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Die Kriegserinnerungen Abchasiens

Die Schwarzmeerregion erklärte 1992 ihre Unabhängigkeit von Georgien. Die Schäden der darauffolgenden Kämpfe sind nach wie vor im ganzen Land sichtbar

Von Alexandre Sladkevich *

Eine gestreifte Flagge flattert unter der Sonne, die Palmen werfen Schatten auf den Boden, heruntergekommene Fassaden mit Säulen stehen an der Strandpromenade. Das Meer wirft Muscheln an den Strand. Berggipfel ragen in den blauen Himmel, hier und da reifen Tabak, Bananen und Orangen. Am Ufer trinken die dunkelhaarigen Männer starken Kaffee aus kleinen Gläsern. Uniformierte Helden blicken von Plakaten auf sie herab. Es wird Russisch gesprochen – und Abchasisch.

Von Georgien, den USA und der NATO wird Abchasien als okkupiertes georgisches Gebiet betrachtet, auch die Vereinten Nationen sehen Abchasien nicht als selbstständigen Staat. Die Souveränität des Landes am Schwarzen Meer, nördlich von Georgien, erkennen nur Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru an sowie Südossetien, Bergkarabach und Transnistrien, die selbst umstrittene Regionen sind. Tuvalu und Vanuatu stimmten auch für die abchasische Unabhängigkeit, entschieden sich später jedoch anders. Abchasien betrachtet sich als Republik, ist von Georgien unabhängig und verfügt seit 1993 über eigenständige staatliche Strukturen.

Der Zug verlässt Adler, ein Bezirk am Rande der russischen Stadt Sotschi, fährt am olympischen Park vorbei und bleibt in Kürze in Wesjoloe, der letzten Station vor der Grenze, stehen. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens. Zuvor hat die Zugbegleiterin die Passagiere aufgeweckt und die Pässe in einer schwarzen Tüte eingesammelt; sie fordert immer wieder auf, wach zu bleiben. Mit großer Sorgfalt werden dann die Dokumente von dem russischen Zöllner geprüft. Zwei Stunden darauf fährt der Zug mit Verspätung weiter. Schon kommt die abchasische Grenze, wo die Zöllner die Pässe nur flüchtig anschauen. Danach geht es weiter. Nach etwa zwei Stunden bleibt der Zug in Gudauta vor dem zerstörten Bahnhofsgebäude stehen – viel länger als vorgesehen. Während des Bürgerkrieges 1992/93 war die Stadt ein Zentrum des Widerstandes gegen die georgischen Regierungstruppen. Heute trägt sie stolz den Ehrentitel der »Heldenstadt«.

Georgisch-abchasischer Sezessionskrieg

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wollte die georgische Regierung die damals geltende abchasische Autonomie beseitigen. Die ohnehin seit Jahrzehnten instabile Lage eskalierte. 1992 wurde seitens der abchasischen Regierung die Unabhängigkeit ihres Landes ausgerufen. Innerhalb kürzester Zeit rückte das georgische Militär in Abchasien ein. Der blutige Bürgerkrieg, beziehungsweise der georgisch-abchasische Sezessionskrieg zwischen abchasischen Unabhängigkeitskämpfern und der georgischen Armee brach aus. 1993 konnten die abchasischen Separatisten mit Unterstützung Russlands den De-facto-Sieg feiern.

Bald wird es laut, die Menschen laufen hin und her, es prasseln Fragen nieder: »Was soll das denn?« Eine einzige alte Frau bewahrt die Ruhe, sie sieht so aus, als ob nichts passiert wäre. Sie ist eine Armenierin, die in Abchasien geboren ist und bis zum Kriegsausbruch dort gelebt hat. Dann floh sie nach Saratow, Russland. Irgendwann erfährt man, dass ein Baum auf die Gleise gefallen ist und der Zug wahrscheinlich noch einige Stunden stehen bleiben wird. Die Passagiere werden nervös, nur die Armenierin sagt gleichgültig: »Na und, das ist ja Abchasien: Hier kann alles passieren.« Ein Schienenersatzbus wird später bereitgestellt, doch dafür muss man zahlen. Er passiert Straßenverkäufer, die Wassermelonen für umgerechnet etwa neun Cent pro Kilo feilbieten. Der russische Rubel ist hier die offizielle Währung. Der Weg führt vorbei an zahlreichen Mahnmalen und Gedenktafeln, die an die Kriegsgefallenen erinnern, steile Bergpässe mit Blick aufs Schwarze Meer, das berühmte Mönchskloster in Nowy Afon und erreicht später den maroden Bau des Bahnhofs in der Hauptstadt des Landes – auf georgisch Sochumi, auf abchasisch Aqwa genannt.

