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"Dass die Verfassung tot ist, wird in ganz Europa immer deutlicher"

Tony Blair legt Referendum auf Eis - Friedensbewegung: Angst vor Demokratie

Am 6. Juni erklärte die Regierung in London, das geplante Referendum über die EU-Verfassung auszusetzen. Schon zuvor waren mit dem "Non" in Frankreich und dem "Nee" in den Niederlanden die EU-Regierungen in tiefe Depression und Turbulenzen gestürzt worden.
Im Folgenden dokumentieren wir

  1. ein paar Pressestimmen zum Zustand des EU-Ratifizierungsprozesses vor dem britischen Rückzieher,
  2. die Agenturmeldungen vom Tage über die britische Entscheidung,
  3. eine erste Presseerklärung aus der Friedensbewegung dazu.



Europäische Pressestimmen zur EU-Krise

(Alle vom 6. Juni 2005)

"Le Figaro" (Paris):
Jetzt muss rasch eine Einigung über den Haushalt der Jahre 2007- 2013 her, denn es gilt zu beweisen, dass die EU trotz alledem funktioniert. Die Krise darf nicht unkontrollierbar werden. Mitten im Wahlkampf ist es sich Bundeskanzler Gerhard Schröder schuldig, eine Verringerung der deutschen Netto-Einzahlungen durchzusetzen. Er wird dabei von Staatspräsident Jacques Chirac unterstützt. Beide machen Druck auf Großbritannien, auf dass die 1984 von Margaret Thatcher ausgehandelte britische Bevorzugung abgebaut werde. In diesem Punkt ist der britische Premier Tony Blair in der Defensive, hält dabei aber den Schlüssel in der Hand, um die europäische Maschine wieder anzukurbeln. Ohne die notwendige Geste von Blair sind Paris und Berlin heute viel zu geschwächt, um als Motor dienen zu können.

"The Times" (London):
Der französische Präsident Jacques Chirac und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder sind in einer äußerst schwachen Position. In keiner zentralen Frage der EU können sie den Ton angeben. Die meisten Ministerpräsidenten der anderen Länder und sowie - wenn auch nur privat - die meisten Mitglieder der Europäischen Kommission räumen ein, dass die Verfassung gescheitert ist. Die EU spielt eine Art politischen "Schwarzen Peter", wobei alle führenden Politiker bemüht sind zu vermeiden, das Offensichtliche beim Namen zu nennen. Die britische Regierung sollte Paris und Berlin höflich zu verstehen geben, dass die Musik aufgehört hat zu spielen.

"The Guardian" (London):
Dass die Verfassung tot ist, wird in ganz Europa immer deutlicher, auch wenn man dies nicht immer öffentlich zugibt. Selbst beim deutsch-französischen Gipfeltreffen hat man gerade noch vermieden, so zu tun, als ob die Abstimmungen der vorigen Woche gar nichts geändert hätten. (...) In der Vergangenheit bildeten britische Ansichten zu europäischen Fragen oft einen Teil des Problems. Heute können sie endlich ein Teil der Lösung sein. Abgeordnete aller Parteien im britischen Parlament sollten begreifen, dass dies sowohl eine Chance für Europa wie auch eine Krise darstellt.

"Frankfurter Rundschau":
Die deutsch-französische Europapolitik läuft jetzt auf eine Mischung aus Zeit gewinnen und Schaden begrenzen hinaus. Die weitere Erosion möglichst aufhalten - das ist das Ziel. Auf der Suche nach dem dritten großen Partner gehen weiter ratlose Blicke Richtung London. Längst gibt es aber daneben die innenpolitische Seite. Denn mit einer europaweit nun drohenden Re-Nationalisierung des Denkens gäbe es auch in Frankreich und Deutschland dankbare politische Profiteure. In Deutschland laufen sich die Unionsparteien, speziell ihr bayerischer Teil, immer auffälliger EU-kritisch warm.
Nicht zu wackeln ist da in gewisser Weise schon eine europäische Leistung. Freilich: Die neue Perspektive entsteht so noch nicht. Sie ohne großes Zurückweichen im europäischen Ansatz zu suchen, wird Zeit brauchen. Mehr womöglich, als Chirac und Schröder noch haben.

"Lidove noviny" (Prag)
Jedes Land habe ein Recht, sich zur EU-Verfassung zu äußern, haben Jacques Chirac und Gerhard Schröder in Berlin betont. Aber reicht ein solcher Appell, um eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses zu rechtfertigen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass weitere Ablehnungen nur neue Nägel im Sarg der EU-Verfassung sein werden? Nein - viel Sinn machen weitere Abstimmungen nicht mehr, und die Debatte über das Dokument wird immer diffuser.
Die künstliche Beatmung der EU-Verfassung raubt den Politikern mittlerweile jene Energie, die sie zur Lösung wirklicher Probleme brauchen würden. Und ihre Unfähigkeit, auf Signale aus der Bevölkerung zu reagieren, vertieft nur das Misstrauen in die gesamte EU. Ein Ende des Ratifizierungsprozesses ist daher nicht nur der beste, sondern der einzige Weg.

