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Zitate der Woche (81 bis 86)

Februar 2005 bis Juni 2005

Zitat Nr. 86, 14. Mai 2005

Vom Unbehagen am deutschen Mahnwesen

Oder: Vive le Sabotage! - Eine Erwiderung auf Stemmt euch dagegen! - Ein Kommentar der anderen Trennlinie

Von Jean-Luc Tintin

Liebe Freunde in Deutschland, die Ihr uns Franzosen neulich mit einem offenen Brief in Le Monde zu agitieren versuchtet, es ist ja jetzt Mode geworden, über Landesgrenzen hinweg Mahnschreiben zu schicken, wenn irgendwo gewählt oder abgestimmt wird, und besonders Ihr lieben Deutschen seid ja in Eurem Element, wenn es darum geht, den Menschen in aller Welt politische Belehrungen zu erteilen. Schon den US-Präsidenten hättet Ihr am liebsten selber gewählt - und gewiss, in diesem Fall waren wir sogar einer Meinung mit Euch. Allerdings möchten wir bei unserem bevorstehenden Referendum über die europäische Verfassung doch gern allein entscheiden.

Herzlichen Dank also für Euer Interesse und die penetrante Einmischung in unsere nationalen Angelegenheiten. Denn, nicht wahr: Noch sind es unsere nationalen Angelegenheiten - und genau das ist der Punkt, um den es bei der Europadiskussion eigentlich geht. Ihr Deutschen wollt dieses Großeuropa, weil Ihr eine grässliche Geschichte abzubüßen habt, die den Namen Deutschland trägt. Wir Franzosen aber sind stolz auf unsere Nation, zumindest haben wir für sie noch immer ein paar gute Gefühle, und das ist Euch zutiefst unangenehm. Ihr warnt uns vor einer Kapitulation der Vernunft, wenn wir zu dem 500 Seiten langen Paragrafenwerk mit Namen Europäischer Verfassungsvertrag nicht Ja und Amen sagen. Aber dürfen wir Euch vielleicht daran erinnern, dass wir es waren, die überhaupt als erste die politische Herrschaft der Vernunft kennen gelernt haben? Sie hieß Terror und hat vor mehr als zwei Jahrhunderten eine Menge Blut gekostet. Doch das nur am Rande. Wir sind noch immer unvernünftig genug, unsere Wut von Fall zu Fall an unseren Politikern auszulassen. Das solltet Ihr übrigens auch; es würde Eurer demokratischen Kultur sicherlich gut tun.

Chuzpe

Apropos Demokratie: Ihr scheint ja selbst nicht das größte Vertrauen in die politische Reife Eurer Landsleute zu haben, sonst würdet Ihr - so wie wir - mit einem Referendum über die Europäische Verfassung befinden, statt die Sache im Bundestag von einer im Voraus feststehenden Mehrheit zementieren zu lassen. Ihr fürchtet natürlich, dass das Volk ganz anders entscheiden würde als das Parlament. Und da wagt Ihr, uns großspurig darauf hinzuweisen, dass "Angst stets ein Signal der Schwäche" sei!

Was habt Ihr überhaupt für eine Vorstellung von Wert und Funktion einer Verfassung? Wir erinnern uns noch gut an Zeiten, da Briefträger und Lokomotivführer bei Euch Berufsverbot erhielten, wenn Zweifel an ihrer Verfassungstreue bestanden. Das kam uns stets unheimlich vor. Genauso unheimlich ist uns jetzt ein monströser technokratischer Verfassungstext, den niemand kennt und niemand braucht, denn das Kommerzeuropa funktioniert bekanntlich jetzt schon, und das Kultureuropa wird mit der Brüsseler Zentralverwaltung nie auch nur das Mindeste zu tun haben.

Und noch etwas: Bitte hört auf, Euch weiterhin mit diesem Götterdämmerungsgerede in Bezug auf unser "Non" am Monatsende lächerlich zu machen. Wenn wir Nein sagen, dann haben sich ein paar Politiker eine Zeit lang umsonst echauffiert, aber darüber hinaus wird nichts Welterschütterndes passiert sein. Wir pflegen ab und zu unser ganzes Land mit Streiks und Lastwagenblockaden stillzulegen, doch hinterher geht die Arbeit weiter, und die Lkws ziehen wieder ihrer Wege.

Das gehört eben auch zu unserer Kultur, dass wir ein bisschen Spaß an der Sabotage haben. Auch Ihr Deutschen solltet nicht immer alles so ernst nehmen: Stimmt doch im Bundestag einfach einmal gegen diese blödsinnige Verfassung!

* Jean-Luc Tintin alias Burkhard Müller-Ullrich, in Köln lebender Publizist und Mitarbeiter der Autorengemeinschaft "Achse des Guten".
Der Philosoph Jürgen Habermas hat zum Thema unter dem Titel "Das illusorische Nein der Linken" auch eine Polemik im "Nouvel Observateur" veröffentlicht - auf Deutsch nachzulesen bei perlentaucher.de

Aus: DER STANDARD, 13. Mai 2005


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Zitat Nr 85, 9. Mai 2005

Für den Sturz reicht ein zerrissener Strumpf

Das "unmögliche" Interview – heute mit Friedrich Schiller

ND: Friedrich Schiller im Schiller-Jahr: Es soll eine Feier des großen aufschwingenden Menschengedankens sein. Wie, Friedrich Schiller, ist der Mensch?

Schiller: Groß und majestätisch im Unglück.

Die Antwort überrascht. Kingt geradezu niederschmetternd.

Nein, es kommet im Leiden ein Mensch sehr zu sich selber. Im Leiden, gegen das er lebt mit allen Fasern.

Die Katastrophe als Lehrmeister. So wird der Mensch eine Weile sanft?

Und durch Unglück gebessert, so rückgeführt zum Fürtrefflichen.

Das Helle existiert nicht ohne das Finstere? Und das Erhebende, es folgt nicht dem Niederdrückenden, nein, es muss mitten darin gefunden werden?

Wenn ich vor dem Tiger gewarnt haben will, so darf ich doch seine schöne blendende Fleckenhaut nicht übergehen, damit man nicht den Tiger beim Tiger vermisse.

Glauben Sie, dass man ein ganzes Volk zu Güte, Einsicht und Anstand heranbilden kann?

Noch so viele Freunde der Wahrheit mögen zusammenstehen, ihren Mitbürgern auf Kanzeln und Schaubühnen Schule zu halten, der Pöbel hört nie auf, Pöbel zu sein, und wenn Sonne und Mond sich wandeln und Himmel und Erde veralten wie ein Kleid.

Sie haben gesagt, Ihre medizinische Dissertation hätten Sie mit »fakultistischem Schweiß« geschrieben. Das heißt, wirkliche Leidenschaft trieb diese Arbeit nicht an. So redet einer, der seine wahre Bestimmung woanders sieht.

Wenn das Unglück der Menschheit so gemein und alltäglich ist, daß so oft unsere göttlichsten Triebe, unsere besten Keime zum Großen und Guten unter dem Druck des bürgerlichen Lebens begraben werden, wenn Kleingeistelei und Mode der Natur kühnen Umriß beschneiden ...

Da ist sie offenbar, Ihre Leidenschaft. Aber, noch einmal gefragt, wohin zielt sie?

... wenn’s denn so ist, wie ich sage, so kann dasjenige Schauspiel nicht zwecklos sein, das uns den Spiegel unserer ganzen Kraft vor die Augen hält, das den sterbenden Funken des Heldenmuts belebend wieder emporflammt, das uns aus dem engen, dumpfen Kreise unseres alltäglichen Lebens in eine höhere Sphäre lockt.

Die Kunst! Wichtiger als der Fakt!

Eine einzige große Aufwallung, die ich durch gewagte Erdichtung in der Brust meiner Zuschauer bewirke, wiegt bei mir die strengste historische Genauigkeit auf.

Mit aktueller Politik leben Sie weniger begehrend?

