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Schere geht weiter auseinander

OECD bescheinigt Deutschland schnell wachsende Kluft zwischen Arm und Reich *

In fast allen Industrienationen profitieren in erster Linie die ohnehin schon Reichen von Wirtschaftswachstum und Einkommenszuwachs - besonders ausgeprägt aber in Deutschland. Die LINKE sieht sich von neuer OECD-Studie in ihrer Kritik bestätigt.

Die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich ist in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich stärker gewachsen als in den meisten anderen Industrienationen. Dies zeigt eine am Montag von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorgelegte Studie.

Danach verdienten die zehn Prozent der Deutschen mit den höchsten Einkommen 2008 etwa achtmal so viel wie die untersten zehn Prozent. Konkret beliefen sich ihre Nettobezüge auf durchschnittlich 57 300 Euro im Jahr, die der Geringverdiener hingegen nur auf 7400 Euro (ohne staatliche Hilfsleistungen). Anfang der 90er Jahre hatte das Verhältnis noch bei sechs zu eins gelegen.

Für die zunehmende Kluft ist laut Studie vor allem die Entwicklung der Löhne und Gehälter verantwortlich. So hat sich die Lohnschere zwischen den Spitzeneinkommen und den untersten zehn Prozent der Vollzeitarbeitenden in den vergangenen 15 Jahren um ein Fünftel erweitert. Hinzu kommt ein starker Zuwachs von Teilzeitarbeit und befristeten Verträgen. Die Zahl der Teilzeitarbeiter stieg in Deutschland seit Mitte der 80er Jahre von knapp drei auf mehr als acht Millionen. »Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes war ein erster wichtiger Schritt. Jetzt müssen weitere zur Schaffung von Arbeitsverhältnissen mit Perspektiven und Aufstiegschancen folgen«, sagte der OECD-Arbeitsmarktexperte Michael Förster.

Aber auch sozialer Wandel verstärkt laut Studie die Einkommensunterschiede zwischen armen und reichen Haushalten. Es gibt mehr Alleinerziehenden- und Singlehaushalte mit entsprechend niedrigem Einkommen. Auf der anderen Seite fänden sich zugleich immer mehr Paare aus der gleichen Einkommensgruppe zusammen. Laut Untersuchung sind die verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland in den beiden Jahrzehnten vor der Finanz- und Wirtschaftskrise im Schnitt um 0,9 Prozent jährlich gestiegen. Davon profitierten vor allem die Gutverdiener, deren Einkommen im Schnitt um 1,6 Prozent stieg - während die Niedriglöhner nur einen Zuwachs von 0,1 Prozent verzeichneten.

Ähnliche Vorteile für Gutverdiener sind auch in fast allen anderen OECD-Staaten zu beobachten - wenn auch nicht ganz so ausgeprägt. Einen Abbau von Einkommensungleichheit gibt es hingegen nur in Frankreich, der Türkei und Griechenland. In letzteren beiden Staaten waren die Einkommensunterschiede zuvor allerdings besonders groß.

»Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität - aber sie ist nicht unausweichlich«, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurría. Als zentrales Mittel zum Abbau von Einkommensunterschieden empfehlen die Autoren vor allem mehr Investitionen in Bildung und Weiterbildung.

Die LINKE sieht sich durch die Studie bestätigt: »Die Politik der Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Entlastung der Unternehmen und Vermögenden durch die letzten Regierungen führte direkt zu wachsender Ungleichheit. Gleichzeitig werden Sozialleistungen und öffentliche Dienste heruntergefahren«, sagte Diana Golze, Leiterin des Arbeitskreises »Arbeit, Gesundheit und Soziales« der Bundestagsfraktion. Die Folge: Die Einkommenszuwächse konzentrierten sich auf wenige Reiche.

* Aus: neues deutschland, 6. Dezember 2011


Alte Hüte

Von Haidy Damm *

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst in Deutschland schneller und stärker als in den meisten anderen Industriestaaten. Diesen Trend hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD bereits in den vergangenen Jahren ausgemacht, in seiner aktuellen Studie bestätigt der Club der reichen Länder seine Warnung. Als eine Ursache wird die weiter um sich greifende Teilzeitarbeit benannt, von der besonders Frauen betroffen sind, die noch immer weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Nicht erwähnt werden die unbezahlte Familienarbeit und die katastrophale Versorgung mit Kindergartenplätzen in Teilen der Republik. Da bleibt oft nur Teilzeit; Armut ist in Deutschland also auch eine Frage des Geschlechts. Weitere Ursachen sind schmale Lohnzuwächse bei Geringverdienern und sinkende Arbeitslosenunterstützung. Gespart wird bei denen, die wenig haben.

Soweit, so alte Hüte. Dementsprechend sorgten die Ergebnisse für wenig Empörung. Auch die vorgeschlagenen Lösungen sind nicht neu: mehr Bildung, effiziente Maßnahmen gegen Steuerflucht der Reichen und höhere Steuern für Vermögen. Doch es ist mit dieser Studie wie mit so vielen: Sie fällt in die Kategorie »Die Wissenschaft hat festgestellt ...« und bestätigt, was vor allem die Betroffenen längst wissen. Aber gut, dass wir wieder mal darüber gesprochen haben.

** Aus: neues deutschland, 6. Dezember 2011 (Kommentar)

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