Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Licht ins Dunkel

Heinrich von der Haars Studie über Kinderarbeit in Deutschland

Von Herbert Münchow *

Kein Sozialist, kein Kommunist kann gegen »die frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht« als einem der »mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft« sein, wie es Karl Marx in seiner »Kritik des Gothaer Programms« ausführte. Dies aber gilt nur »bei strenger Reglung der Arbeitszeit nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutz der Kinder«. Es gilt also nur, soll es kein frommer Wunsch sein, im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Ausbeutung. Dieser rote Faden zieht sich auch durch die ehemals als Diplomarbeit entstandene Untersuchung von Heinrich von der Haar »Kinderarbeit in Deutschland. Dokumentation und Analyse«, die vom Kulturmaschinen Verlag neu aufgelegt wurde. Denn, so der Autor, »eine Arbeit, die Kinder nicht beeinträchtigt, ist sicher akzeptabel – pädagogisch wünschenswert ist aber eine die kindliche (berufliche und soziale) Entwicklung förderliche Arbeit in Industrie, Handel, Handwerk und Landwirtschaft. Notwendig ist ein Konzept, das kindlichen Entwicklungsinteressen entspricht – der Beschäftigungsumfang altersmäßig abgestuft – und dem sich die Produktionsbedingungen unterordnen.« Die längst vergriffene Erstauflage des Buches von 1980 brachte von der Haar den vom Kapital verliehenen Ehrentitel »Nestbeschmutzer« ein, denn er enthüllte, daß Kinderarbeit, die er im »engen Sinn als Erwerbstätigkeit von Kindern (für Unternehmer mit dem Zweck der Gewinnerzielung)« versteht, trotz versuchten Totschweigens in der BRD existiert.

Schutzregelungen

Das Buch bietet eine historische Bestandsaufnahme der Kinderarbeit in Deutschland sowie deren mehr oder weniger durchgesetztes Verbot in den letzten 150 Jahren. Es enthält umfangreiches empirisches Material, das betroffen macht. Es läßt deutlich werden, weshalb, wie Marx es ausdrückte, »allgemeines Verbot der Kinderarbeit unverträglich (ist) mit der Existenz der großen Industrie«. Untersucht wird zunächst die Situation in Deutschland zwischen 1800 und 1945, d. h. über die Folgen der industriellen Entwicklung auf diesem Gebiet und den Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Ausbeutung der Kinderlohnarbeiter, der sich in Gesetzen niederschlug. Das führte zu einem Formwandel der Kinderarbeit, nämlich zu ihrem Anwachsen außerhalb der Industrie. Von der Haar läßt auch nicht aus, wie die Faschisten Kinder zu Zwangsarbeitern machten, sie extensiv ausbeuteten und ermorderten. Ein zweiter großer Untersuchungsabschnitt widmet sich der Zeit zwischen 1945 und 1960. Bis zum 8. August 1960 galt in der BRD das faschistische Jugendschutzgesetz vom 30. April 1938, dessen Aufhebung bereits im Januar 1948 von der ersten Interzonalen Gewerkschafts-Jugendkonferenz in München-Hallthurm gefordert worden war. Niedersachsen, das ab 9. Dezember 1949 Kinderarbeit generell, auch in der Landwirtschaft, untersagte, Berlin und das Saarland schufen jeweils eigene Schutzregelungen, die 1960 durch das bundesweite Jugendarbeitsschutzgesetz ersetzt wurden.

Verschlechterung

In den folgenden Kapiteln des Buches analysiert der Autor zunächst die 60er Jahre und konstatiert für die folgenden beiden Jahrzehnte ab 1970 und 1980 eine deutliche Verschlechterung. Die BRD erweiterte die Möglichkeit für Kinderarbeit, gegen deren Verbot wurde Sturm gelaufen. Das letzte Kapitel behandelt die Jahre 1989 bis 2010. Fazit: »Inzwischen gehen über 500000 der schulpflichtigen Kinder verbotenerweise regelmäßig oder sporadisch einer bezahlten Arbeit nach, und über Dreiviertel der Kinder haben am Ende der Pflichtschulzeit Erfahrungen mit bezahlten Jobs.« Studien aus sechs Bundesländern belegen dies, darunter aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. In den Untersuchungen finden sich keine Belege, daß Lohnarbeit Kindern hilft, sich selbständig zu entwickeln, für den Beruf zu lernen oder Ausbildungsplätze zu erhalten. Unter der Kohl-Regierung wurde der Arbeitsschutz für 13jährige und ältere Kinder verschlechtert.

Die Bundesländer meldeten zwischen 1997 und 1999 rund 1970 Verstöße gegen das Kinderarbeitsverbot. Die Bundesregierung sah sich zu einem Bericht veranlaßt, den von der Haar dokumentiert. Er schreibt: »Der Druck auf Kinder zu verdienen, um das Familieneinkommen aufzubessern, ist dort groß, wo Vater oder Mutter arbeitslos sind oder zu den Niedrigverdienern zählen.«

Der Band bringt Licht in das Dunkel des deutschen Kinderarbeitsmarkts. Über ein Drittel der Acht- und Neuntklässler arbeiten, davon die Hälfte verbotenerweise. Armut zeigt sich nicht gleich am Hunger, sondern in der sozialen Ausgrenzung. Das staatliche Kontrollsystem ist vom Profitdenken durchlöchert. Durch das bisherige System lernen Kinder nur, so der Autor, »daß Schutzgesetze eh nicht gelten und man bereit sein muß, auf Sozialversicherung, Tariflohn, Kündigungsschutz, Mitbestimmung, Arbeitsschutz, Urlaubsanspruch usw. zu verzichten, wie dies im Rahmen der Prekarisierung bereits etwa zehn Millionen Erwachsene hierzulande erleiden«. Konsequente Folge von Sozialraub und Verelendung ist die Wiedereinführung der Kinderarbeit. Die Darstellung endet mit einem Anhang: Thema Kinderarbeit im Unterricht.

Das Buch ist durch seine Faktenfülle sehr empfehlenswert und gehört in die Hand jedes klassenbewußten Gewerkschafters.

Heinrich von der Haar: Kinderarbeit in Deutschland - Dokumentation und Analyse. Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2011, 213 Seiten, 16,80 Euro

* Aus: junge Welt, 26. September 2011


Zurück zur Deutschland-Seite

Zur Armuts-Seite

Zurück zur Homepage