Mein Verhältnis mit der bürgerlichen Welt machte mich mit dem Herzen bekannter als mit dem Kabinett.

Ist ein Tag ohne Kunst ein verlorener Tag?

Es ist Hochverrat an dem Genius, Hochverrat an der Menschheit, diesen glücklichen Augenblick zu versäumen, wo so vieles für das Herz kann verloren oder gewonnen werden.

Zitat Schiller: »Die Freundschaft der Menschen ist das Ding, das sich des Suchens nicht verlohnt.« Eigentlich ein sehr trauriger Gedanke.

Wehe dem, den seine Umstände nötigen, auf fremde Hilfe zu bauen. Aber so schrecklich es mir auch ist, mich wiederum und wiederum in einem Menschen geirrt zu haben, so angenehm ist mir wieder dieser Zuwachs an Kenntnis des menschlichen Herzens.

Also am Ende doch, wie es – Pardon! – Goethe sagt: Gehe vom Häuslichen aus und verbreite dich in die Welt. Auch wenn die Menschheit enttäuschen mag, der Weg hinaus ins Getümmel muss gegangen werden!

Ich bin der Meinung, daß das Genie wo nicht unterdrückt, doch entsetzlich zurückwachsen, zusammenschrumpfen kann, wenn ihm der Stoß von außen fehlt.

Genie hilft sich selber auf!

Ich glaub es nimmer. Es scheint, Gedanken lassen sich nur durch andere Gedanken locken.

Neigen Sie zum Asketen?

Wer meinen Charakter kennt, weiß ganz meinen Hang zum einfachen stillen Vergnügen, und geräuschlosen Freunde. Man wird mir auch hoffentlich einräumen, dass ich den Vergnügungen und Verführungen dieser großen Welt kein Neuling mehr bin, daß ich ein wohl vorbereitetes Herz hineingebracht habe. Ich will also aufrichtig zugestehen, daß auch mich eine Trunkenheit umnebeln kann, aber sie wird gewiß immer wieder bald verfliegen.

Ihr Lieblingsgedanke war lange, »zurückgezogen von der großen Welt, in philosophischer Stille mir selbst, meinen Freunden und einer glücklichen Weisheit zu leben«.

In dem lärmendsten Gewühl, mitten unter den Berauschungen des Lebens, die man sonst Glückseligkeit zu nennen pflegt, waren mir doch immer jene Augenblicke die süßesten, wo ich in mein stilles Selbst zurückkehrte, und in dem heiteren Gefilde meiner schwärmerischen Träume herumwandelte, und hie und da eine Blume pflückte.

Aber Ihre Bedürfnisse in der großen Welt – wir haben darüber gesprochen – sind augenscheinlich vielfach und unerschöpflich.

Wie mein Ehrgeiz, ja.

Na also. Das nenne ich ein gutes Geständnis.

Aber wie sehr schrumpft dieser neben meiner Leidenschaft zur stillern Freude zusammen.

Nehmen wir mal an, Sie müssten sich selbst, nach Maßgabe des Verträglichen und nicht allzu Eitlen, selber beschreiben, so, dass Sie angenehm auf andere wirken – wie sähe diese »Selbstwerbung« aus?

Wenn Sie mit einem Menschen vorlieb nehmen wollen, der große Dinge im Herzen herumgetragen und kleine getan hat, der bis jetzt nur aus seinen Torheiten schließen kann, daß die Natur ein eignes Projekt mit ihm vorhatte; der in seiner Liebe schrecklich viel fordert und bis hieher noch nicht einmal weiß, wie viel er leisten kann; der aber etwas anders mehr lieben kann als sich selbst, und keinen nagenderen Kummer hat, als daß er das so wenig ist, was er so gern sein möchte – wenn Ihnen ein Mensch wie dieser lieb und teuer werden kann, so ist unsere Freundschaft ewig, denn ich bin dieser Mensch.

So haben Sie, um Freundschaft werbend, an Theodor Körner geschrieben.

Verbrüderung der Geister ist der unfehlbarste Schlüssel zur Weisheit. Einzeln können wir nichts. Wenn auch der verwegene Flug unsers Denkens uns bis in die unbefahrensten fernsten Himmelsstriche der Wahrheit geführt hat, so erschrecken wir mitten in dem entdeckten Klima über uns selbst und unsere tote Einsamkeit.

Schöne Schwärmerei.

Es würde mich traurig machen, wenn Sie das, was ich jetzt gesagt habe, für Schwärmerei nehmen wollten.

Ist es. Mit dem Zusatz »schön«.

Es ist keine Schwärmerei – oder Schwärmerei ist wenigstens ein Vorausgenossenes unsrer künftigen Größe, und ich vertausche einen solchen Augenblick nicht für den höchsten Triumph der kalten Vernunft.

Wer so – ich sage es ein weiteres Mal – schwärmt, wie steht’s um den in ganz alltäglichen Dingen?

Es kostet mich weniger Mühe, eine ganze Verschwörung und Staatsaktion durchzuführen, als meine Wirtschaft.

Verse können keinen Tee kochen.

Poesie ist nirgends gefährlicher, als bei ökonomischen Rechnungen. Meine Seele wird geteilt, beunruhigt, ich stürze aus meinen idealischen Welten, sobald mich ein zerrissner Strumpf an die wirkliche Welt mahnt.

Das sind doch Kleinigkeiten, die man beiseite schieben kann.

Kleinigkeiten tragen oft die schwersten Gewichte im Verlauf unseres Lebens.

Sind Sie ein schwieriger Nachbar? Welche Umgebung macht Ihnen das Leben angenehm?

Ich bin kein schlimmer Nachbar; um mich in einen anderen zu schicken, habe ich Biegsamkeit genug. Ich brauche nichts mehr als ein Schlafzimmer, das zugleich mein Schreibzimmer sein kann, und dann ein Besuchszimmer. Mein notwendiges Hausgerät wäre eine gute Kommode, ein Schreibtisch, ein Bett und ein Sopha, dann ein Tisch und einige Sessel. Habe ich dieses, so brauche ich zu meiner Bequemlichkeit nichts mehr.

Leben im Elfenbeinturm, hoch überm Boden der Tatsachen.

Parterre und unter dem Dach kann ich nicht wohnen, und dann möchte ich auch durchaus nicht die Aussicht auf einen Kirchhof haben. Ich liebe die Menschen und also auch ihr Gedränge.

Sind Sie ein Tag- oder Nachtmensch?

Leider nötigen mich meine Krämpfe gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir des Nachts keine Ruhe lassen, und überhaupt wird es mir nie so gut, auch den Tag über auf eine bestimmte Stunde sicher zählen zu dürfen.

Das macht es doch aber schwierig, nach Plan zu arbeiten?

Die Ordnung, die jedem andern Menschen wohl macht, ist mein gefährlichster Feind, denn ich brauch nur in einer bestimmten Zeit mir etwas Bestimmtes vornehmen müssen, und so bin ich sicher, daß es mir nicht möglich sein wird.

Sie sprachen vorhin heiter vom hohen Flug des Denkens, und darin klang doch etwas Ernstes mit. Man könnte es deutlicher sagen und jetzt Schiller gegen Schiller setzen: »Enthusiasmus und Ideale sind tief in meinen Augen gesunken.«

Gewöhnlich machen wir den Fehler, die Zukunft nach einem augenblicklich höhern Kraftgefühl zu berechnen, und den Dingen um uns her die Farbe unserer Schäferstunde zu geben.

Aber Sie loben doch fortwährend die Begeisterung, Sie lieben doch die ätherische Kraft, sich an einer großen Idee entzünden zu können.

Sie gehört zu dem bessern Manne, aber sie vollendet ihn nicht. Enthusiasmus ist der kühne kräftige Stoß, der die Kugel in die Luft wirft, aber derjenige hieße ja ein Tor, der von dieser Kugel erwarten wollte, dass sie ewig in dieser Richtung und ewig mit dieser Geschwindigkeit auslaufen sollte. Die Kugel macht einen Bogen.

Die Gewalt dieser Kugel bricht sich in der Luft.