Für etwa fünf Cent erreicht man die Stadtmitte mit einem Oberleitungsbus, der inzwischen wohl der einzige seiner Art in Abchasien ist. Der Bus fährt an riesigen Eukalypten, Dattelpalmen, Lorbeerkirschen, Kiwi-, Mispel-, und Granatsträuchern, exotischen Blumen und verschiedenen Nadelhölzern vorbei. Er passiert den Leon-Prospekt, eine der schönsten Straßen Aqwas und bleibt unweit vom Platz der Freiheit stehen. Dort befindet sich das zerstörte monumentale Gebäude des Parlaments, ein Bauwerk mit Brandspuren, Einschusslöchern und ausgeschlagenen Fenstern. Das ist das markanteste Mahnmal der Stadt. Davor steht eine Plinthe, die vor 1992 Lenin zierte. Obwohl man gelegentlich noch Häuser mit Kriegsspuren in Aqwa sieht, sowie viele Tafeln, die den Gefallenen gewidmet sind, und schließlich ein Monument in Form eines Schwertes inmitten von unzähligen Namen, ist nirgends der Krieg so nah und so spürbar, wie auf diesem Platz.

Die Schäden bleiben aus finanziellen Gründen. Doch nach und nach werden sie dank Investitionen aus Russland und dem sich wieder belebenden Tourismus beseitigt. Dennoch sieht man kaum Baustellen und hört fast keine Maschinen, es geht offenbar langsam voran. Die renovierten Häuser wechseln sich ab mit Ruinen und alten, brüchigen Bauten. Auch die berühmte Affenzuchtstation sieht nicht mehr so glanzvoll aus. Die Affen ähneln vielmehr Gefangenen, die ihre Hände durch die Gitter strecken und nach etwas Essbarem betteln.

Verwaltungs- und Bankgebäude, große Hotelanlagen und ausgewählte Sehenswürdigkeiten sind bereits renoviert worden. Darüber hinaus wurden auch manche anderen Bauten erneuert, doch es ist schwer zu verstehen nach welchen Kriterien das eine oder das andere Haus vorgezogen wurde. In den Kleinstädten und Dörfern ist es dagegen klar: Zuerst kommen die Administrationsgebäude dran, der Rest kann warten.

Die Bergbauerstadt Tquartschal

In der Peripherie gibt es viel mehr Ruinen, verlassene Häuser und Trümmer, als in der Hauptstadt. Marija Paramonowa nennt sie »Nachkriegsfolgen«. Die 36jährige ist eine Moskauerin, die seit einigen Jahren in Aqwa lebt. Als sie den berühmten Kurort besuchte, entschloss sie sich umzuziehen. »Vieles, was während des Krieges heil blieb, wurde danach von Marodeuren zerstört. Man verwendete vieles als Baustoffe, auch von den Flüchtlingen zurückgelassene Sachen wurden angeeignet.« Marija erklärt sich gerne bereit, die berühmte Bergbauerstadt Tquartschal (georgisch: Tqwartscheli) zu zeigen. Auch sie wurde zur Heldenstadt ernannt, viele bezeichnen sie allerdings als »Geisterstadt«. »Die Fahrt nimmt etwa 1,5 Stunden in Anspruch, man kann also unterwegs Einiges sehen«, so Marjia. Das Auto passiert Kriegsdenkmäler, darunter die Mutter-Heimat-Statue bei Tamysch, kleine Dörfer und immer wieder Büffel, Pferde und Kühe, die wie eingefroren direkt auf der Fahrbahn stehen. »Hier waren früher Dörfer, die komplett niedergebrannt worden sind«, Marija zeigt auf ein endloses Feld, »und dort ist das Gebiet, wo die schwarze Abchasen, angeblich afrikanischer Abstammung, seit Jahrhunderten leben.« Sie parkt ihr Auto schließlich vor einer Ruine. Das ist Tquartschals Bahnhofsgebäude, ein schreckliches Zeugnis der Belagerung, die 413 Tagen dauerte. Im grauen Himmel unweit des Bahnhofs hängt regungslos eine Kabine der Seilbahn, dahinter bedeckt der Nebel die Gebirge. Hier und da sieht man zerstörte, verlassene Häuser und leere, zerschlagene Industrieanlagen. Auf einem Gleis steht ein verrosteter Zugwagen. Aus den abgebrannten Fenstern ragen Geäste und Gräser. Ein verstummtes Heizkraftwerk. Keine Menschenseele. Nur selten stören Autos kurz die Stille des Totenreichs. Umso unerwarteter ist das grell angezogene Mädchen mit ihrer Großmutter. Ljudmila Petrowna ist eine Russin, und ihre Enkelin Sarija ist halb Abchasierin »fürstlicher Abstammung«. Ljudmila ist hier geboren, nach dem Kriegsausbruch floh sie nicht. »Ich sah alles, den ganzen Schrecken, die Schießereien. Wir versteckten uns in den Kellern, wir fürchteten uns sehr, und wir haben beobachtet, wie unsere schöne, saubere Stadt ruiniert wurde. Lange nach dem Krieg, als der Sieg mit einem Feuerwerk gefeiert wurde, schnappten wir immer noch unsere Kinder und versteckten uns in den Kellern«, erzählt Ljudmila. »Ich habe mich an die Ruinen gewöhnt, obwohl ich mich gut an die Stadt vor dem Krieg erinnere sowie an die Menschen, die hier wohnten, ich kannte sie schließlich gut. Die Stadt blühte, es gab einige Minen und eine Aufbereitungsanlage. Es gab ein Schwimmbad, Sportorganisationen, viel Arbeit. Der Ort war reich. Es ist so bedauerlich, dass er in eine Ruine verwandelt wurde. Zu Sowjetzeiten wäre das unvorstellbar gewesen. Inzwischen ist die Zerstörung zur Normalität geworden.« Sarija schaut sich um, Ljudmila streichelt ihr über den Kopf und fährt fort, der damalige georgische Präsident Eduard Schewardnadse habe Gefängnisinsassen nach Abchasien geschickt. »Sie haben hier gewütet, ganze Dörfer niedergebrannt, Kinder in die Brunnen geworfen, Menschen mit Panzern platt gefahren. Sie haben große Rohre mit Menschen vollgestopft und dann schweißten sie sie zu.« Sarija fotografiert die Umgebung mit ihrem Fotoapparat, der genauso wie ihr Shirt rosa ist. Ljudmila passt auf, dass sie nicht auf die Fahrbahn läuft, obwohl man in dieser Geräuschlosigkeit Autos von weitem hört.

