Das Paradies auf Erden? Nicht in Sicht!
Trotz Finanz- und Wirtschaftskrise hält Francis Fukuyama an seiner These fest dass der Kapitalismus "Das Ende der Geschichte" sei
Von Gerhard Grote *
In einer Sonderausgabe der Zeitschrift »Newsweek International« konstatierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Dezember 2009, dass die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise zu keinen grundlegenden Änderungen der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung geführt hat. Und dies, so Fukuyama weiter, werde wohl auch nicht geschehen. Die etwas mysteriös klingende Überschrift des Beitrags – »Die Geschichte ist immer noch zu Ende« – verweist auf das Hauptwerk des Autors aus dem Jahr 1992: »Das Ende der Geschichte«.
Fukuyama, der zu jener Zeit den Planungsstab des US-amerikanischen Außenministeriums leitete, stellte in seinem Buch die These auf, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie der Zusammenbruch der UdSSR und der von ihr abhängigen Staaten zu einer Schlussphase der politischen Systementwicklung geführt hätten. Ein Ende der Geschichte sei erreicht, weil es nun keine weltpolitischen Widersprüche mehr gebe. Nach der Niederlage der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts – Faschismus und Kommunismus – würden sich nunmehr die Prinzipien der liberalen Demokratie und der freien Marktwirtschaft bald endgültig und überall durchsetzen. Damit seien dann erstmals in der Geschichte Bedingungen vorhanden, die nicht nur die materiellen Bedürfnisse ausreichend befriedigen, sondern den Menschen »Gefühle der Anerkennung und ihres Selbstwertes als Persönlichkeit« verschaffen.
Pikanterweise beruft sich Fukuyama neben Hegel auch auf Marx, dessen Kapitalismuskritik er allerdings ablehnt. So schreibt er: »Beide – Hegel und Marx – glaubten, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften nicht ein offenes Ende hat, sondern dass sie enden würde, wenn die Menschheit einen Zustand der Gesellschaft erreicht haben würde, der ihre tiefsten und fundamentalsten Sehnsüchte befriedigt. Beide Denker postulierten somit ein Ende der Geschichte: Für Hegel war dies der liberale Staat, während es für Marx eine kommunistische Gesellschaft war. ... Es würde dann keinen weiteren Fortschritt in der Entwicklung der grundlegenden Prinzipien und Institutionen geben, weil alle wirklich großen Probleme gelöst wären.«
In besagtem »Newsweek«-Artikel bekräftigt und aktualisiert Fukuyama nun seine geschichtsphilosophische These. Er schreibt, dass die gegenwärtige Krise ausgerechnet an der Wall Street, dem Herzen des globalen Kapitalismus, begann und fährt dann fort: »Aber trotz der Vergehen der Wall Street dominieren vernünftige ökonomische Ideen weiterhin die Welt, und die offene Wirtschaftsordnung bleibt intakt.« Er benennt zwar negative Erscheinungen der Krise, etwa die Erhöhung der riesigen Staatsverschuldung der USA, aber die Probleme seien innerhalb der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung lösbar.
Gegen die These von einem Ende der Geschichte nach einem Sieg des Kapitalismus im Weltmaßstab ist Gewichtiges einzuwenden. Zwar beruft Fukuyama sich auf einzelne Aussagen bedeutender Denker, angefangen von Plato, über Hobbes, Tocqueville, Nietzsche bis hin zu Hegel und Marx. Er zieht daraus aber äußerst eigenwillige und von vielen Kritikern zu Recht abgelehnte Schlussfolgerungen. So geht er von einer objektiven Zwangsläufigkeit im historischen Ablauf aus und negiert faktisch die Freiheit der Menschen, Geschichte nach eigenem Willen zu gestalten.
