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Los von Moskau

EU-Gipfel beratschlagt »Energiesicherheit«: Pläne zur Schwächung der Erdgasmacht Rußland wurden lange vor Ukraine-Konflikt gestartet und sind langfristig

Von Jörg Kronauer *

Die Mühlen der EU mahlen langsam, aber beständig. Auf dem Gipfel in Brüssel an diesem Donnerstag und Freitag wird zum wiederholten Male die »Energiesicherheit« des Staatenbundes thematisiert – will sagen: das Bemühen, die starke Abhängigkeit vieler europäischer Länder von russischen Erdöl- und Erdgaslieferungen endlich spürbar zu vermindern. Gäbe es diese Abhängigkeit nicht, dann müßte Brüssel noch weniger Rücksicht auf Moskau nehmen als schon jetzt und hätte für seine aggressive Ostpolitik noch größere Spielräume. Deswegen beschäftigt sich die EU seit Beginn der Ukraine-Krise verstärkt mit der »Sicherheit« ihrer Energieversorgung. »Die Anstrengungen zur Verringerung der hohen Gasabhängigkeitsquoten Europas sollten intensiviert werden«, hatten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen am 20./21. März beschlossen und die Kommission dazu verdonnert, »bis Juni 2014 einen umfassenden Plan für die Verringerung der Energieabhängigkeit der EU vorzulegen«. Unter Federführung von Energiekommissar Günther Oettinger wurden eine umfangreiche Studie und ein Strategiepapier zum Thema erstellt; sie werden auf dem EU-Gipfel diskutiert.

Die Resultate zeigen: Die Energieeinfuhren der EU sind seit Mitte der 1990er Jahre in der Tat beständig gestiegen. Grund dafür ist das Schwinden der eigenen Ressourcen. Allerdings ist es dem Staatenbund immerhin gelungen, seinen Gesamtenergieverbrauch seit 2006 um gut acht Prozent zu senken. Zugegeben: Das liegt nur zum Teil an Energiesparmaßnahmen; Hauptursachen sind die Wirtschaftskrise und die Verlagerung von Industriebetrieben in Niedriglohnländer. Tatsächlich aber hat sich einiges im Verhältnis zu Rußland zu ändern begonnen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wies kürzlich darauf hin, daß die heutigen 28 EU-Staaten im Jahr 2001 noch mehr als 50 Prozent ihrer Erdgaseinfuhren aus Rußland bezogen, während es 2012 nur noch 37 Prozent waren; andere Lieferanten haben ihren Anteil ausgebaut oder sind neu hinzugekommen. Und das Potential zu einer weiteren Verschiebung zuungunsten von Gazprom wird beständig vergrößert. So sind etwa seit 2009 die Importkapazitäten für Flüssiggas um 15 Prozent ausgebaut worden. 2013 erreichten sie laut DIW schon fast 40 Prozent des EU-Erdgasverbrauchs; weitere Anlagen sind im Bau. Allerdings kommen die Lieferanten bislang nicht nach: Die Flüssiggaskapazitäten waren 2012 nur zu schlappen 30 Prozent ausgelastet.

Hier setzt die EU-Kommission mit einigen Vorschlägen an. Die Flüssiggasimporte müßten ausgeweitet werden, heißt es in ihrem Strategiepapier; als Quellen genannt werden Nordamerika, Australien, Katar und Ostafrika. Die Sache ist längst in Arbeit. E.on etwa, eigentlich Rußland eng verbunden, hat im Oktober 2013 einen ersten Flüssiggasliefervertrag mit Katar geschlossen (zehn Milliarden Kubikmeter binnen fünf Jahren, Beginn: 2014); Ende Mai folgte ein zweiter über zwei Milliarden Kubikmeter, Beginn: sofort. Bereits im Juni 2013 hatte E.on verkündet, man werde von 2020 an 6,5 Milliarden Kubikmeter pro Jahr aus Kanada beziehen – ungefähr sieben Prozent des deutschen Verbrauchs. Die Pläne zur Schwächung der Erdgasmacht Rußland sind lange vor dem Ukraine-Konflikt gestartet worden und langfristig angelegt. So intensiviert Berlin seit einiger Zeit seine Beziehungen zu Moçambique und Tansania, denen ein Erdgasboom bevorsteht, und verhandelt mit den USA, deren erste Flüssiggasexportanlage an der Ostküste laut EU-Kommission in den nächsten drei Jahren fertiggestellt werden könnte. Selbst auf Norwegen übte Außenminister Steinmeier bei einem Besuch in Oslo Ende April Druck aus, seine Ausfuhren weiter zu steigern. Zehn Prozent seien kurzfristig drin, mehr nicht, erhielt er von seinem genervten Amtskollegen zur Antwort.