Aber in dem süßen Moment der idealischen Entbindung pflegen wir nur die treibende Macht, nicht die Fallkraft und nicht die widerstehende Materie in Rechnung zu bringen. Da ist gewiß mehr als eine poetische Beleuchtung, und wenn man aufmerksam darüber nachgedacht hat, so wird man das Schicksal aller menschlichen Plane gleichsam in einem Symbol darin angedeutet finden: Alle steigen und zielen nach dem Zenit empor, wie die Raketen, aber alle beschreiben diesen Bogen, und alle fallen rückwärts zu der mütterlichen Erde.

Doch auch dieser Bogen ist ja schön.

Doch auch dieser Bogen ist ja schön!

Nennen Sie etwas Unbegreifliches, das uns klein macht – und uns in seinem Geheimnis doch zugleich erhebt.

Bewunderswert ist mir immer die erhabene Einfachheit und dann wieder die reiche Fülle der Natur. Ein einziger und immer derselbe Feuerball hängt über uns – und er wird millionenfach verschieden gesehen von Millionen Geschöpfen, und von demselben Geschöpf wieder tausendfach anders.

Nun Schiller und die Frauen!

Du notierest im Tagebüchlein eine, aber das Leben gibt dir eine andere. Doch die eine, die Verslein wird, kann dir vom Leben nicht aus der Welt geschafft werden.

Darf ich so frech sagen: Da redet man über die Liebe, sofort bringt er’s in Verbindung mit Dichten.

Liebe allein, ohne dieses innre Tätigkeitsgefühl, würde mir ihren schönsten Genuß bald entziehen. Wenn ich glücklich bleiben soll, so muß ich zum Gefühl meiner Kräfte gelangen, muß mich der Glückseligkeit würdig fühlen, die mir wird.

Und dies kann nur geschehen, wenn Sie schreiben?

Und dieses kann nur geschehen, wenn ich mich tätig in einem Kunstwerk beschaue.

Schreiben als Egoismus?

Es ist nicht Egoisterei, nicht einmal Stolz, es ist eine von der Liebe unzertrennliche Sehnsucht.

Das Gespräch »führte« Hans-Dieter Schütt

Alle Schiller-Zitate sind Briefen und Selbstzeugnissen entnommen.

Schiller,
geb. am 10. November 1759 in Marbach, gest. am 9. Mai 1805 in Weimar. Er erreichte 1782 mit dem Schauspiel »Die Räuber« den literarischen Durchbruch. Zahlreiche Biografien erschienen zum Schiller-Jahr. Rüdiger Safranski erhielt für seine großartige »Erfindung des deutschen Idealismus« (Hanser) den Preis der Leipziger Buchmesse 2005 (Kategorie Sachbuch).

Aus: Neues Deutschland, 19. März 2005

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Zitat Nr 84, 3. Mai 2005

THIS LAND IS YOUR LAND

(Words and music by Woody Guthrie)

This land is your land, this land is my land
From California to the New York Island
From the Redwood forest to the Gulf Stream waters
This land was made for you and me

I roamed and rambled and I followed my footsteps
To the sparklin' sands of her diamond deserts
And all around me her voice was singin'
This land was made for you and me

This land is your land...

As I went walkin' that ribbon of highway
I saw above me that endless skyway
I saw below me those golden valleys
This land was made for you and me

This land is your land...

As the sun was shining and I was strolling
And the wheat field waving and the dust clouds rolling
As the fog was lifting, a voice was saying
This land was made for you and me

This land is your land...
This land was made for you and me

Am 3. Mai 2005 begeht einer der größten Folksänger und Entertainer der USA seinen 86. Geburtstag: Pete Seeger. Wir haben einen seiner großen "Hits" schon vor einem Jahr als "Zitat der Woche" dokumentiert - Pete Seeger wurde damals 85 Jahre: "Sag mir, wo die Blumen sind" (Zitat vom 5. Mai 2004). Diesmal dokumentieren wir mit "This Land is Your Land" ein Lied seines kongenialen Freundes Woody Guthrie - das Lied hätte genauso giut von Pete Seeger selbst stammen können.
Als Draufgabe eine originale Komposition von Pete Seeger, die allerdings zu einem Welthit nicht durch ihn, sondern durch die Pop-Interpretation der Byrds wurde: Turn, Turn, Turn.


Pete Seeger: Turn, Turn, Turn!

To everything - turn, turn, turn
There is a season - turn, turn, turn
And a time for every purpose under heaven

A time to be born, a time to die
A time to plant, a time to reap
A time to kill, a time to heal
A time to laugh, a time to weep

To everything - turn, turn, turn
There is a season - turn, turn, turn
And a time for every purpose under heaven

A time to build up, a time to break down
A time to dance, a time to mourn
A time to cast away stones
A time to gather stones together

To everything - turn, turn, turn
There is a season - turn, turn, turn
And a time for every purpose under heaven

A time of war, a time of peace
A time of love, a time of hate
A time you may embrace
A time to refrain from embracing
v To everything - turn, turn, turn
There is a season - turn, turn, turn
And a time for every purpose under heaven

A time to gain, a time to lose
A time to rend, a time to sew
A time to love, a time to hate
A time of peace, I swear it's not too late!

Es fügte sich, dass Anfang Mai 2005 eine sehr engagierte und künstlerisch wertvolle CD auf den deutschen Markt kam - aus Anlass des 60. Jahrestags der Befreiung Deutschlands von Faschismus und Krieg - auf der dieses vielleicht bekannteste Lied von Pete Seeger wieder veröffentlicht ist. Daher an dieser Stelle ein Hinweis auf die CD:

Befreit! – Lieder und Texte nach dem 8. Mai
Am 08. Mai 2005 wird der 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus gefeiert. "Befreit! – Lieder und Texte nach dem 8. Mai" setzt sich auf verschiedenste Art und Weise mit diesem historischen Datum auseinander, beschäftigt sich mit Kapitulation, KZ-Befreiung, Kriegsende, Frage nach Gründen für die Naziherrschaft etc. Das von Diether Dehm zusammengestellte Album enthält sowohl musikalische Beiträge (u.a. von Konstantin Wecker, Pete Seeger, Manfred Maurenbrecher, Dieter Dehm) als auch hörbuchartig gesprochene Beiträge (Interviews, Reden, Rezitationen), die teilweise mit Musik unterlegt sind. Hochkarätige Vortragende sind dabei die Schauspieler Peter Sodann und Götz George oder Willy Brandt, der den Text "Das Weiche Wasser" spricht, musikalisch untermalt von Albert Mangelsdorff an der Posaune.
"Befreit! – Lieder und Texte nach dem 8. Mai" klärt auf, richtet sich gegen das Vergessen und beleuchtet dabei auch die Gegenwart – ein Album für politisch Interessierte und geschichtlich Neugierige!


TRACKLISTING:
  1. "Die Weiße Rose"; Gesang, Text und Musik: Konstantin Wecker
  2. "Hitler-Wirtschaft", Radio-Interview mit Professor Rudolf Hickel, Posaune: Albert Mangelsdorff
  3. "Drei Schwestern Kafkas", gelesen vom Autor Rolf Hochhuth
  4. "Bella Ciao", Gesang u. Text: Diether Dehm
  5. "Der Stellvertreter", gelesen vom Autor Rolf Hochhuth
  6. "Warum kommt ihr erst jetzt", Gesang, Text und Musik: Manfred Maurenbrecher
  7. "Friedenswirtschaft", Radio-Interview mit Professor Rudolf Hickel
  8. "Das Weiche Wasser II", gesprochen von Willy Brandt u. Götz George
  9. "Wir sind verdammt, uns zu vertragen" gelesen von der Autorin Daniela Dahn; Musik: Michael Letz
  10. "Willy 5", Gesang, Text u. Musik: Konstantin Wecker
  11. Rede von der Antikriegsdemo 15.2.03, gesprochen vom Autor Peter Sodann
  12. "Sag mir wo die Blumen sind", Gesang, Text u. Musik: Pete Seeger
  13. "Sag mir wo die Blumen sind" als Video-Datei

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Zitat Nr. 83, 27. April 2005

In memoriam Dorothee Sölle

Am 27. April jährt sich zum zweiten Mal der Todestag der bedeutenden Theologin Dorothee Sölle. Anlass für uns, ihrer mit drei kurzen Texten zu gedenken.

1. Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist die Grundlage des Friedens. Ohne sie wird es weiterhin ethnische Konflikte geben, weitere Privatisierung der Gewalt und wachsende Verelendung der Mehrheit der Menschen, der so genannten “loser”.

Aber gerade dieses einfache Überleben der Mehrheit ist heute durch die Globalisierung von oben in Frage gestellt. Ich habe von zwei Bauern in einem südindischen Dorf gehört, die bis zum letzten Jahr ihre gepachteten Felder noch bestellt haben. Jetzt haben sie keine Kraft und kein Geld mehr dazu. Keine Kraft mehr, weil sie wie 23 andere hoch verschuldete Bauern aus ihrem Dorf, ihre Nieren verkauft haben. Mit dem Geld wollten sie die Schulden für Saatgut, Pestizide und Dünger bezahlen. Doch die 2000 Mark für eine Menschenniere haben nicht gereicht. Einer der Bauern sagte dazu: “Jeder Bauer hat nur eine Niere, die er verkaufen kann.”

Wie definieren wir eigentlich Gewalt? das Einschlagen von Schaufenstern oder das Anzünden von Autos ist natürlich Gewalt, und ein klarer Rechtsbruch. Aber wenn eine Behörde eine Exportlizenz für Waffen, die Kinder gut bedienen können, erteilt, da bekanntlich aller Handel frei und unbehindert sein muss, ist das auch Gewalt? Oder wenn das Spekulieren an der Getreidebörse in Chicago Tausende von Menschen in den Hungertod treibt, weil die Notprogramme bei steigenden Preisen nicht mehr finanziert werden können, ist das auch Gewalt? Es ist in unserer Welt völlig legal. “Free trade” ist einer der wichtigsten Götzen, die über uns herrschen. In Babylon.

Wir alle leben in Babylon.

2. Christentum und wirtschaftliches Denken

Auf einer Party fragte mich ein höherer Manager “Finden Sie nicht auch, dass die anderen Religionen viel toleranter sind als das Christentum?” Ich wunderte mich in welcher Hinsicht er das meine. Nach kurzem Nachdenken kam die Antwort: “Nun ja in Wirtschaftsfragen zum Beispiel.” Ihm war zu viel von Gerechtigkeit die Rede, zu viel von den Arbeitslosen hier bei uns oder den Straßenkindern, die sich prostituieren müssen, um zu überleben. In dem kurzen Geplauder wurde sein Unbehagen an – vielleicht jeder Religion, aber besonders an der biblischen – immer deutlicher. Er missbilligte die überflüssige Einmischung in reale Notwendigkeiten von Ökonomie und Standardpolitik – Dinge, die seiner Meinung nach gar nichts mit Religion zu tun haben.

Gerechtigkeit ist einer der Namen Gottes, den viele loswerden wollen. Die Ökonomie ist in den letzten 12 Jahren immer totalitärer geworden, sie bestimmt und beherrscht alles, wenn auch sehr anders als die beiden totalitären Systeme, die ich kennen gelernt habe. Sie brüllt nicht Kommandos herum, sondern wirbt viel intelligenter, mit sanfter Stimme, sich ihr doch anzupassen und das Geld gewinnbringend zu vermarkten. Es dient nicht dazu, die Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Warum sollte man es in die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse sozialer, pädagogischer, ökologischer Art stecken, wenn die Gewinner es doch zu mehr Geld machen können?

3. Schalom

Unter Gerechtigkeit verstehen die Prophetinnen und Propheten ein Leben der Gemeinschaft im Recht. Diejenigen, die die Häuser gebaut haben, werden auch in ihnen wohnen; die die Weinberge gepflanzt haben, werden den Wein auch trinken. Das kommende Friedensreich wird im Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit gedacht. Gott „wird Recht sprechen zwischen vielen Völkern und Weisung geben starken Nationen bis in die Ferne; und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spieße zu Rebmessern. Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben, und sie werden Krieg nicht mehr lernen. Sie werden ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum sitzen, ohne dass einer sie aufschreckt“ (Micha 4,3 f.). Das sind biblische Vorstellungen von dem, was wirklich Frieden in Gerechtigkeit ist. Schalom ist nicht ein Abstraktum, und es gibt in der hebräischen Bibel keine Beispiele, wo Schalom die seelische Haltung des inneren Friedens bezeichnet. Auch wird der Begriff meist auf eine Gemeinschaft, selten auf ein Individuum bezogen. Schalom ist eine Vorstellung vom guten Leben, das Menschen leben können und nach dem sie dann alt und lebenssatt sterben können, weil ihre Tage gezählt sind und sie nicht vorzeitig zugrunde gehen an Krieg und Ungerechtigkeit.

Grundlage des Friedens ist die Gerechtigkeit. "Gnade und Treue begegnen einander, Gerechtigkeit und Friede küssen sich." (Psalm, 85,11) Das Ziel ist der Zustand, in dem Gott die Kriegswagen zerstört und der Aggression ein Ende gemacht hat. Ohne soziale Gerechtigkeit, ohne Recht kein Frieden. Der Maßstab ist nach Aussage der Prophetinnen und Propheten das Recht der Rechtlosen, etwa der Witwen und Waisen, die keinen männlichen Fürsprecher haben. Die unterste Klasse wird zum Maßstab des Wohlergehens aller gemacht. Die am meisten entrechtet sind, am wenigsten zu sagen haben, die nicht nur kein Geld haben, sondern auch keine FürsprecherInnen, keine Beziehungen, die nicht einmal mit den Behörden umgehen können, weil sie nicht wissen, worauf sie Anspruch haben - sie sind der Maßstab, an dem gemessen wird, was eigentlich Gerechtigkeit ist. Die Ausgegrenzten, die RandsiedlerInnen, die an der untersten Sprosse der Leiter einer Gesellschaft stehen, werden "erhöht", die Hohen "erniedrigt", damit eine "ebene Bahn für Gott" entsteht (Jesaja 40,3). Außenpolitik und Innenpolitik werden hier nicht getrennt, als ob man sich außenpolitisch unterwerfend, imperialistisch, aufrüstend verhalten und zugleich innenpolitisch Ruhe und Ordnung erhalten könne! Gerechtigkeit und Frieden gehören so zusammen, wie Aufrüstung und Krieg zusammengehören. Nur zusammen mit der Gerechtigkeit entsteht Frieden im vollen Sinn des Wortes Schalom. Biblisch gedacht ist es daher falsch zu behaupten, die Atombomben hätten uns vierzig Jahre lang den Frieden garantiert, insofern als sie in derselben Zeit den Menschen der Zweidrittelwelt das Verhungern garantiert haben. Ein auf Abschreckung und Gewalt, Terror, Elend und Drohung beruhender Friede ist antibiblisch, weil er Rüstung, nicht Gerechtigkeit zur Grundlage des Friedens macht.

Quelle: Homepage der Betriebsseelsorge St. Pölten (Niederösterreich): http://www.betriebsseelsorge.at.tf/

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Zitat Nr. 82, 25. Februar 2005

"Gegen Rumsfeld ermitteln!"

Der bekannte US-Sänger Harry Belafonte hat in einem Brief die deutsche Justiz aufgefordert, die Ermittlungen gegen den US-Verteidigungsminister wieder aufzunehmen. Wir dokumentieren diesen Brief im Wortlaut.* Die Klageschrift selbst und den Vorgang um die Einstellung des Verfahrens können Sie hier einsehen: Betrifft: Strafrechtliche Ermittlungen gegen den Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten Donald Rumsfeld u.a., AZ: 3 ARP 207/04-2

Sehr geehrter Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof Dietrich,

Ich schreibe Ihnen mit der Bitte, Ihre Entscheidung zu überdenken, die Ermittlungen gegen Donald Rumsfeld und andere US-Beamte, die aufgrund von Strafanzeigen irakischer Folteropfer und des Center for Constitutional Rights (CCR) eingeleitet wurden, einzustellen.