"Corriere della Sera" (Mailand):
Heute müssen alle anerkennen (...), dass Europa den Europäern nicht allzu sehr gefällt. Die Union gefällt nicht, so wie sie sich in all den Jahren entwickelt hat und somit gefällt auch nicht der Europagedanke der führenden Klassen und der Regierungen (...). Die französisch-niederländische Entscheidung der vergangenen Wochen hatte das Verdienst, für immer das Spielzeug kaputt gemacht zu haben. Das Tabu ist gebrochen: In der neuen historischen Phase, die von der Globalisierung und dem 11. September gekennzeichnet ist, erscheint das Versagen des Europagedankens endlich als das, was es ist - nämlich das Resultat aus dem Versagen der Sozialdemokratie und der Christdemokraten. Denn darum handelt es sich im Grunde: Um eine ganz neue historische Phase. Die Nachkriegszeit und deren politische Kulturen sind am Ende (...).




Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung hat die geplante EU-Verfassung einen weiteren Rückschlag erlitten: Großbritannien legte seinen geplanten Volksentscheid zur Verfassung vorerst auf Eis. Solange nicht klar sei, welche Folgen das Nein der Franzosen und Niederländer habe, sei es nach Ansicht der britischen Regierung "derzeit nicht vernünftig", die Gesetzgebung für eine Volksabstimmung voranzutreiben, sagte Außenminister Jack Straw vor dem Unterhaus.
"Die EU befindet sich derzeit in einer schwierigen Phase", sagte Straw. Die Stärke des Staatenblocks und "die Errungenschaften von fünf Jahrzehnten" dürften nicht durch falsches Handeln untergraben werden. Die britische Regierung behalte es sich vor, den Gesetzesentwurf für ein Referendum wieder aufzunehmen, falls die Umstände sich ändern sollten. "Aber derzeit sehen wir keinen Sinn darin weiterzumachen", sagte Straw. Premierminister Tony Blair hatte sich nach der Abstimmungsniederlage in Frankreich und den Niederlanden für eine "Denkpause" ausgesprochen.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Durao Barroso sagte, in London sei keine "definitive" Entscheidung gefällt worden.
Der luxemburgische Ministerpräsident und derzeitige EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker steht auch nach der Entscheidung der britischen Regierung, die geplante Volksabstimmung über die EU-Verfassung auf Eis zu legen, zu dem Vertragswerk. "Die Verfassung ist nicht tot", sagte er am Montag in Luxemburg. Er verwies darauf, dass die Regierung in London die Entscheidung über das Vertragswerk lediglich ausgesetzt habe.
Auch Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) sagte vor Journalisten in Lissabon: "Das ist keine Beendigung, sondern eine Unterbrechung." Europa könne sich auf der internationalen Bühne keine "Auszeit" leisten.

Der CDU-Europapolitiker Peter Hintze warf Großbritannien vor, mit der Aussetzung des Referendums die "Regeln des Fairplay" zu brechen. Es sei ein "sehr irritierendes Signal", dass die britische Regierung diesen Schritt kurz vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli unternehme, sagte Hintze dem "Tagesspiegel".

Nach der Aussetzung des britischen Referendums wird vielfach ein Dominoeffekt in den Ländern befürchtet, in denen ebenfalls die Bevölkerung über die neue EU-Verfassung abstimmen soll. In Dänemark überwiegt in Umfragen bereits die Zahl der Verfassungsgegner. In Tschechien hatte Präsident Vaclav Klaus am Sonntag verkündet, er halte wenig davon, die Ratifizierung der EU-Verfassung in ihrer derzeitigen Form fortzusetzen.

Quelle: AFP, AP und dpa, 6. Juni 2005




Friedensbewegung: Blair hat Angst vor Demokratie

Pressemitteilung

Zur Absage des EU-Verfassungs-Referendums durch den britischen Premier Tony Blair erklärte ein Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag:

Nach dem "Non" in Frankreich und dem "Nee" in den Niederlanden grassiert in den EU-Regierungen die schiere Angst: Der Verfassungsvertrag, der von den 25 Regierungschefs im Oktober 2004 unterzeichnet wurde, droht endgültig zu scheitern, weil er offenbar keinen Anklang bei den Menschen findet. Was machen die Regierenden? Anstatt die Bevölkerung zu informieren und sie von der Verfassung im Gespräch zu überzeugen, greifen sie zum bewährten Mittel der Machthaber: Sie suspensieren das demokratische Teilhaberecht des Souveräns und lassen die Verfassung von der Regierung oktroyieren.

Bis zu den Unterhauswahlen vor einem Monat hatte Tony Blair die Briten noch im Glauben gelassen, sie dürften über die EU-Verfassung demokratisch abstimmen. Die Wahl hat Blair - wenn auch knapp - gewonnen. Das Referendum hätte er mit Sicherheit nicht für sich, d.h. für die EU-Verfassung gewinnen können. Umfragen haben zuletzt eine Ablehnungsrate von 72 Prozent gezeigt. Also wird kurzerhand das versprochene Referendum abgesagt. Die Demokratie bleibt auf der Strecke.

Deutsche Politiker tun gut, sich mit Ermahnungen oder moralischen Erwägungen darüber zurückzuhalten. Haben sie es doch von Anfang an vorgezogen, die EU-Verfassung - abgeschirmt vor den kritischen Stimmen aus der Bevölkerung - nur von der politischen Klasse durchzuwinken.

Damit tun weder die deutsche politische Klasse noch Tony Blair der europäischen Integration einen Gefallen. Im Gegenteil: Wer nach der Vorlage einer schlechten Verfassung nun auch noch den politischen Bürger entmündigt, zerstört die Grundlagen eines demokratischen, sozialen und zivilen Europa.

Es scheint so, dass die europäische Idee in den Händen derjenigen besser aufgehoben ist, die Nein zu dieser Verfassung, aber von Herzen ja zu einem friedlichen Europa sagen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski

Kassel, den 6. Juni 2005


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