»Nun ist es ruhig und nichts deutet auf einen erneuten Kriegsausbruch hin, auch weil hier russische Streitkräfte stationiert sind. Es gibt hier eine militärische Siedlung: vier Häuser, wo die Soldaten leben, und viel Kriegstechnik.« Neben dem »Vaterlandskrieg des Volks Abchasiens«, wie der Sezessionskrieg 1992/93 oft von abchasischen Quellen bezeichnet wird, gab es 1998 einen Sechstagekrieg und bis 2008 weitere bewaffnete Konflikte. »Bei uns haben immer die Vertreter verschiedener Völker gemeinsam friedlich gelebt, es gab nie ethnische Auseinandersetzungen. Auch jetzt gibt es keinen Nationalismus mehr. Der Krieg wurde angefangen, weil jemand da oben die Macht nicht teilen konnte und deswegen haben die Völker gelitten. So viele wurden ermordet, so viele sind geflüchtet.«

Marija möchte noch die Stadtmitte anschauen und so geht die Reise weiter. An den Plattenbauten vorbei, die wie ein Schachbrett aussehen: Hell erleuchtete, bewohnte Wohnungen wechseln sich ab mit schwarzen Fenstern ohne Glasscheiben.

Der Verwaltungsbau wirkt wie neu, aber auch er muss gestrichen werden. Unweit davon entfernt steht ein Autowrack. Das Kulturhaus ist noch von Bauzäunen umgeben. Daneben liegen Schaukelreste. Putin taucht auf Plakaten neben den hiesigen Helden auf.

Alltag zwischen Ruinen

Obwohl Marija sich mit Fotografie beschäftigt und einen Fotoapparat bei sich hat, fotografiert sie kaum. »Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, was all diese Kriegsüberbleibsel für Außenstehende bedeuten, deswegen fahre ich meine Gäste oft hierher. Aber wir leben hier und für uns ist das nichts Exotisches, das ist unser Alltag. Klar habe ich anfangs die Ruinen abfotografiert, jetzt macht es keinen Sinn mehr für mich.« Marija wird kurz nachdenklich und dann lacht sie: »Ich habe einen guten abchasischen Freund, der in den ›Organen‹ tätig ist, er hat Paranoia, weil er stets befürchtet, dass meine ausländischen Gäste, die ich über Couchsurfing empfange und denen ich die Republik zeige, Spione sind. Er vermutet überall Feinde.«

Vor der Rückkehr nach Aqwa fährt Maria noch in die Stadt Otschamtschira mit ihrem zertrümmerten Vergnügungspark und einem zerfallenen Sockel ohne Statue und das Dorf Kyndyg mit einem bekannten Ferienheim, das sich zwischen den gigantischen Eukalypten versteckt.

Neben den sonnengebräunten Touristen, die mit dem Zug nach Russland zurückkehren, sitzt eine alte Frau, halb Russin, halb Georgierin. Sie winkt einer alten Abchasierin aus dem Fenster zu und sagt: »Geh doch bitte heim, Liebes!« Dann schaut sie nach oben und denkt laut: »Was für eine wunderbare Frau, sie hat mir unbeschreiblich geholfen. Wir haben so gekämpft, aber nichts erreicht. Die Nachbarn haben sich meine Wohnung während des Krieges angeeignet. Obwohl das Gericht sie mir zugesprochen hat, bekam ich sie nicht zurück.« Auf einem Denkmal in Aqwa steht: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.« Bloß für manche ist die Erinnerung alles Andere als der Garten Eden. Wenn man über die Gefallenen redet, spürt man die Trauer und den Hass. Die Ruinen dagegen sind für Einheimische zum Alltag und für Touristen zu Sehenswürdigkeiten geworden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. April 2015


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