Wie Sie wissen, engagiere ich mich seit langem für Belange des Friedens und der Gerechtigkeit. Deutschland kenne ich seit Mitte der 50er Jahre und bin dort häufig aufgetreten.

Ich habe größten Respekt vor den Positionen, die die deutschen Bürger und ihre Regierung in zentralen außenpolitischen Fragen eingenommen haben, vor allem, wo es ihnen um die friedliche Lösung globaler Konflikte geht.

Als ich die Bilder irakischer Gefangener sah, die von amerikanischen Soldaten gefoltert wurden, war ich zutiefst schockiert und betrübt.

Seither gibt es fast jede Woche neue Enthüllungen über das Ausmaß dieser Folterungen - dabei ist zu Tage getreten, dass es sich bei der Misshandlung und Folter von Gefangenen im Irak, Afghanistan und Guantanamo um eine weit verbreitete Praxis handelt. Nachweislich haben sich hochrangige Mitglieder der US-Regierung und des Militärs daran beteiligt.

"Keiner, der an Folter beteiligt ist, darf ungestraft bleiben"

Trotzdem hat sich die US-Regierung geweigert, die eigene Mitverantwortung einschließlich der von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu untersuchen. Stattdessen werden ausschließlich Soldaten niederen Ranges strafrechtlich verfolgt.

Seit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und ihrer Nachwirkungen müssen unbestritten sämtliche Staaten sicherstellen, dass alle, die sich der Folter und Kriegsverbrechen schuldig machen, vor Gericht gebracht werden.

Wenn die betroffenen Staaten dies unterlassen, sind die internationale Staatengemeinschaft und ihre Mitglieder verpflichtet, aktiv zu werden.

Ich war sehr erfreut, als ich erfahren habe, dass das CCR eine 170-seitige Strafanzeige gegen hochrangige US-Beamte bei Ihnen eingereicht hat.

Wie mir das CCR erklärt hat, können mutmaßliche Kriegsverbrecher nach dem Völkerrecht und dem internationalen Strafrecht Ihres Landes unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrem Aufenthaltsort strafrechtlich verfolgt werden. Abgesehen davon leben einige der Beschuldigten in Deutschland.

Ich unterstütze die Bemühungen des CCR, US-Beamte für ihre mutmaßliche Beteiligung an diesen Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Meines Wissens liegt es in Ihrer Zuständigkeit und in Ihrer Pflicht, solche Ermittlungen einzuleiten. Eine Unterlassung würde zu weiteren Gesetzesbrüchen ermutigen.

Ich bitte Sie dringend, eine Ermittlung gemäß des deutschen Rechts, der Genfer Konventionen und der Konvention gegen die Folter einzuleiten. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Keiner, der an Folter und Kriegsverbrechen beteiligt ist, darf weiterhin ungestraft bleiben.

Hochachtungsvoll
Harry Belafonte

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 23. Februar 2005

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Zitat Nr. 81, 20. Februar 2005

Flagge zeigen! oder Die friedliche Kot-Guerilla

Mitte Februar zierte zwei Tage lang folgendes Zitat aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung unsere Homepage:

Au Backe: Hundekacke!
Ein mysteriöser Unbekannter „verziert“ in einem Bayreuther Park immer wieder Hundehaufen mit amerikanischen Fähnchen. Über das Motiv dieses seltsamen Treibens kann Josef Öttl von der Schloss- und Gartenverwaltung Bayreuth-Eremitage nur Vermutungen anstellen. „Vielleicht will jemand auf diese Weise gegen den Irak-Krieg protestieren oder auch nur auf die extreme Verkotung der Parkanlage aufmerksam machen.“ Seine Hoffnung, dass dieser Unfug mit dem Ende der Präsidentenwahl in den USA aufhöre, habe sich nicht erfüllt, sagte Öttl. Seit gut einem Jahr seien mittlerweile zwischen 2000 und 3000 Hundehaufen „verziert“ worden.
(...)
Die Polizei steht dem Treiben weitgehend hilflos gegenüber. „Wir laufen zwar verstärkt Streife, aber es ist nicht strafrechtlich relevant, amerikanische Fähnchen in Hundekot zu stecken“, sagte Polizeisprecher Reiner Küchler. Ähnlich sieht das auch ein Vertreter der Justiz: „Die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit geht sehr weit“, meinte leitender Oberstaatsanwalt Thomas Janovsky.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 14. Januar 2005

Offenbar hatte der Spaßvogel in Bayreuth ein Vorbild. Die FriedensTreiberAgentur (Wolfgang Kuhlmann) schickte nämlich eine Meldung vom 22. Januar 2005:

Flagge zeigen! oder Die friedliche Kot-Guerilla

Als wär's eine Idee von Fritz Teufel: es soll in Berlin Menschen geben, die die hündischen Hinterlassenschaften mit kleinen US-Fähnchen kennzeichnen. Sie gehen dabei so klandestin vor, daß selbst die Berliner Polizei sie bislang nicht auf frischer Tat ertappen konnten, ja nicht einmal eine winzige Spur zu haben scheinen. Das geht bereits seit etwa einem Jahr so und führte zur feierlichen Beflaggung von geschätzt 3.000 Hundebergen.

Die Geschichte scheint wahr zu sein, denn sie stand in der FTD. (FTD 21.01.2005 [Jaklin])

Die Motivation der neue Gipfel stürmenden Kot-Guerilla ist mangels Bekennerschreiben immer noch unklar. Eine schlichte Deutung mag sein, daß die Kot-Guerilla die (Kriegs)politik der US-Regierung einfach beschissen findet.
Auch eine gänzlich unpolitische Interpretation ist möglich: Achtung! Wer dem Fähnlein folgt, beschmutzt sich.

Um es noch schwerer zu machen, lassen sich beide Möglichkeiten natürlich als Aussage kombinieren. Es wäre dann gleichzeitig eine Warnung an Schröder: Hier könnte auch Deine Staatsflagge stehen!
Oder ist es einfach so, wie der Autor der FTD im Schlußsatz vermutet: Schlicht ein extremer Fall von Freiheitsliebe mit einem Freiheitssymbol?

Mehr über das Kultobjekt, mit dem zig Tausende von Menschen in den letzten Jahren in völkerrechtswidrige Kriege zogen, mit dem aber noch mehr Tausende auch gegen den Krieg protestierten (auch durch feierliches Verbrennen), in zum Ausgleich staatstragenden statt staatsfragenden Sinn:
http://usa.usembassy.de/regierung-flagge.htm
Geregelt wird der Gebrauch der Flagge im Public Law 94-344, auch als Federal Flag Code bekannt.
www.bcpl.net/etowner/flagcode.html
Er enthielt keine Strafvorschriften für einen Flaggenmißbrauch. Nachdem 1989 das Oberste Gericht der USA ein Bundesstaatsgesetz, welches das Verbrennen der Flagge unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärte, wurde im gleichen Jahr umgehend das Flag Protection Act ersonnen.
Dieses Gesetz stellte die Entweihung der Flagge unter Strafe (bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe).

Die Freude der Patrioten währte indes nicht allzu lange: der Supreme Court kassierte auch dieses Gesetz: Verstoß gegen den im First Amendment zur Bundesverfassung festgeschriebenen Grundsatz der "Free Spech".

