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Schätze gehören dem Volk

Evo Morales fordert vor UNO weltweite Nationalisierung der Naturressourcen

Von André Scheer *

In New York ziehen die Vereinten Nationen derzeit eine Zwischenbilanz des Weges zur Umsetzung der vor zehn Jahren am selben Ort beschlossenen »Millenniumsziele«. Dem damals aus Anlaß des Jahrtausendwechsels vereinbarten Programm zufolge sollen bis 2015 unter anderem die weltweite Armut halbiert und allen Kindern der Grundschulbesuch ermöglicht werden. Dazu hatten sich die Industriestaaten damals verpflichtet, ihr Budget für die Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) anzuheben. Die deutsche Bundesregierung hatte ursprünglich für 2010 angekündigt, als Zwischenziel 0,51 Prozent für die sogenannten Entwicklungsländer zur Verfügung stellen. Tatsächlich liegt die Hilfe aus Deutschland derzeit bei 0,35 Prozent und ist in den vergangenen Jahren sogar noch zurückgegangen. »Wortbruch« warf deshalb am Dienstag der Grünen-Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin gegenüber der Nachrichtenagentur DAPD Bundeskanzlerin Angela Merkel vor. Schon jetzt klaffe eine Lücke von einer halben Milliarde Euro zum vereinbarten Zwischenziel, »und das Loch wird jedes Jahr größer«. Auch der Linke-Politiker Niema Movassat kritisierte, daß Merkel und Entwicklungsminister Dirk Niebel in New York »herumschwadronierten« und sich davor drückten, »ihre internationalen Zusagen einzuhalten, obwohl jeden Tag Tausende Menschen am fehlenden politischen Willen zur effektiven Armutsbekämpfung sterben«.

Während Niebel im Deutschlandfunk einräumte, man sei momentan »nicht im Plan«, kritisierte Boliviens Präsident Evo Morales am Montag (Ortszeit) bei seiner Ansprache vor dem UN-Plenum dieses ohnehin bescheidene Ziel grundsätzlich. Es sei »nicht gerecht, daß die entwickelten Länder gerade einmal 0,7 Prozent ihres BIP in Hilfsprogramme für die Entwicklungsländer investieren, wenn sie 15mal mehr Ressourcen in Aufrüstung und das Schüren von Kriegen stecken.« Die extreme Armut könne niemals besiegt werden, wenn nicht die ungerechte Reichtumsverteilung auf der Erde überwunden werde, so Morales. Zwar habe die Weltbank begonnen, ihre Schwerpunktsetzung zu verändern, nicht jedoch der Internationale Währungsfonds. Es müsse deshalb darum gehen, die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von IWF und Weltbank zu überwinden. Dazu schlug er die Schaffung einer Bank des Südens durch die Entwicklungsländer aller Kontinente vor, die unter der Armut leiden. »Statt unsere Währungsreserven bei Banken der entwickelten Länder zu deponieren, ist es besser, eine eigene Finanzinstitution zu schaffen, die diese Ressourcen verwaltet«, so Morales. Mit einem ähnlichen Ziel hatten sieben südamerikanische Länder vor einem Jahr in Buenos Aires bereits eine Bank mit gleichem Namen und gleichem Ziel offiziell konstituiert.

»Ohne den IWF und dessen Wirtschaftsrezepte fährt Bolivien besser als zuvor«, unterstrich der Staatschef. So habe sein Land die extreme Armut in den vergangenen Jahren von 41 auf 32 Prozent der Bevölkerung reduzieren können, die Kindersterblichkeit sei um 40 Prozent gesunken. Dies sei nur durch die zusätzlichen Einnahmen möglich gewesen, die sich aus der Nationalisierung der Bodenschätze Boliviens ergeben hätten und die direkt an die Bevölkerung weitergeleitet wurden. Deshalb sei es wichtig, daß alle Entwicklungsländer ihre Bodenschätze selbst kontrollieren, um deren Ausbeutung durch fremde Interessen zu verhindern. »Es ist notwendig, die Wirtschaft zu demokratisieren und das Volk zum wichtigsten Profiteur der Entwicklung zu machen«, forderte er. Lebenswichtige Dienstleistungen wie die Trinkwasser- und Energieversorgung seien Menschenrechte, die nicht den Regeln privater Geschäftemacherei unterworfen werden dürften.

Im Gegensatz zu Morales haben die meisten linken Staatschefs der Re­gion ihre Teilnahme an dem UN-Gipfel abgesagt. Venezuelas Präsident Hugo Chávez konzentriert sich lieber auf die Kampagne im Vorfeld der Parlamentswahl am kommenden Sonntag. Ecuadors Staatschef Rafael Correa mußte sich am Montag einem chirurgischen Eingriff unterziehen, und auch Nicaraguas Daniel Ortega sowie der kubanische Präsident Raúl Castro lassen sich durch ihre Außenminister vertreten.

* Aus: junge Welt, 22. September 2010


Merkel nimmt Süden in die Pflicht

Kanzlerin will Entwicklungshilfe zeitlich begrenzen und an zusätzliche Bedingungen knüpfen

Von Martin Ling **


Der Weltarmutsgipfel in New York hat ein erstes Ergebnis: Die Europäische Union hat die Summe von einer Milliarde Euro zur Erreichung der Millenniumsziele zugesagt. Laut UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon fehlen jedoch allein 2010 noch 20 Milliarden US-Dollar.

