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Das Machtzentrum verschiebt sich

Zeitschrift beschäftigt sich mit den derzeitigen Umbrüchen im Gefüge der Weltwirtschaft

Von Hermannus Pfeiffer *

Da haben sich viele Linke geirrt: Mit dem schleichenden Ende der Kolonisierung der »Dritten Welt« seit den 1950ern galt es als ausgemacht, dass die Länder der »Peripherie« weiter in Abhängigkeit vom »Norden« verharren würden. Im kapitalistischen Weltmarkt könnte es den jungen Staaten des »Südens« nicht gelingen, ihren Rückstand gegenüber den Industrieländern aufzuholen und eine eigenständige Rolle im Weltsystem zu spielen.

Es kam anders. Vor allem Asien ist dabei, den Industriestaaten den Rang abzulaufen. Das Kraftzentrum der Welt verschiebt sich, so das US-Pentagon, vom atlantischen in den pazifischen Raum. Die Zeitschrift »Z« geht in ihrer jüngsten Ausgabe der Machtverschiebung auf den Grund.

Der Wandel seit den 1980ern verlief rasant. Die Erzeugung von Gütern und Leistungen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, nahm »in einem atemberaubenden Tempo« zu, wie eine Übersicht eindrucksvoll zeigt. Dabei folge die beschleunigte Expansion der Nachholer dem ressourcenintensiven, »fossilen« Produktionsund Konsumtionsmuster der alten Industrieländer. Das hat seinen Preis: Klimaveränderung, schrumpfende Artenvielfalt, zersetzte Ackerböden und Übernutzung der Wasserressourcen.

»Niemals in der Geschichte der Menschheit gab es jemals eine derart große und lange wirtschaftliche Wachstumsperiode.« Im Durchschnitt wuchs die Weltwirtschaft seit 1980 jedes Jahr um über drei Prozent. Seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Länder und trotz der Krise seit 2007 scheint sich die Entwicklung noch beschleunigt zu haben – so schätzen die Autoren das jährliche Wachstum der Weltwirtschaft für 2010 bis 2012 auf über vier Prozent.

Bemerkenswert ist die Verlagerung der Wachstumspole in Länder der ehemaligen Peripherie. Das beschleunigte Wachstum in Afrika, Osteuropa und Lateinamerika seit etwa dem Jahr 2000 hängt mit einer beschleunigten Ausbeutung natürlicher Ressourcen zusammen, wird also von einem Rohstoffboom getragen. »Ob es dort gelingt, die rohstoffbasierte Expansion breiter zu untermauern, ist derzeit noch ungewiss «, so die Autoren Auch wenn wir uns bereits daran gewöhnt haben, herausragend ist die Rolle Asiens und »ganz zentral« Chinas. Aber: »Von einem gleichmäßigen Aufholen der Peripherie insgesamt kann derzeit keine Rede sein.« Wirtschaftlich waren beispielsweise Indien und China 1980 gleich stark, inzwischen übersteigt das chinesische Inlandsprodukt das Indiens um das Drei- bis Vierfache.

Die »Z«-Autoren sehen in der Konkurrenz zwischen den »Verlierer- Ländern« der Peripherie und China neues Krisenpotenzial. Eine »Verallgemeinerbarkeit des Aufholens« hält Professor Dieter Boris für unwahrscheinlich. Möglicherweise ein Irrtum: Der Aufstieg Chinas (und vorher Deutschlands, Japans und der Tigerstaaten) basierte unter anderem auf einem starken Staat plus Exportorientierung. Genau diesen Weg gehen nun Länder wie Vietnam oder Saudi-Arabien.

Zugleich hat sich das Wachstum in Nordamerika, Japan und Westeuropa verlangsamt. Vor allem die USA fallen zurück: Sie verloren in nur zehn Jahren fast ein Drittel Welthandelsanteils. Eine der großen Fragen im Gefolge der Machtverschiebung wird sein, wie die USA auf die Bedrohung ihrer Hegemonialposition durch China reagieren werden.