Nun gibt es inoffizielle "Guidelines for Display of the Flag", aus welchen ich mir obiges Wissen herausgezogen habe. Diesen Leitlinien ist so einiges zu entnehmen.
US-Botschaft:
http://usa.usembassy.de/etexts/gov/flagguidelines.pdf

So beispielsweise, daß die Flagge keiner Wetter-Unbill wie Regen, Schnee und Stürmen ausgesetzt werden soll, "wenn sie nicht eine Allwetterflagge ist". Bei Sonnenuntergang ist sie abzunehmen, es sei denn, sie würde beleuchtet. Bei einem Zusammentreffen mit anderen us-amerikanischen Fahnen muß Stars and Stripes muß die Flagge "at the top" flattern (außer bei Gottesdiensten auf See, die von Navy-Geistlichen abgehalten werden), gibt es mehrere Flaggenmasten, muß sie als erste gehißt und als letzte eingeholt werden. Sie hat ihren Platz auf der äußersten rechten Seite (steht da so: "on the right of other flags") und keine darf höher stehen.

Bei einem Zusammentreffen mit anderen Staatsflaggen gebietet es der internationale Brauch, daß alle Flaggen in Friedenszeiten auf gleicher Höhe wehen und auch ungefähr eine gleiche Größe aufweisen. Was wiederum einen Schluß auf Kriegszeiten zuläßt.
Da sollte die Berliner Polizei nicht päpstlicher sein als der Papst und die Fahndung nach der mit friedlichen Mitteln agierenden und nur flaggenbewehrten Kot-Guerilla einstellen.



In Kürze


77 Prozent sagen "Nein" zur EU-Verfassung
Eine Leser/innen-Umfrage der Westdeutschen Allgemeinen (WAZ) ergab fogendes Ergebnis:
Frage: "Franzosen und Niederländer durften in einem Referendum über die EU-Verfassung entscheiden - Wie hätten Sie gestimmt?"
Für die Verfassung: 226 (21,4 %)
Gegen die Verfassung: 816 (77,3 %)
Ich hätte nicht mitgestimmt: 14 (1,3 %)
Es haben 1.056 User teilgenommen (Stand: 19. Juni 2005, 12.30 Uhr)


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"Friedensbewegung"
"Die Bundeswehr war und ist die größte Friedensbewegung in unserem Land."
Der niedersächsische Landtagspräsident Jürgen Gansäuer anlässlich eines Gelöbnisses am 10. Juni in Braunschweig. Zit. nach: Braunschweiger Zeitung, 11. Juni 2005

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Not very british

Nach der Ablehnung durch die Franzosen und Niederländer wird es in Großbritannien in absehbarer Zeit kein Referendum über die EU-Verfassung geben. Außenminister Jack Straw erklärte am Montag vor dem Unterhaus, es sei nach den beiden negativen Entscheidungen nicht angebracht, mit der geplanten Volksabstimmung fortzufahren.
(AP, 6. Juni 2005)
Bis zu den Unterhauswahlen vor einem Monat hatte Tony Blair die Briten noch im Glauben gelassen, sie dürften über die EU-Verfassung demokratisch abstimmen. Die Wahl hat Blair - wenn auch knapp - gewonnen. Das Referendum hätte er mit Sicherheit nicht für sich, d.h. für die EU-Verfassung gewinnen können. Umfragen haben zuletzt eine Ablehnungsrate von 72 Prozent gezeigt. Also wird kurzerhand das versprochene Referendum abgesagt. Die Demokratie bleibt auf der Strecke.
Aus einer Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag vom 6. Juni 2005

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"Ein herzhafter Widerstand"

"Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die Gründung der niederländischen Freiheit. (...) Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hülfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Plane an der menschlichen Freiheit zu Schanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hülfsquellen endlich erschöpfen kann. Nirgends durchdrang mich diese Wahrheit so lebhaft, als bei der Geschichte jenes denkwürdigen Aufruhrs, der die vereinigten Niederlande auf immer von der spanischen Krone trennte - und darum achtete ich es des Versuchs nicht unwert, dieses schöne Denkmal bürgerlicher Stärke vor der Welt aufzustellen, in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken, und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache, und ausrichten mögen durch Vereinigung."
Friedrich Schiller, aus der Einleitung zu "Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung", erschienen 1788

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"Die spinnen, die Brüsseler!"


Meuterei im Gallierdorf! Asterix sagt Nein. Das Volk gehorcht seinen Führern nicht mehr. Der Häuptling Majestix auf seinem Schild befindet sich in Schieflage. Römer, Brüsseler und andere sind konsterniert und sagen: Die spinnen, die Gallier! (…) Obelix, schwergewichtige Inkarnation des so genannten gesunden Menschenverstands, denkt sich seinen Teil. Warum soll man denn überhaupt abstimmen, wenn man nur Ja sagen darf? Die sind verrückt in Brüssel!
(Aus einem Kommentar der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 31. Mai 2003 zum Ausgang des Referendums in Frankreich über die EU-Verfassung.)

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Neuwahlen im Herbst?

Für die aus meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder am Abend des 22. Mai 2005

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Drei Mal Schiller (Friedrich Schiller, gest. 9. Mai 1805)

Friedrich Schillers Kommentar zum gegenwärtigen Papst-Kult:
Die Geistlichkeit war von jeher eine Stütze der königlichen Macht und mußte es sein. Ihre goldene Zeit fiel immer in die Gefangenschaft des menschlichen Geistes, und wie jene sehen wir sie vom Blödsinn und von der Sinnlosigkeit ernten.

Friedrich Schiller zum Fundamentalismus:
Keine Kriege werden zugleich so ehrlos und unmenschlich geführt als die, welche Religionsfanatismus und Parteihaß im Inneren eines Staates entzünden.

Zum Pazifismus Friedrich Schillers:
Was ein Schwert auszurichten vermag, tut auch ein Wort der Güte.


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Vornehmste Pflicht

Da wir als Wissenschaftler die tragische Bestimmung haben, die schaurige Wirksamkeit der Vernichtungsmethoden zu steigern, muss es unsere feierlichste und vornehmste Pflicht sein, nach besten Kräften zu verhindern, dass diese Waffen zu den brutalen Zwecken gebraucht werden, für die man sie erfand. Welche Aufgabe könnte für uns bedeutsamer sein? Welches soziale Ziel könnte unserem Herzen näher stehen?
Aus: Albert Einstein, Botschaft an die Intelligenz (1948)

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Wenn schon Müntefering, dann Albert Einstein!

Produziert wird für den Profit - nicht für den Bedarf. Es gibt keine Vorkehrung, die dafür sorgen würde, dass all jene, die fähig und bereit sind zu arbeiten, immer Arbeit finden können. Es gibt fast immer ein "Heer von Arbeitslosen". Der Arbeiter lebt dauernd in der Angst, seinen Job zu verlieren. Da arbeitslose und schlecht bezahlte Arbeiter keinen profitablen Markt liefern, ist die Warenproduktion beschränkt und große Not ist die Folge. Technologischer Fortschritt führt häufig zu mehr Arbeitslosigkeit statt zu einem Milderung der Last der Arbeit für alle. Das Profitmotiv, in Verbindung mit der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten, ist für die Instabilität der Akkumulation und Anwendung des Kapitals verantwortlich, und dies hat zunehmend schwerere Depressionen zur Folge. Unbegrenzte Konkurrenz führt zu einer riesigen Vergeudung von Arbeitskraft und zu dieser Verkrüppelung des gesellschaftlichen Bewusstseins von Individuen, die ich zuvor erwähnt habe.
Diese Verkrüppelung halte ich für das größte Übel des Kapitalismus. Unser ganzes Bildungssystem leidet darunter. Den Studierenden wird ein übertriebenes Konkurrenzstreben eingetrichtert und sie werden dazu abgerichtet, erfolgreiche Raffgier als Vorbereitung für ihre zukünftige Karriere anzusehen.

