So viele Kriege wie nie seit 1945
Das Heidelberger Institut für Konfliktforschung stellte sein "Conflict Barometer 2011" vor
Von Olaf Standke *
Die Zahl der Kriege in aller Welt ist nach Analyse des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) im Vorjahr auf den höchsten Stand seit 1945 gestiegen. Insgesamt erfassten die Forscher in ihrem »Conflict Barometer 2011« 38 »hoch gewaltsame Konflikte«, 20 von ihnen erreichten die höchste Intensitätsstufe des Krieges.
Somalia war gestern (23. Feb.) Thema einer hochrangig besetzten
internationalen Konferenz in London. Das Land ist von Bürgerkrieg, Hungersnöten, Terrorismus und Piraterie schwer zerrüttet. Eine stabile Regierung gibt es nicht. Derzeit kämpfen Truppen im Auftrag der Afrikanischen Union ebenso wie Soldaten aus Äthiopien und Kenia gegen die islamistische Al-Schabab-Miliz, die weite Teile des Südens und des Zentrums Somalias kontrolliert. Gerade sollen äthiopische Einheiten mit Verbänden der Übergangsregierung die Stadt Baidoa eingenommen haben - ohne, dass ein Schuss gefallen sei, wie Regierungschef Abdiweli Mohamed Ali in London erklärte.
Doch die Kämpfe mit der Miliz wie mit der militanten Gruppierung Hizbul Islam gehören in Afrika zu den blutigsten Auseinandersetzungen. Zusätzlich verschärft wurde die Lage durch die Hungersnot am Horn von Afrika, wie es im »Konfliktbarometer« heißt, so dass die Zahl der Binnenflüchtlinge im Vorjahr um 330 000 anstieg und weitere 286 000 Somalier in die benachbarten Länder fliehen mussten. Der alljährlich veröffentliche Report des Heidelberger Instituts erfasste 2011 insgesamt 388 Konflikte. Bei 38 »hoch gewaltsamen« Auseinandersetzungen mit massivem Einsatz organisierter Gewalt und gravierenden Folgen, von denen 20 die höchste Intensitätsstufe erreichten, zählten die Wissenschaftler so viele Kriege wie noch nie seit 1945. Der bisherige Höchstwert lag 1993 bei 16 Kriegen. »Eine Tendenz hin zu einer friedlicheren Welt« könne vor dem Hintergrund des explosionsartigen Anstiegs der Anzahl von Kriegen »bei Weitem nicht erkannt werden«, betonte HIIK-Vorstandsmitglied Natalie Hoffmann.
Geradezu dramatisch war die Zunahme vor allem im Vergleich zu 2010, als die Forscher nur sechs bewaffnete Konflikte als Kriege einstuften. Seitdem kamen nach HIIK-Einschätzung u. a. drei neue, schnell entstandene Kriege im Zusammenhang mit der »Arabellion« in Jemen, Libyen und Syrien hinzu. Zudem eskalierten bereits seit Längerem bestehende Auseinandersetzungen in Nigeria. Auch diverse Konflikte in Sudan hätten ungeachtet der vereinbarten Unabhängigkeit Südsudans an Intensität gewonnen; so starben rund 1700 Menschen bei Kämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, etwa zwischen Murle und Lou-Nuer.
Wie im Vorjahr stufte das HIIK u. a. die Offensiven des pakistanischen Militärs gegen die Taliban, die 2011 etwa 4200 Menschenleben kosteten, die Kämpfe zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban und die Gewalt in Irak als Krieg ein.
Als solchen werten die Wissenschaftler auch die Auseinandersetzungen in Mexiko zwischen Drogenkartellen und der Regierung. Mit jeweils acht Kriegen sind laut ihrer Analyse der Nahe und der Mittlere Osten sowie Afrika südlich der Sahara am stärksten betroffen. »Hier sehen wir hohes Potenzial für weitere Eskalationen«, sagt Institutsvorstand Christoph Trinn.
In Somalia soll die Lage nach dem Willen der Londoner Konferenz besser werden. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg und Terror bestehe in dem gescheiterten afrikanischen Staat dafür eine realistische Chance. Die Rebellen der radikal-islamischen Al-Schabab-Miliz, die mit der Regierung einen blutigen Bürgerkrieg austrägt, sei schwächer geworden, betonte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. »Es ist ein kleines Fenster, aber wir können es uns nicht leisten, es nicht zu nutzen«, sagte er mit Blick auf die Millionen Somalier, die bittere Not litten.