Aus einer Reihe bemerkenswerter Aufsätze sticht der Beitrag von Karin Fischer und Christian Reiner über »globale Warenketten « heraus. Sie zeigen, dass bei einem Smartphone, das in China zusammengebaut und in den USA konsumiert wird, rund 60 Prozent der Wertschöpfung bei Nokia in Europa bleiben. Wer nun denkt, die Multis in den Industriestaaten sahnen weiter ab, sollte zur Kenntnis nehmen, dass mittlerweile der wichtigste Absatzmarkt für Europas größten Autobauer VW China ist. Daraus entstehen gegenseitige Abhängigkeiten, die noch vor wenigen Jahren kaum zu ahnen waren. Und die Machtverschiebung ist längst nicht zu Ende.

Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z, Heft Nr. 89 »Globale Machtverschiebung«, 224 Seiten, 10 Euro

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. April 2012


Globale Machtverschiebungen

Das neue Heft der Zeitschrift Z.

Von Johannes Schulten **


Wenn China als Reaktion auf die von Brüssel geforderte CO2-Abgabe auch für Nicht-EU-Fluggesellschaften mit einem Boykott von Airbus droht und die deutsche Industrie die Kanzlerin vor einem Handelskrieg warnt, wird deutlich, wo derzeit die Musik in der Wirtschaft spielt. Doch was bedeutet Pekings Aufstieg zur Weltmacht für den Rest des Südens? Können Brasilien, Indien oder Südafrika das chinesische Modell kopieren? Oder sollte sich Chinas Erfolg gar als Hindernis für potentielle Nachfolger herausstellen, da es die wenigen Nischen, die es in der Weltwirtschaft gibt, besetzt? Diesen Fragen widmet sich die aktuelle Nummer der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Die Chancen anderer Länder, dem chinesischen Modell zu folgen, beurteilt der Marburger Soziologe Dieter Boris skeptisch. Schon jetzt würde Chinas Präsenz auf wichtigen Exportmärkten wie den USA und der EU zu negativen Folgen bei der Konkurrenz führen, da diese zum Teil ähnliche Produktionsniveaus und -sparten wie der »aufholende Champion« aufweist. Seiner Meinung nach müßte Pekings Aufstieg »grundsätzliche Machtverschiebungen auf dem Weltmarkt« herbeiführen, was er allerdings für wenig wahrscheinlich hält.

Wie dies konkret aussieht, zeigen die beiden Wiener Wirtschaftswissenschaftler Karin Fischer und Christian Reiner in ihrem Beitrag über die Wertschöpfung in globalen Güterketten. So habe Mexiko, das lange Zeit einer der wichtigsten Schuhhersteller weltweit war, während der 90er Jahre massiv Anteile auf dem wichtigen US-Markt an den Billigproduzenten China verloren. Eigentlich kein Problem, könnte das Land doch von seiner langjährigen Erfahrung zehren und sich von der Produktion auf weitaus profitablere Stufen der Warenkette wie Marketing oder Design verlagern. Doch genau diese gehören zur »Kerngeschäftstätigkeit der amerikanischen Käuferunternehmen«.

Die Unabhängigkeit von globalen Machtverhältnissen galt für Generationen linker Wissenschaftler als einzige Möglichkeit, dauerhaft Wohlstand zu erreichen. Gegenteilig argumentiert der Leipziger Politikwissenschaftler Hartmut Elsenhans. »Für eine bessere Gesellschaft müssen die Errungenschaften vom Kapitalismus bewahrt werden«. Ohne den Marktmechanismus und die Konkurrenz, »bestehe die Gefahr, daß die Dynamik« verlorengehe.

Den »Reformismus« seiner Thesen, will er gar nicht bestreiten: »Die Aneignung der Gesellschaft durch sich selbst« sei nicht durch das Ersetzen von Markt durch Plan zu erreichen, sondern durch intelligent gesteuerte Dezentralität. Der Kapitalismus, so Elsenhans, sei zu wertvoll, um ihn den Kapitalisten zu überlassen.

** Aus: junge Welt, Montag, 2. April 2012


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