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Neue Energieunion

Abkehr von Rußland: Befürworter einer europäischen Erdgasdiversifizierung erhalten durch den Konflikt um die Ukraine wieder Auftrieb

Von Jörg Kronauer *

Die Begeisterung der Bundesregierung hält sich in Grenzen. Seit Wochen schon geht der polnische Ministerpräsident Donald Tusk mit der Idee hausieren, die EU solle eine »Energieunion« gründen. »Übermäßige Abhängigkeit von russischer Energie macht Europa schwach«, hat er zuletzt am Montag in einem Namensbeitrag in der Financial Times erklärt; die EU-Staaten sollten ihre Energiequellen deshalb so rasch wie möglich diversifizieren. Vor allem aber müßten sie die Verhandlungen über ihre Erdgaskäufe in Rußland in Brüssel zentralisieren. Regierungssprecher Steffen Seibert war am Mittwoch erkennbar bemüht, höflich zu bleiben. Natürlich nehme man die polnischen »Vorschläge sehr ernst«, beteuerte er; natürlich würden sie sorgfältig »geprüft«, und »sicherlich« seien sie »ein Gesprächsthema« beim Arbeitstreffen des polnischen Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin am heutigen Freitag. Letztlich aber, das konnte Seibert nicht verhehlen, hält die Bundesregierung von Tusks »Energieunion« nicht viel – zumindest in der vorliegenden Form.

Günstige Gelegenheit

Nicht bestritten wird dabei auch in Berlin schon seit Jahren, daß eine Diversifizierung vor allem der Erdgaslieferanten machtpolitisch wie auch ökonomisch nur Vorteile bringen kann. An die 40 Prozent der deutschen Erdgasimporte kommen zur Zeit aus Rußland; das bringt, auch wenn deutsche Konzerne in der russischen Erdgasbranche eine starke Stellung halten, eine gewisse Abhängigkeit mit sich. Deutsche Unternehmen sind daher schon seit einiger Zeit um neue Lieferanten bemüht. E.on zum Beispiel, eigentlich dick mit Gasprom im Geschäft, hat im Juni letzten Jahres einen Vertrag mit der kanadischen Pieridae Energy geschlossen; es geht um die Lieferung von 6,5 Milliarden Kubikmetern Flüssiggas ab 2020, das entspricht sieben Prozent des deutschen Jahresverbrauchs. Im September folgte eine Vereinbarung über die Lieferung von 40 Milliarden Kubikmetern Erdgas aus dem Schah-Denis-Feld in Aserbaidschan; im Oktober schloß E.on einen Fünfjahresvertrag über den Kauf von bis zu zehn Milliarden Kubikmetern Flüssiggas in Katar. Weitere neue Förderländer von Australien bis Ostafrika drängen zur Zeit auf den Markt. Der Konflikt um die Ukraine bietet nun willkommenen Anlaß, der geplanten Erdgasdiversifizierung neue Dringlichkeit zu verleihen.

In den letzten Wochen sind vor allem zwei bislang weniger beachtete Projekte promotet worden. Zunächst bericwhtete die spanische Presse ausführlich über die Möglichkeit, algerisches Erdgas in die EU zu befördern. Algerien ist das Land mit den zehntgrößten Erdgasreserven weltweit; Spanien ist mit ihm über zwei Erdgaspipelines verbunden und besitzt zudem sieben Anlagen zum Import von Flüssiggas. Damit ließe sich weitaus mehr Gas einführen, als Spanien – auch wegen der Wirtschaftskrise – heute verbraucht. Schon seit einiger Zeit kursiert daher der Vorschlag, algerisches Erdgas über Spanien in die EU zu liefern; spanische Energiekonzerne haben großes Interesse daran. Allerdings bremst bislang das für den Transit vorgesehene Frankreich. Die Ukraine-Krise habe gezeigt, daß nun schnellstens Alternativen zu russischem Gas gefunden werden müßten, ließ sich Spaniens Außenminister José Manuel García-Margallo zitieren; Salvador Gabarró, Präsident von Gas Natural Fenosa, fügte zufrieden hinzu: »Die Ukraine-Krise bietet eine sehr wichtige Chance für die spanische Erdgasindustrie« – nämlich zum profitablen »Tor nach Europa« zu werden.

Andere Vorschläge hat Mohammed Reza Nematzadeh gemacht. Nematsadeh, iranischer Industrieminister, hielt sich Mitte April in Berlin auf und traf dort deutsche Unternehmer. Iran wolle »auf dem internationalen Gasmarkt künftig eine große Rolle spielen«, teilte er dem Handelsblatt mit; daraus könne besonders die EU Nutzen ziehen: »Iran kann ein zuverlässiger, sicherer und dauerhafter Partner Europas werden«. Natürlich habe Teheran nicht die Absicht, Rußland »Konkurrenz« zu machen, erklärte er, was sicher als Hinweis auf die Bemühungen der EU um größere Unabhängigkeit von Moskau zu verstehen war. Hat Nematzadeh sich in Berlin auch mit Managern deutscher Energiekonzerne getroffen? E.on hatte schon vor einigen Jahren mit Teheran über gemeinsame Erdgasprojekte verhandelt. Damals ging es in erster Linie um Flüssiggas. Jetzt brachte ­Nematzadeh ein Pipelinevorhaben ins Spiel. Teheran plane eine Röhre, die Erdgas aus Irans Süden in den Nordwesten bis an die türkische Grenze leite, berichtete er dem Handelsblatt. Von dort könne es weitertransportiert werden – nach Europa.