Aus: Albert Einstein: Warum Sozialismus?, 1949 (den ganzen Text gibt es hier: "Die 'räuberische Phase' der menschlichen Entwicklung haben wir nirgends wirklich überwunden")

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Struck sitzt am Hindukusch fest

Wegen schlechten Wetters hat Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) in der afghanischen Hauptstadt Kabul festgesessen. Struck flog am 26. April nach Kabul, konnte die Stadt nach seinem Besuch der deutschen ISAF-Soldaten aber aufgrund starker Bewölkung nicht verlassen. Mehrmals startete eine Transall im usbekischen Termes, um den Minister in Kabul abzuholen. Doch das Flugzeug musste wiederholt am Hindukusch umdrehen, weil die Wolkendecke zu dicht war. Der Grund: Die Maschine kann nur im Sichtflug fliegen, weil der Luftraum in dieser Region nicht per Radar überwacht wird. Bei starken Wolken ist ein Flug zu gefährlich. Auch der Versuch, Struck mit einem anderen Flugzeug nach Masar-i-Scharif auszufliegen, scheiterte wegen der Wetterbedingungen.
Soweit die Agenturmeldung vom 26. April 2005. Ist es das, was Struck meinte, als er vor zwei Jahren davon sprach, dass die Landesverteidigung am Hindukusch stattfinde? Nimmt er sich selbst beim Wort?

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"Erbärmlich"
"Besonders erbärmlich ist das Verhalten der FDP, die lange jegliche Kritik an dem Vorhaben vermissen ließ, und am Ende aus parteitaktischen Gründen dagegen stimmte."
Aus einer Erklärung der grünen Bundestagsfraktion zur Abstimmung über das Rüstungsprojekt MEADS
Preisfrage:
Wie nennt man aber das Verhalten einer Partei, die lange heftige Kritik an dem Vorhaben übt und am Ende aus parteitaktischen Gründen dafür stimmt?

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Artikel 9

(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten.
(2) Zur Erreichung des Zwecks des Absatz 1 werden Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten.
(3) Ein Kriegführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.

Aus der noch gültigen japanischen Verfassung von 1947 (Siehe hierzu: "Japan will Friedensverfassung ändern")

Verrückt

Eine Billion Dollar wird jedes Jahr für Militärzwecke ausgegeben, 300 Milliarden Dollar für protektionistische Maßnahmen und 50 bis 60 Milliarden Dollar für Entwicklungshilfe - es ist verrückt anzunehmen, dass die Probleme damit gelöst werden.
Weltbankpräsident James Wolfensohn, zit. nach: Frankfurter Rundschau, 15. April 2005 (Seite 9: "Weltbank rügt Geberländer")

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Sind wir noch brauchbar?

Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, daß wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?
Dietrich Bonhoeffer, Ende 1942*

* Dietrich Bonhoeffer, Widerstandskämpfer und Mitglied der Bekennenden Kirche, wurde am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg von den Nazis hingerichtet. Hier geht es zu einem Nachruf.

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Einstein zum "technischen Fortschritt":

Für mich steht fest: Derselbe technische Fortschritt, der an sich berufen wäre, den Menschen einen großen Teil der zu ihrer Erhaltung nötigen Arbeitslast abzunehmen, ist die Hauptursache des gegenwärtigen Elends.
Aus: Albert Einstein, Mein Weltbild (1932)

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"Bush wurde nicht wiedergewählt"
Bush wurde nicht wiedergewählt, weil es keine Wahlen gab. Eine Wahl erfordert die Teilnahme einer informierten Öffentlichkeit in einem politischen Prozess. Was wir in den USA sehen, hat nichts mit der Einbeziehung einer informierten Öffentlichkeit in einen politischen Prozess zu tun.
(...)
Wenn Sie sich einen Werbespot im Fernsehen ansehen, erwarten Sie nicht, informiert zu werden. Sie erwarten, irregeführt zu werden. Das ist die Idee von Werbung.
Wenn diesen Werbeleuten die Aufgabe gestellt wird, Kandidaten zu verkaufen, machen sie dasselbe – Bush wird nicht als das dargestellt, was er ist: als verwöhnter reicher Junge, der zu einer tollen Schule ging und ein Geschäftsmann werden konnte, weil er reiche Freunde hatte. Er wird dargestellt als ein Rancher von Texas, wie ein ganz normaler Typ, mit dem man sprechen kann. Die Politik des Kandidaten kennt aber niemand.

Noam Chomsky, laut New York Times meistzitierter lebender Wissenschaftler weltweit, in einem Interview mit dem Wiener "Standard", 6. April 2005

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Kofi Annan denkt über Präventivkrieg nach

124. Unmittelbar drohende Gefahren sind durch Artikel 51 vollständig abgedeckt, der das naturgegebene Recht souveräner Staaten zur Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs gewährleistet. Juristen erkennen schon lange an, dass dies sowohl einen unmittelbar drohenden als auch einen bereits erfolgten Angriff umfasst.
125. Wenn es sich nicht um eine unmittelbar drohende Gefahr, sondern um eine latente Bedrohung handelt, überträgt die Charta dem Sicherheitsrat die volle Autorität für die Anwendung militärischer Gewalt, auch präventiv, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren. (...)

Aus: In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle, Bericht des UN-Generalsekretärs vom 21. März 2005.

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CIMIC

Um bei der Bewältigung internationaler Krisen künftig effektiver wirken zu können, legte der niederländische Verteidigungsminister Henk Kamp ein "Denkpapier" vor. Darin plädiert er dafür, Militär, Polizei und Entwicklungspolitik nicht mehr als getrennte Bereiche zu begreifen, sondern sie miteinander zu integrieren. Unter Hinweis auf Irak und Darfur in Sudan meinte Kamp, dass es "keine funktionierende Regierung ohne eine funktionierende Sicherheit" geben könne. Der Niederländer regte an, Kriterien für die Zusammenfügung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu entwickeln, so dass sie bei Krisen aufeinander abgestimmt eingesetzt werden können.
Aus: Frankfurter Rundschau, 19. März 2005
[Anmerkung: Das Konzept, das hier der Europäischen Union vorgeschlagen wird, ist in der NATO bereits als "CIMIC" (Civil-Military Co-Operation) bekannt. Eine entsprechende Doktrin wurde im Juni 2003 herausgegeben (Allied Joint Publication: AJP-9)]

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Der doppelte Dschumblatt

Der führende libanesische Oppositionspolitiker Walid Dschumblatt in einem Interview am 5. März:
"Aber Syrien darf sich nicht weiter in die internen Angelegenheiten Libanons einmischen. Das geht einfach nicht."
Derselbe Dschumblatt am 17. März im libanesischen Fernsehsender Future TV:
Er rufe Syrien mit Präsident Baschar el Assad an der Spitze auf, den Rücktritt des pro-syrischen libanesischen Präsidenten Emile Lahoud zu veranlassen.

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75 Jahre "Salzmarsch"

Tausende Menschen haben mit einer Neuauflage des berühmten Salzmarsches an die Friedensbotschaft des Vaters der indischen Unabhängigkeit, Mahatma Gandhi, erinnert. 75 Jahre nach dem Marsch, mit dem Gandhi seinen gewaltfreien Widerstand gegen die britische Besatzung begründete, brachen sie am 12. März zu einer 388 Kilometer langen Wanderung zwischen Ahmedabad und Dandi auf.
Nur mit einem Lendenschurz bekleidet war der damals 61-jährige Mahatma Gandhi am 12. März 1930 von Ahmedabad nach Dandi gewandert, um in einem symbolischen Akt des zivilen Ungehorsams gegen das britische Salzmonopol einen Klumpen natürlichen Salzes zu brechen. Der Marsch löste im ganzen Land eine Welle gewaltfreier Proteste aus, die 17 Jahre später zum Ende der britischen Kolonialherrschaft führen sollten.
Gandhi sagte damals:
"Nach allem, was ich während der letzten zwei Wochen erlebt habe, bin ich geneigt zu glauben, dass der Strom derer, die bürgerlichen Widerstand leisten wollen, nicht abreißen wird. Doch lasst auch nicht den geringsten Anschein entstehen, als wolltet ihr den Frieden brechen, selbst dann nicht, nachdem wir alle verhaftet worden sind. Wir haben beschlossen, alle Reserven für die Verfolgung eines ausschließlich gewaltlosen Kampfes einzusetzen. Lasst nicht zu, dass jemand im Zorn unüberlegt Handlungen begeht. Das ist meine Hoffnung und inständige Bitte. Ich wünschte nur, dass diese meine Worte jeden Winkel und jede Ecke des Landes erreichten."

