber da dieses Ziel nicht erreichbar sei, müsse man sich
mit der zweitbesten Lösung begnügen. Die kurdischen und schiitischen
Aufständischen durften keinen Erfolg haben, weil sich die USA und
ihre Verbündeten in einem Punkt "erstaunlich einig" waren: "Egal wie
groß das Sündenregister des irakischen Führers sein mochte, für den
Westen und die Region bot er eine bessere Aussicht auf die Stabilität
seines Landes als diejenigen, die unter seiner Repression gelitten
hatten." (3) In den Kommentaren über die Massengräber, in denen man
heute die Opfer von Saddams Terror findet, kommt das alles nicht mehr
vor. Denn dieser Terror, der heute einen "moralisch gerechtfertigten"
Krieg begründen soll, war damals aus Sicht der USA durchaus statthaft.
(4)
Nur zum Lachen
ZWÖLF Jahre später galt es, bei den zögerlichen Amerikanern die not-
wendige Kriegsbegeisterung zu entfachen. Seit Anfang September 2002
ergingen finstere Warnungen über die tödliche Gefahr, die Saddam für
die Vereinigten Staaten darstelle, und über seine Verbindungen zu
den Al-Qaida-Terroristen. Dabei wurde immer wieder angedeutet, Saddam
selbst sei in die Angriffe vom 11. September verwickelt. Zu dieser
Propaganda meinte die Herausgeberin des Bulletin of Atomic Scientists:
"Viele der Behauptungen, die man den Journalisten schmackhaft machen
wollte, waren einfach zum Lachen, aber je lächerlicher sie waren,
desto unkritischer wurden sie von den Medien aufgegriffen und zum
Lackmustest für Patriotismus hochgeredet." (5)
Die propagandistische Offensive blieb nicht ohne Wirkung. Schon nach
wenigen Wochen sah die Mehrheit der US-Bürger in Saddam Hussein eine
unmittelbare Bedrohung für die USA. Und bald glaubte fast die Hälfte
der Befragten, hinter den Terroranschlägen vom 11. September stecke
das irakische Regime. Dementsprechend fiel dann auch der Grad der Zu-
stimmung für den Krieg aus. Die Propaganda verhalf den Republikanern
im November 2002 zu einer klaren Mehrheit bei den Zwischenwahlen zum
Kongress, weil die Wähler ihre Alltagsprobleme vergaßen und sich aus
Angst vor dem teuflischen Feind unter den großen Schirm der Macht
flüchteten.
Der glänzende Erfolg dieser "Öffentlichkeitsdiplomatie" wurde vollends
offenbar, als
Bush am 1. Mai auf dem Deck des Flugzeugträgers "Abraham
Lincoln" "ein starkes, Reagan-würdiges Finale für einen Sechswochen-
krieg lieferte", wie es in der New York Times hieß. Der Vergleich
bezieht sich auf die Erklärung, in der Präsident Reagan 1983 nach
der Besetzung von Grenada verkündete, Amerika könne stolz darauf
sein, die Muskatnuss-Metropole der Welt erobert und die Russen daran
gehindert zu haben, die USA zu bombardieren. Zwanzig Jahre später
erklärte George W. Bush ungeachtet aller skeptischen Kommentare im
Lande, er habe "einen Sieg im Krieg gegen den Terror gewonnen" und
"einen Verbündeten der al-Qaida aus dem Weg geräumt". (6) Dabei
schert ihn überhaupt nicht, dass es keine Beweise für die angeblichen
Verbindungen zwischen Saddam Hussein und seinem Erzfeind Ussama Bin
Laden gibt. Gleichgültig ist ihm auch, dass die einzig erwiesene
Beziehung zwischen dem Sieg im Irak und dem Terror eine ganz andere
ist: Die Irakinvasion bedeutet für den Antiterrorkrieg viel eher
einen "enormen Rückschlag", weil sie der al-Qaida verstärkt neue
Kandidaten zugetrieben hat. (7)
Das Wall Street Journal befand denn auch, dass der sorgfältig
inszenierte Operettenauftritt von Präsident Bush auf der "Abraham
Lincoln" "den Auftakt zu seinem Wahlfeldzug des Jahres 2004" dar-
stellte. Dieser soll sich, hofft man im Weißen Haus, "so weit wie
möglich um Themen der Nationalen Sicherheit drehen". (8)
Vor den Kongresswahlen 2002 hatte Karl Rove, der politische Chef-
stratege der Republikaner, seine Wahlhelfer angewiesen, die Sicher-
heitsthemen in den Vordergrund zu stellen und von der unpopulären
Innenpolitik der Republikaner möglichst abzulenken. Diese Strategie
ist für die alten Reagan-Gefolgsleute, die sich heute wieder in
Washington breit machen, zur zweiten Natur geworden. Mit derselben
Methode hatten sie ihre erste Dienstzeit bestritten, als sie immer
wieder auf den außenpolitischen Alarmknopf drückten, um zu ver-
hindern, dass die öffentlichen Diskussionen sich auf den innenpo-
litischen Kurs konzentrieren, der Reagan am Ende seiner Amtszeit
1992 zum unbeliebtesten Präsidenten seit langem gemacht hatte.