So soll vor allem die internationalen Schutztruppe Amisom von bisher 12 000 auf bis zu 17 700 Soldaten aufgestockt werden. Die Soldaten werden von der Union Afrikanischer Staaten gestellt, aber weitgehend von der EU bezahlt. Wissenschaftler warnen die Europäische Union allerdings davor, sich bei der Hilfe für Somalia zu stark auf militärische Mittel zu konzentrieren. »Die EU muss eine echte umfassende Strategie entwickeln«, heißt es in einer Studie, die Kerstin Petretto vom Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg jetzt in Brüssel vorstellte.
* Aus: neues deutschland, 24. Februar 2012
Kriegsjahr
Von Olaf Standke **
Das Jahr 2011 war das kriegerischste seit 1945. So die erschreckende Analyse des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung. Wie im »Arabischen Frühling« welken Blütenträume friedlicher Konfliktlösungen nur allzu oft. Dabei schaffen es die meisten der von den Wissenschaftlern weltweit erfassten 388 gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht einmal in die Schlagzeilen. Vergessenen Kriege, die zig Tausende Menschenleben kosten und Lebensgrundlagen zerstören. Somalia, der gescheiterte Staat am Horn von Afrika, gehört geradezu exemplarisch zu diesen oft langjährigen Brandherden.
Seit über zwei Jahrzehnten leidet das Land unter einem blutigen Bürgerkrieg. Dürre- und Hungerkatastrophen verschärfen die Lage zusätzlich. Die Infrastruktur ist so zerstört, wie die Übergangsregierung machtlos ist. Und die Staatengemeinschaft schaute lange tatenlos zu. Das soll nach der Somalia-Konferenz am Donnerstag (23. Feb.) in London nun anders werden. Nachhaltige Folgen für die Zivilbevölkerung wird der Gipfel allerdings nur zeitigen, wenn im Kampf gegen die islamistische Al-Schabab-Miliz nicht ausschließlich auf militärische Gewalt gesetzt wird und die Zusammenarbeit nicht bei der Übergangsregierung in Mogadischu endet. Nichtstaatliche Organisationen, Clans und Regionalbehörden, ohne die eine Beendigung des Krieges letztlich nicht möglich ist, hatten gestern in London jedoch keine Stimme.
** Aus: neues deutschland, 24. Februar 2012 (Kommentar)
PRESSEMITTEILUNG
des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK)
Heidelberger Institut zählt 20 Kriege – die höchste Anzahl von Kriegen seit 1945
Heidelberg, 23. Februar 2012. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) präsentiert mit dem „Conflict Barometer 2011“ seine aktuellen Daten und Analysen zum globalen Konfliktgeschehen im Jahr 2011. Unter den insgesamt 388 beobachteten Konflikten zählen die Politikwissenschaftler 38 hochgewaltsame Konflikte, das heißt Auseinandersetzungen, die sich durch massiven Einsatz organisierter Gewalt auszeichnen sowie gravierende Folgen nach sich ziehen. Von diesen erreichten 20 Konflikte die höchste Intensitätsstufe des Krieges.
Sechs dieser Kriege wurden bereits im Vorjahr als Krieg eingestuft: In Pakistan führt das Militär zwei Großoffensive gegen die Taliban in der Region Federally Administered Tribal Areas (FATA). Insgesamt fordert dieser Krieg im Jahr 2011 etwa 4.200 Menschenleben. In dem Krieg zwischen Taliban und der afghanischen Regierung steigt die Todeszahl unter den Zivilisten im ersten Halbjahr von 2011 um 28% im Vergleich zu dem ersten Halbjahr des Vorjahres. Im Irak kommen bei Anschlägen durch militante sunnitische Gruppierungen knapp 4.000 Menschen ums Leben. Der Konflikt zwischen der somalischen Regierung, einerseits, und den militanten Gruppierungen al-Shabaab und Hizbul Islam, andererseits, wird durch die Hungersnot am Horn von Afrika zusätzlich verschärft, so dass die Zahl der Binnenflüchtlinge 2011 um 330.000 ansteigt und weitere 286.000 Somalier in die benachbarten Ländern fliehen. In der sudanesischen Region Darfur fliehen alleine zwischen Dezember 2010 und April 2011 etwa 180.000 Menschen vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und verschiedenen Rebellengruppierungen, während die zweite Jahreshälfte von zahlreichen Friedensabkommen bestimmt ist. Auch die Auseinandersetzungen zwischen diversen Drogenkartellen und der mexikanischen Regierung werden 2011 wieder auf der Intensitätsstufe eines Krieges ausgetragen und erstrecken sich auf nahezu alle Regionen des Landes.
Im Zuge der Proteste in der Region Mittlerer Osten und Maghreb, die als „Arabischer Frühling“ bekannt werden, treten drei neue Konflikte auf, die gleich im ersten Jahr zu Kriegen eskalieren: In Jemen, Libyen und Syrien eskalieren Proteste, die einen Regierungswechsel fordern zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Oppositionellen und Regierungstruppen.