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Freie Wahlen erst nach Truppenabzug möglich

Alle Streitkräfte und Nachrichtendienstmitarbeiter Syriens müssen sich vor den Wahlen im Libanon zurückziehen, wenn diese Wahlen frei und fair sein sollen.
Die Wahlen im Libanon müssen von internationalen Beobachtern gründlich und sorgfältig überwacht werden. Die Libanesen haben ein Recht darauf, ihre eigene Zukunft ohne die Vorherrschaft einer fremden Nation zu bestimmen. Sie haben das Recht, im Frühjahr frei von Einschüchterung ihr eigenes Parlament zu wählen.

US-Präsident George W. Bush in einer Rede am Dienstag, 8. März 2005 in Washington.

In a pronouncement which defies satire, Bush insisted on Tuesday that Syria must withdraw from Lebanon before elections due in May "for those elections to be free and fair". Why the same point does not apply to elections held in occupied Iraq - where the US has 140,000 troops patrolling the streets, compared with 14,000 Syrian soldiers in the Lebanon mountains - or in occupied Palestine, for that matter, is unexplained.
Seumas Milne in einem Kommentar im britischen "Guardian", 10. März 2005.

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Bolton poltert gegen UN

Die Erfahrung mit der Bush-Regierung im allgemeinen und John Bolton im besonderen lehrt, dass Personen Programm sind. (...) Bolton hat als Staatssekretär für Fragen der Rüstungskontrolle die Verhandlungen zur Stärkung der Biowaffen-Konvention sowie die mit Nordkorea torpediert. Im Atomstreit mit Iran lehnt er den europäischen Gesprächsansatz ab. Bolton war der Architekt der US-Kampagne gegen den Internationalen Strafgerichtshof. Die UN sind für ihn ein Debattierclub, der sich bestenfalls für amerikanische Interessen einspannen lässt, den man ansonsten aber links liegen lassen kann.
(...) Und nun? Die Entsendung des Feuerfalken darf als Affront verstanden werden. Vor allem gegen die UN selbst. (...)

Dietmar Ostermann über den künftigen US-Botschafter bei den Vereinten Nationen (Frankfurter Rundschau, 9. März 2005 - Kommentar)

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"Die Stellung der Frau stärken!"

Sechzig Jahre sind vergangen, seit die Gleichberechtigung von Frau und Mann von den Gründern der Vereinten Nationen auf der ersten Seite der UNO-Charta fest verankert wurde. Seither haben zahllose Studien gezeigt, dass es kein wirksameres Mittel zur Förderung der Entwicklung gibt, als die Stellung der Frau zu stärken. Keine andere politische Maßnahme hat ein höheres Potenzial, die wirtschaftliche Produktivität zu steigern oder die Kinder- und Müttersterblichkeit zu senken, oder kann mit so großer Sicherheit Ernährung und Gesundheit fördern, einschließlich der Prävention von HIV/Aids. Keine andere Maßnahme hat sich wirksamer erwiesen, die Chancen der kommenden Generationen auf Bildung zu erhöhen. Ich wage zu behaupten, dass keine politische Maßnahme bei der Verhütung von Konflikten oder der Aussöhnung nach dem Ende eines Konflikts wichtiger ist als diese.
UN-Generalsekretär Kofi Annan zum 8. März 2005 (Quelle: www.uno.de)

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"Verschwörungstheorie"

Den USA zu unterstellen, dass sie Sgrena töten wollten, ist schlicht und einfach absurd. Welches Interesse sollten die Amerikaner daran gehabt haben? Es kann doch niemand ernsthaft glauben, dass sie bewusst die Beziehungen zu einem ihrer treuesten europäischen Verbündeten im Irak aufs Spiel setzen wollten, bloß um ihre Ablehnung gegen Lösegeldzahlungen zu dokumentieren. Es mag zutreffen, dass die US-Soldaten an der Straßensperre, anders als von den USA behauptet, ohne Vorwarnung das Feuer auf Sgrenas Auto eröffneten. Doch das verdeutlicht einmal mehr, wie blank gescheuert die Nerven der GIs im Irak sind. Alles andere ist Verschwörungstheorie, zu der Anti-Amerikaner bekanntlich ein besonderes Liebesverhältnis haben.
Aus einem Kommentar von Christian Ultsch in der Wiener "Presse", 7. März 2005.

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20 Minuten zwischen Leben und Tod

"Wenige Minuten, so lange hat unsere Freude gedauert. Die Zeit zwischen einem Telefonat und dem nächsten: das, in dem uns die Befreiung Giulianas angkündigt wurde, und das, in dem uns vom Tod eines Menschen berichtet wurde, der mehr als jeder andere für ihre Befreiung gearbeitet hat. 15, 20 Minuten höchstens, das ist die Zeit, in der man ein Menschenleben zurückgewinnt und ein anderes verliert. Wir befinden uns mitten in einem absurden Krieg, in dem wir riskieren, uns alle zu verlieren."
"Il Manifesto" zu den tragischen Geschehnissen bei der Befreiung der Journalistin Giuliana Sgrena, 5. März 2005 (zit. nach "Spiegel-Online").

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Zitaten-Nachlese zum Bush-Besuch

"Ich lebe zur Zeit mit einem Spruch, der da heißt: Bevor du etwas sagst, denke nach, ob du nicht zufällig das sagst, was du denkst. Und wenn ich jetzt schreiben würde, was ich über Herrn Bush denke, dann könnte ich mir vorstellen, dass unsere Regierung außenpolitische Schwierigkeiten bekommen könnte. Die will ich ihr ersparen.
Ich hoffe, Sie haben mich verstanden."

Peter Sodann, Schauspieler (einem breiten Publikum als Tatortkommissar bekannt)

"Sie, Herr Bush, geben Entrüstung über erstarkten Nazismus in Deutschland? Aber: Ihre Regierung hat doch Krieg um Naturschätze fremder Völker zur politischen Normalität gemacht; will andersdenkende Völker wie Cuba und Venezuela brutal niedermachen; schafft so das Klima auch, wo Nazi-Herrenmenschgehabe floriert. Wer den Terror des Kapitals, den Abriss von Lohn-, Sozial- und Öko-Standards verschärft, verschärft weltweit auch das nötige Elend für braune (und andere) Rattenfänger. (...)"
Konstantin Wecker, Komponist, Sänger und Schriftsteller.

"(...) Was um Himmels Willen suchen Sie in Mainz? Was hat Ihnen diese Stadt getan? Sie stürzen die Behörden in einen polizeistaatlichen Security-Rausch, den wir uns nach dem millardenschweren Mautdesaster gar nicht leisten können. Ramstein käme billiger, und Sie hätten dort den gleichen Stacheldraht wie in Guantánamo. (...)"
Matthias Deutschmann, Kabarettist

Alle drei Zitate aus: Frankfurter Rundschau, 24. Februar 2005

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Vom hörbaren Frieden

Wer den Frieden wünscht, ihn ästhetisch beschwört, tut dies gerade aus dem Grunde, dass er Frieden in der ihn umgebenden Wirklichkeit eben nicht vorfindet. Friedensthematik heißt immer auch Kriegsthematik oder Gewaltthematik in einem Spektrum, das, durch die Umstände des Lebens bedingt, bedauerlich breit ist. Auch wenn hier speziell und gezielt nach dem "hörbaren Frieden" gefragt wird, impliziert diese Frage immer auch das Gegenteil, also den "hörbaren Krieg" und die "hörbare Gewalt". Vor diesem Erfahrungshintergrund von Krieg und Gewalt entsteht ja überhaupt erst die Notwendigkeit, Frieden als Thema künstlerisch zu bearbeiten.
Aus dem Vorwort zu "Vom hörbaren Frieden", hrsgg. von Hartmut Lück und Dieter Senghaas, Frankfurt a.M. 2005, S. 10.


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