»Die Zeit wird knapp, deshalb müssen effektivere Ergebnisse erzielt werden.« Die Einschätzung von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso dürften wohl alle der in New York vertretenen rund 140 Staats- und Regierungschefs teilen. Barroso will mit gutem Beispiel vorangehen und sagte am Montagabend in New York eine Milliarde Euro seitens der EU zu. Die Mittel sollen über den Europäischen Entwicklungsfonds bereitgestellt werden, wurden nach EU-Angaben aber noch nicht bestimmten Millenniumszielen zugewiesen. Mit dem Geld sollten vor allem jene Ziele der Armutsbekämpfung erreicht werden, von denen die Weltgemeinschaft noch am weitesten entfernt ist, kündigte Barroso an. Da gibt es unter den acht Millenniumsentwicklungszielen jede Menge. Nur beim Zugang zur Trinkwasserversorgung, den Einschulungsraten, der Seuchenbekämpfung und dank China und Indien bei der Bekämpfung der absoluten Armut lassen sich bisher nennenswerte Fortschritte verzeichnen, ohne dass das Errreichen der Ziele bis 2015 schon unter Dach und Fach wäre.

Auf dem dreitägigen UN-Gipfel in New York wollen Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft eine Zwischenbilanz zur Umsetzung der im Jahr 2000 verabschiedeten Entwicklungsziele in den ärmsten Regionen der Welt ziehen. Sie sehen unter anderem bis 2015 eine Halbierung der Zahl der Hungernden und der Armen, eine Absenkung der Kinder- und Müttersterblichkeit um zwei Drittel vor.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist in New York in vielen Missionen unterwegs. Sie macht Entwicklungspolitik, wirbt aber auch um einen Platz im Sicherheitsrat. »Die Wahrheit ist sehr konkret«, betont Merkel. »Hungern weniger Menschen? Sterben weniger Kinder und Mütter? Und leben weniger Menschen in Armut?« Ja, lautet die Antwort. »Doch Hunger und Unterernährung bewegen sich noch immer auf einem unerträglich hohen Niveau«, sagte Merkel am Dienstag vor dem UN-Millenniumsgipfel in New York.

»Entwicklungshilfe kann nicht zeitlich unbegrenzt sein«, sagte die Kanzlerin. »Es kommt darauf an, begrenzte Hilfsgelder so nutzbringend wie möglich einzusetzen.« Die Kanzlerin will damit die jeweiligen nationalen Regierungen mehr in die Pflicht nehmen. »Wir brauchen mehr Ergebnisorientierung«, sagte sie laut Redemanuskript. Deutschland strebe allerdings weiterhin Mittel für die Entwicklungshilfe in Höhe von 0,7 Prozent des Brutto-Nationaleinkommens an.

Merkel räumte ein, dass die UN-Ziele nicht bis 2015 erreicht werden könnten. »Dennoch bleiben die Ziele gültig und müssen konsequent durchgesetzt werden.« Dies müsse das zentrale Bekenntnis des Armutsgipfels sein.

Am Rande des Gipfels führt sie zahlreiche Gespräche, in denen sie um einen nichtständigen Sitz für Deutschland im Weltsicherheitsrat wirbt. Für Merkel wäre der Platz im höchsten UN-Gremium 2011 und 2012 eine wichtige Voraussetzung, um Deutschlands Stellung in der Welt zu stärken und die seit langem geforderte Reform der Vereinten Nationen voranzutreiben.

** Aus: Neues Deutschland, 22. September 2010


Worthülsen in New York

Von Martin Ling ***

Sie kommen mit leerem Gepäck: Angela Merkel und Dirk Niebel vertreten Deutschland in New York und haben nichts zu bieten als wohlfeile Formeln. Beide bekennen sich dazu, bis 2015 die Mittel für Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent aufzustocken. Derzeit liegt Deutschland bei 0,4 Prozent, obwohl sich Berlin 2005 in der EU verbindlich auf das Zwischenziel von 0,51 für 2010 festgelegt hatte.

Es ist akzeptabel, von Ländern des Südens gute Regierungsführung zu fordern, wenn man sie selbst praktiziert. Deutschland kann das für sich in Sachen Entwicklungspolitik nicht in Anspruch nehmen. Entwicklungsminister Niebel hat angekündigt, ab 2012 die Mittel für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria drastisch zusammenzustreichen. Dabei gilt der Fonds als Erfolgsgeschichte. Davon gibt es in der Entwicklungspolitik nicht viele. Und das liegt zuallererst daran, dass die reichen Staaten keine Anstalten unternehmen, für eine Neuordnung der Weltwirtschaft mit fairen Chancen für alle eine Hand zu rühren. Die 2001 in Doha gestartete »Entwicklungsrunde« der Welthandelsorganisation ist seit Jahren tot. Und in nicht wenigen der 30 Konfliktländer im Süden, die in der Entwicklung am weitesten hinterherhinken, ist der Norden involviert – entweder direkt wie in Afghanistan oder indirekt über den Handel Waffen gegen Rohstoffe wie in der DR Kongo. In New York ist das kein Thema.

*** Aus: Neues Deutschland, 22. September 2010 (Kommentar


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