Die aufwändige Propagandakampagne war zwar begrenzt erfolgreich,
konnte aber die öffentliche Meinung in den grundsätzlicheren Fragen
nicht wirklich kippen. Heute spricht sich eine Mehrheit der US-
Amerikaner dafür aus, dass bei internationalen Krisen die Vereinten
Nationen und nicht die USA die führende Rolle spielen müssen; fast
zwei Drittel zögen es vor, wenn statt der USA die UN den Wiederauf-
bau im Irak beaufsichtigen würden. (9)
Als die Besatzungsarmee keine Massenvernichtungswaffen entdecken
konnte, musste die Bush-Regierung einen Kurswechsel vornehmen. Jetzt
sprach niemand mehr von der "absoluten Sicherheit", dass der Irak
solche Waffen besitze, man argumentierte nur noch, die entsprechenden
Vorwürfe seien "gerechtfertigt durch die Entdeckung von Geräten, die
möglicherweise zur Herstellung von Waffen dienen könnten." (10) Und
hohe Regierungsbeamte sprachen auf einmal von einer "Verfeinerung"
der Präventivkriegsdoktrin vom September 2002, die den USA das Recht
auf einen Angriff zuspricht, wenn das betreffende Land über "tödliche
Waffen in großen Mengen" verfüge. Demgegenüber soll die revidierte
Fassung nun vorsehen, "dass die Regierung gegen feindliche Regime
vorgehen wird, die lediglich den Vorsatz und die Fähigkeit haben,
Massenvernichtungswaffen zu entwickeln". (11) Die Argumente, mit
denen die Invasion begründet worden war, haben sich als unhaltbar
herausgestellt - woraus sich als Konsequenz ergibt, dass man die
Schwelle für den Einsatz militärischer Gewalt noch niedriger ansetzt.
Bushs vielleicht spektakulärster propagandistischer Erfolg spiegelte
sich in den Lobeshymnen wider, die seine "Vision" eines Friedens für
den Nahen Osten priesen. Zeitgleich konnte man beobachten, wie die
US-Regierung demokratische Prinzipien verleugnete. Am deutlichsten
zeigte sich das in der Unterscheidung zwischen dem geschmähten "Old
Europe" und dem begeistert gefeierten "New Europe". Die Abgrenzung
erfolgte nach einem präzisen Kriterium: Zum "alten Europa" gehören
die Länder, deren Regierungen sich in ihrer Haltung zum Irakkrieg an
der überwiegenden Mehrheit ihrer Bevölkerung orientierten; die Helden
des "neuen Europa" dagegen befolgten die Befehle aus Crawford, Texas.
In den meisten Fällen setzten sie sich damit zu Hause sogar über
noch größere Mehrheiten hinweg. Die meisten politischen Kommentatoren
in den USA zeterten über das ungehorsame "Old Europe" und dessen
psychische Macken.
Am progressiven Ende des politischen Spektrums verwies Richard
Holbrooke, Vizeaußenminister und von 1999 an UN-Botschafter der
Clinton-Regierung, auf "den äußerst wichtigen Punkt", dass die acht
Länder, die Donald Rumsfeld als Kern eines "New Europe" bezeichnet
hat, (12) zusammen mehr Einwohner zählen als das "Old Europe" -
was belege, dass Frankreich und Deutschland "isoliert" seien. Da
hat er schon Recht, es sei denn, man hält es mit dem linksradikalen
Irrglauben, dass in einer Demokratie auch die öffentliche Meinung
zählt. Im selben Geist hat Thomas Friedman in der New York Times
dafür plädiert, Frankreich die ständige Mitgliedschaft im UN-
Sicherheitsrat zu entziehen, weil es noch im "Kindergartenalter"
und unfähig sei, "mit den anderen anständig zu spielen". Nimmt
man neuere Meinungsumfragen zur Kenntnis, wäre dann allerdings die
Mehrheit der "Neu-Europäer" im Kindergartenalter stecken geblieben.