Auf eine oft übersehene Schwachstelle der EU-Importpläne hat kürzlich das DIW hingewiesen: Was nützt all das Flüssiggas, wenn es etwa an einem der sieben spanischen Terminals – Deutschland hat noch keinen einzigen – angeliefert wird, von dort aber nicht vernünftig weitergeleitet werden kann? Genau das ist zur Zeit der Fall. »Die Kapazität der Verbindung zwischen der iberischen Halbinsel und Frankreich ist nach wie vor gering«, monierte das DIW in seinem Wochenbericht vom 27. Mai. Kaum besser sehe es mit den Transportmöglichkeiten »aus Frankreich Richtung Osten« aus, also in die Bundesrepublik. Frankreich verfügt immerhin über drei Terminals. Die EU-Kommission dringt nun darauf, etwa die »Energieisolation Portugals und Spaniens« mit geeigneten Pipelines aufzubrechen. Ebenso müßten einige Länder in Ost- und Südosteuropa dringend besser an die Infrastruktur ihrer westlichen EU-Nachbarn angeschlossen werden. Das gilt besonders für die Baltischen Staaten und Bulgarien, die besonders verwundbar wären, sollte die EU noch aggressiver als bisher gegen Rußland vorgehen wollen: Sie sind noch zu 100 Prozent von russischem Erdgas abhängig und nicht per Pipeline mit den übrigen EU-Staaten verbunden, die theoretisch Ersatz liefern könnten.

Ansonsten hat die EU-Kommission in ihrem Strategiepapier die üblichen Ratschläge für die Staats- und Regierungschefs parat. Man könne die Ener­gieeffizienz weiter steigern, heißt es etwa; das würde nicht nur russisches Gas, sondern auch eine Menge Geld sparen – immerhin gebe die EU über eine Milliarde Euro pro Tag nur für den Energieimport aus. Natürlich sollen auch die erneuerbaren Energien weiter ausgebaut werden. Last not least dringt die EU-Kommission auf das hochriskante Fracking, bei dem giftige Chemikalien in den Boden gepreßt werden, um Öl oder Gas aus tiefliegenden Gesteinsschichten herauszusprengen. Allerdings müßten dazu »Fragen der öffentlichen Akzeptanz« und deswegen auch »Umwelteinflüsse« »angemessen angegangen« werden. Die Fracking-Lobby wird’s freuen: Brüssel öffnet ihr im Kampf gegen russischen Einfluß die Tür.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 26. Juni 2014


Nabucco ist tot, es lebe Nabucco

Von Jörg Kronauer **

Gerade einmal ein Jahr ist es her, daß das Scheitern des ehrgeizigen Pipelineprojekts verkündet wurde – da werden schon wieder ähnliche Vorhaben diskutiert. Man erinnere sich: Nabucco sollte Erdgas aus dem Kaspischen Becken über den Südkaukasus (Aserbaidschan, Georgien) in die Türkei und weiter in die EU transportieren, ohne russisches Territorium zu berühren. Damit wollte man Moskaus Einfluß auf die Erdgasversorgung der EU spürbar verringern. Der Gedanke lebt wieder auf, seit der Westen und Russland sich wegen der Ukraine gewaltig in den Haaren haben und alles recht kommt, was Rußland schwächt. »Südlicher Korridor« wird das Konzept heute genannt; der Name »Nabucco« ist schließlich verbrannt. Die Idee ist aber dieselbe.

An einen Kern, der von den ehrgeizigen Nabucco-Plänen übriggeblieben ist, kann die EU dabei anknüpfen. Aserbaidschan wird das Erdgas aus seinem riesigen Schah-Denis-Feld nach Europa transportieren; dazu wird die Trans-Adriatic-Pipeline (TAP) gebaut, die im Juni 2013 einen Rest von Nabucco (»Nabucco West«) endgültig aus dem Rennen geschlagen hat. Ab 2019 sollen zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr aus Aserbaidschan erst in die Türkei und dann durch die TAP in die EU fließen. Kann man da nicht draufsatteln? In der EU ist plötzlich der alte Plan wieder im Gespräch, Erdgas aus Turkmenistan, dem Land mit den viertgrößten Reserven weltweit, durch das Kaspische Meer nach Aserbaidschan und dann weiter in Richtung Westen zu leiten. Auch von Erdgaslieferungen aus Iran oder den kurdischen Gebieten des Nordirak ist erneut die Rede; alles könne, heißt es, zu einem einzigen Pipelineprojekt zusammengefaßt werden – dem »Südlichen Korridor«. Weil es mit Gas aus Turkmenistan, Iran und dem Nordirak nichts wurde, scheiterte einst Nabucco. Heute könne das aber klappen, weil man inzwischen ja mit Iran verhandle, heißt es. Damit sei ein entscheidendes Hindernis – die Unmöglichkeit, mit Teheran zu kooperieren – übernommen.