Weitere elf Kriege wurden in den Jahren zuvor auf einer geringeren Intensitätsstufe ausgetragen: Während der vielschichtige Konflikt zwischen der nördlichen und südlichen Bevölkerung in Nigeria von einem ehemals gewaltlosen Niveau eskaliert, wurde die verbleibenden zehn Konflikte bereits im Vorjahr gewaltsam ausgetragen. In Côte d’Ivoire eskaliert der Konflikt zwischen den Anhängern des ehemaligen Präsidenten Laurent Gbagbo und jenen des international anerkannten Präsidenten Alassane Ouattara nach umstrittenen Präsidentschaftswahlen im November 2010. Die islamistische Gruppierung Boko Haram in Nigeria ändert 2011 ihre Vorgehensweise und verübte über das Jahr hinweg eine Vielzahl von Bombenanschlägen. Auch der Kampf um die Sezession des Südsudan von Sudan eskaliert 2011 zu einem Krieg und endete am 9. Juli 2011 mit der Unabhängigkeit des Südsudan. Eine Vielzahl ungelöster Probleme resultiert jedoch in einem neuen Konflikt zwischen den beiden Ländern Sudan und Südsudan, der jedoch unterhalb der Schwelle zum Krieg bleibt. Ebenfalls im Sudan bzw. ab Juli im Südsudan wird ein weiterer Krieg verortet, in dem 2011 etwa 1.700 Menschen bei Kämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, v.a. zwischen Murle und Lou-Nuer, sterben. Zudem erreicht auch der Konflikt zwischen der Sudan People’s Liberation Movement/Army, die inzwischen die Regierung des Südsudan stellt, und einer Vielzahl von Milizen, die überwiegend von abtrünnigen Generälen angeführt werden, die Intensitätsstufe eines Krieges. Vier weitere Konflikte eskalieren von einem bereits hochgewaltsamen Niveau im Jahr 2010 zu einem Krieg: Nachdem die Kurdish Workers’ Party (PKK) im Februar ihren Waffenstillstand beendet und erneut Anschläge durchführt, reagiert die türkische Regierung mit einer großangelegten Offensive im August. Im Zuge der heftigen Kämpfe zwischen den islamistischen Gruppierungen al-Qaeda in the Arabian Peninsula und Ansar al-Sharia, einerseits, und der jemenitischen Regierung, andererseits, fliehen alleine in der zweiten Jahreshälfte etwa 100.000 Menschen. Der Kampf um Autonomie der Regionen Karen State und Kayah State in Myanmar wird 2011 nahezu täglich gewaltsam ausgetragen. Alleine für den Zeitraum zwischen Januar und April werden 359 einzelne Kampfhandlungen berichtet. Zusätzlich zu dem bereits erwähnten lange andauernden Krieg in Pakistan, eskaliert ein weiterer Konflikt in dem Land auf dieses Intensitätsniveau. Der Kampf verschiedener Volksgruppen um die Vorherrschaft in der Region Sindh in Pakistan resultiert alleine in den ersten acht Monaten des Jahres 2011 in etwa 1.400 Todesopfern in Karachi.
Mit jeweils acht Kriegen sind der Vordere und Mittlere Orient sowie Afrika südlich der Sahara am stärksten von dieser höchstgewaltsamen Form des Konfliktaustrages betroffen. „Eine Tendenz hin zu einer friedlicheren Welt kann auf dem Hintergrund des explosionsartigen Anstiegs der Anzahl von Kriegen im Vergleich zum Vorjahr bei weitem nicht erkannt werden“ betont Natalie Hoffmann, Mitglied des HIIK-Vorstandes. „Betrachtet man den jüngsten Verlauf der Wahlen in Côte d’Ivoire und Nigeria, sowie die gewaltsame Eskalation der Oppositionsproteste im Vorderen und Mittleren Orient, birgt zudem die Vielzahl von Wahlen, die im Jahr 2012 vor allem auf dem afrikanischen Kontinent bevorstehen ein hohes Potential für weitere Eskalationen.“
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) widmet sich seit 1991 der Erforschung, Dokumentation und Auswertung innerstaatlicher und internationaler politischer Konflikte weltweit. Das jährlich erscheinende „Conflict Barometer“ gibt einen Überblick über die aktuelle Entwicklung gewaltsamer und nichtgewaltsamer Konflikte. Die aktuelle Publikation kann unter
www.hiik.de kostenlos heruntergeladen werden (ab 23. Februar 2012, 12 Uhr).
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