(13)
Die Türkei war im Hinblick auf das Demokratieverständnis ein
besonders aufschlussreicher Fall. Die Regierung in Ankara weigerte
sich trotz starken Drucks, ihre "demokratische Gesinnung" dadurch
zu belegen, dass sie die Befehle aus Washington auch dann befolgt,
wenn 95 Prozent ihrer eigenen Bevölkerung dagegen sind. Über diese
Lektion in Demokratie waren einige US-Kolumnisten so erbost, dass
sie in ihren Kommentaren nachträglich auf die Verbrechen der Türkei
gegen die Kurden während der 1990er-Jahre verwiesen. Dieses Thema
war zuvor tabu gewesen, weil die Vereinigten Staaten dabei eine
wichtige Rolle gespielt hatten.
Auf den entscheidenden Punkt verwies Paul Wolfowitz, der dem tür-
kischen Militär vorwarf, es habe "nicht die starke Führungsrolle
gespielt, die wir von ihm erwartet hätten". Denn die Militärführung
habe nichts unternommen, um die neue Regierung der AKP daran zu
hindern, die nahezu einhellige öffentliche Meinung zu respektieren.
Deshalb erwarte man von Ankara das Eingeständnis: "Wir haben einen
Fehler gemacht. Jetzt müssen wir sehen, wie wir den Amerikanern
eine möglichst große Hilfe sein können." (14)
Die Wut über das "alte Europa" ist sehr viel tiefer verwurzelt als
die geringschätzige Relativierung der Demokratie. Für die USA war
der europäische Einigungsprozess schon immer eine zwiespältige
Angelegenheit. Vor 30 Jahren hat Henry Kissinger in seiner "Year of
Europe"-Ansprache den Europäern geraten, sich auf ihre "regionalen
Verantwortlichkeiten" zu beschränken, und zwar innerhalb eines
"umfassenden Ordnungsrahmens", für den die Vereinigten Staaten ver-
antwortlich sind. Europa solle keine unabhängige Politik betreiben,
die sich auf sein französisch-deutsches Kerngebiet stützt.
Ähnliche Bedenken gelten heute für Nordwestasien - die Weltregion
mit der größten ökonomischen Dynamik, mit riesigen Bodenschätzen und
einer zunehmend industrialisierten Wirtschaft. Auch diese potenziell
integrierte Großregion könnte einmal mit der Idee liebäugeln, den
"umfassenden Ordnungsrahmen" in Frage zu stellen, der nach der er-
klärten Überzeugung Washingtons auf Dauer erhalten bleiben muss. Zur
Not auch mit Gewalt.
deutsch von Niels Kadritzke
Fußnoten:-
- Michael Gordon in der New York Times, 18. März 2003.
- Los Angeles Times, 23. März 2003.
- So Thomas Friedman, New York Times, 7. Juni 1991 bzw.
Alan Cowell, New York Times, 11. April 1991.
- Thomas Friedman, New York Times, 4. Juni 2003.
- Linda Rothstein, Bulletin of Atomic Scientists, Juli 2003.
- Kommentar von Elisabeth Bumiller in der New York Times
vom 2. Mai 2003; dort auch der Text der Bush-Erklärung.
- So Jason Burke, Observer (London), 18. Mai 2003.
- Wall Street Journal, 2. Mai 2003. In diesem Sinne erklärte
auch Karl Rove, der politische Chefstratege der Republikaner,
in der New York Times vom 10. Mai 2003, der Wahlkampf werde
sich "auf die Schlacht um den Irak, nicht auf den Krieg"
konzentrieren.
- Siehe Program on International Policy Attitudes (PIPA),
University of Maryland, 18.-22. April 2003.
- Dana Milbank, Washington Post, 1. Juni 2003.
- Guy Dinmore und James Harding, Financial Times, 3./4.
Mai 2003.
- Gemeint sind die acht Staaten, die die Anzeige der
Solidaritätsadresse an die USA unterschrieben haben,
die Ende Januar im Wall Street Journal erschienen war.
- Siehe Michael Katz, National Journal, 8. Februar 2003;
das Friedman-Zitat in New York Times, 7./8. Mai 2003.
- Siehe Marc Lacey, New York Times, 7./8. Mai 2003.
Aus: Le Monde diplomatique, August 2003, S. 1 und 9
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