Rußland liefert

Ironie der Geschichte: Erst letzten Sommer ist ein Pipelineprojekt auch deshalb endgültig begraben worden, weil iranische Zulieferungen als politisch ausgeschlossen galten – die Erdgaspipeline »Nabucco«. Benannt nach einer Verdi-Oper, die die Befreiung aus »babylonischer Gefangenschaft« zum Thema hat, sollte die Röhre kaspisches Erdgas an Rußland vorbei in die EU führen und deren Abhängigkeit von Moskau weiter mindern. Da aber nicht genügend Lieferzusagen eingetrieben werden konnten, um »Nabucco« profitabel zu betreiben – iranisches Gas wäre eine Option gewesen –, wurden die Planungen schließlich eingestellt. Zahlreiche ehemalige Befürworter der Röhre haben das in den letzten Wochen bitter beklagt. Jetzt wird für einen ähnlichen Streckenverlauf die »Iran-Turkey-Europe Natural Gas Pipeline« (ITE) geplant.

Um die Frage, welche Erdgasvorhaben tatsächlich realisiert werden sollen, geht es bei den aktuellen Auseinandersetzungen in der EU. Der Ukraine-Konflikt könnte dabei tatsächlich zum Katalysator für tiefgreifende Umbrüche werden. EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) warnt jedoch – ganz im Sinne von E.on und ­Wintershall – davor, die Erdgaseinfuhr aus Rußland ernsthaft in Frage zu stellen. Moskau sei bereit zu »liefern«, teilte er letzte Woche über Springers Bild mit. Das heißt: Die profitablen deutschen Erdgas-Sonderbeziehungen nach Rußland sollen trotz aller nützlichen Diversifizierung erhalten bleiben. Weil Polen, deutsch-russische Sonderbeziehungen seit je fürchtend, das verhindern will, schlägt Ministerpräsident Tusk nun die »Energieunion« vor, Vergemeinschaftung der Erdgasbeziehungen zu Rußland inklusive. Bei der Bundesregierung, die die Vorteile des deutsch-russischen Erdgasgeschäfts stets im Blick hat, stößt er damit bislang auf Granit.

* Aus: junge Welt, Freitag 25. April 2014


»Reverse flow«

Die Ukraine bezieht neuerdings Gas aus dem Westen

Von Jörg Kronauer **


Mit großem Trara hat der deutsche RWE-Konzern am 15. April seine Erdgaslieferungen an die Ukraine wieder aufgenommen. Im Mai 2012 hatte er mit der ukrainischen Naftogas einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet, im November 2012 hatte er erste Lieferungen gestartet; im Oktober 2013 war Kiew allerdings plötzlich abgesprungen, weil der schwankende Erdgaspreis im Westen plötzlich über demjenigen der russischen Konkurrenz gelegen hatte. Seit Gasprom nun jedoch zu den kostspieligen Konditionen des russisch-ukrainischen Liefervertrages von 2009 zurückgekehrt ist, für dessen Unterzeichnung Julia Timoschenko 2011 zu mehrjähriger Haft verurteilt wurde, ist das westliche Erdgas wieder deutlich billiger als das russische und damit für Kiew erneut attraktiv. Entsprechend kommt der »Reverse flow«, die Umkehr der ursprünglich als Ost-West-Pipelines konstruierten Erdgasröhren, erneut zum Zug; zunächst wird Gas aus Polen in die Ukraine geliefert.

RWE findet durchaus Gefallen an dem Geschäft. Schon bald »könnten die Liefermengen signifikant erhöht werden, sofern in den nächsten Wochen Lösungen für (...) Transportbeschränkungen (...) zwischen der Slowakei und der Ukraine gefunden werden«, teilt der Konzern mit. Die Slowakei sperrt sich tatsächlich noch gegen den »Reverse flow« – aus zwei Gründen: Zum einen widerspräche er möglicherweise den Verträgen, die das Land mit Gasprom geschlossen hat; zum anderen sieht die Regierung in Bratislava nicht wirklich ein, daß sie einen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag für die technische Realisierung der Schubumkehr zahlen soll, die ihr nichts bringt, dafür aber RWE zu mehr Umsatz und Profit verhilft. Daß Bratislava sich unter dem Druck der Ukraine-Krise noch lange weigern kann, das Absatzgebiet des deutschen Energieriesen per »Reverse flow« in Richtung Osten zu erweitern, ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Gestern wurde in der slowakischen Hauptstadt in Anwesenheit von EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die Angelegenheit verhandelt. Das Ergebnis lag bei Redaktionsschluß allerdings noch nicht vor.

** junge Welt, Freitag 25. April 2014




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