Die Welt stand allerdings im letzten Jahr nicht still. Um das Kaspische Becken an die EU anzubinden, hat Rußland das Pipelineprojekt »South Stream« vorangetrieben; Präsident Wladimir Putin hat am Dienstag in Wien die Verträge zum Bau der Röhre unterzeichnet. Man habe nach dem Scheitern von Nabucco schließlich nicht untätig bleiben können, erklärte Gerhard Roiss, Chef der Wiener OMV, kürzlich im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung; irgendwie muß das Gas ja in die EU gebracht werden, und wenn’s ohne Rußland nicht geht, dann halt mit ihm. Roiss meint übrigens, Nabucco hätte durchgesetzt werden können, wenn das Vorhaben damals nicht fallengelassen worden wäre – von Berlin.

** Aus: junge Welt, Donnerstag 26. Juni 2014

Erdgaslieferant Rußland

Aktuelle Daten der EU-Kommission zeigen die derzeitige Bedeutung Rußlands für die europäische Energieversorgung. Hintergrund: Die Gemeinschaft muß 53 Prozent ihres Energieverbrauchs durch Importe decken. Diskutiert wird meist über Erdgas. Von den 66 Prozent ihres Bedarfs, die die EU einführen muß, kamen 2013 gut 39 Prozent aus Rußland – mehr als aus jedem anderen Land. Norwegen folgte mit 34 Prozent auf Platz zwei, Algerien mit 14 Prozent auf Platz drei. Weitere Länder, etwa Katar oder Nigeria, lieferten Flüssiggas, wenn auch in deutlich geringerem Umfang: 2012 erreichten die Flüssiggasimporte insgesamt lediglich zwölf Prozent der EU-Einfuhr. Ihr Anteil steigt aber kontinuierlich.

Groß ist der russische Einfluß auch beim Erdöl, wenngleich Öl weniger pipelinegebunden ist als Gas und ein Öllieferant deswegen leichter durch einen anderen ersetzt werden kann. Von den 88 Prozent ihres Bedarfs, die die EU importiert, kamen rund 33 Prozent aus Rußland, elf aus Norwegen und – die Bedeutung des Landes für die europäische Energieversorgung wird oft überschätzt – acht aus Saudi-Arabien. Wegen des sanktionsbedingten Ausfalls des Iran und der bürgerkriegsbedingten Ausfälle in Libyen kam es letztes Jahr zu gewissen Problemen bei der Ölversorgung. Sie wurden nicht zuletzt von Moskau aufgefangen: Rußland lieferte etwa Deutschland im ersten Quartal 2014 zehn Prozent mehr Öl als im Vorjahreszeitraum.

In der EU stammen 34 Prozent der verbrauchten Energie aus Öl, 23 Prozent aus Gas und immerhin 17 Prozent aus Kohle. Auch bei der Kohle lag Russland an der Spitze der Lieferanten – mit rund 26 Prozent. 24 Prozent kamen aus Kolumbien – wegen der katastrophalen Folgen des Kohleabbaus für die Menschen dort sprechen Kritiker oft von »Blutkohle« –, 23 Prozent aus den USA.

Selbst bei der Nuklearenergie, aus der 13 Prozent des EU-Verbrauchs stammen, ist eine gewisse Abhängigkeit von Rußland zu konstatieren. Atomreaktoren in Bulgarien, Tschechien, Ungarn und der Slowakei hängen von russischen Zulieferungen ab, beklagt die EU-Kommission. Finnland hat gemeinsam mit Rosatom sogar ein neues Atomkraftwerk geplant. Allerdings soll über den Bau im Sommer neu entschieden werden, teilt das Wirtschaftsministerium in Helsinki mit: Rosatom sei jetzt »umstritten«.

Nur auf die erneuerbaren Energien (14 Prozent des EU-Verbrauchs) hat Rußland keinen Einfluß, jedenfalls solange die Kraftwerke, die mit »Putins Kohle« beheizt werden, den Solarzellen nicht die Sonne vernebeln. Ob schon jemand NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der hinter fiesen Fracking-Gegnern ganz klar Gazprom am Werk sieht, auf diese heimtückische Gefahr hingewiesen hat? (jk)




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