Der US-amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond etwa vertritt hierzu einen entgegengesetzten Standpunkt. In seinem Buch »Kollaps – warum Gesellschaften überleben oder untergehen« untersucht er die Ursachen für den Untergang verschiedener Volksstämme bzw. Kulturen in der Vergangenheit. Diamond kommt zu dem Ergebnis, dass diese Erscheinungen in erster Linie durch das Verhalten der Menschen, vor allem der jeweiligen Eliten, verursacht wurden. Und er zeigt, dass das auch für die Gegenwart gilt. So gehörte beispielsweise Montana Ende des 19. Jahrhunderts »zu den zehn Bundesstaaten mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in den USA; heute steht es ... unter den 50 Staaten auf Rang 49«. Hauptursache dafür sei, dass die jahrzehntelang dort tätigen Bergbauunternehmen zwar große Profite für ihre Aktionäre erzielten, aber riesige Umweltschäden mit verheerenden Auswirkungen für die Menschen zurückließen. Diamond: »In Amerika sind Firmen dazu da, ihren Eigentümern Geld zu bringen; so funktioniert der amerikanische Kapitalismus.«
Fukukymas Behauptung, dass es ausgerechnet der Kapitalismus sein soll, der paradiesische Zustände für die Menschheit hervorbringt, ist zurückzuweisen. Es ist zwar unbestritten, dass der Kapitalismus eine nie dagewesene Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit bewiesen und durch Ausnutzung der jeweils neuesten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse eine ständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität ermöglicht hat. Es gab auch Perioden, in denen diese ökonomischen Fortschritte zu einer wesentlichen Verbesserung des Lebensstandards vieler Menschen in den westlichen Industriestaaten führten. Das zeigte sich besonders in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die in der BRD als »Wirtschaftswunder« und von dem britischen Historiker Eric Hobsbawn als das »Goldene Zeitalter des Kapitalismus« bezeichnet wurden. Hauptursache hierfür war aber neben dem gewaltigen konsumtiven Nachholbedarf in dieser Zeit die sozialökonomische Herausforderung durch das Vorhandensein von Ländern, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung errichten wollten.
Die »Nebenwirkungen« der in den kapitalistischen Industriestaaten erreichten ökonomischen Erfolge waren und sind gewaltig. Ein besonders schwerwiegendes Problem sind die ökologischen Auswirkungen des vom Profitstreben beherrschten Kapitalismus. Die rücksichtslose Ausbeutung begrenzt vorhandener natürlicher Ressourcen, die bei ihrer Gewinnung und Nutzung entstehende Zerstörung der Umwelt sowie der Klimawandel haben in Zeiten der Globalisierung solche Dimensionen angenommen, dass Diamond schreibt: »Zum ersten Mal in der Geschichte droht die Gefahr eines weltweiten Niedergangs.«
Fukuyama schreibt in seinem Buch, dass die Menschheit in den vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen überwiegend in »Herren« und »Knechte« gespalten war. Er erwähnt aber nicht, dass es im Kapitalismus ebenfalls eine tiefe Spaltung der Gesellschaft gibt. Diese Kluft besteht zwischen den reichen Industriestaaten des Nordens und vielen armen Ländern der Dritten Welt, die sich trotz des Zusammenbruchs des weltweiten Kolonialsystems immer noch in ökonomischer Abhängigkeit befinden. Die Kluft besteht aber auch innerhalb der einzelnen Länder – und seit dem Ende des Kalten Krieges ist sie sogar noch größer geworden. So ist in der BRD in den letzten zehn Jahren die Zahl der ärmeren Haushalte stetig gewachsen und diese Haushalte werden immer ärmer, während es gleichzeitig mehr Reiche gibt, die immer reicher werden.
In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, werden die riesigen Gewinne aus dem Erdölexport zwischen den westlichen Erdölkonzernen und einer kleinen Elite des Landes aufgeteilt, während die Masse der Bevölkerung weiterhin in tiefster Armut lebt. Im rohstoffreichen Russland hat sich eine vergleichbare Entwicklung vollzogen. Während der Jelzin-Ära wurde hier in nur zehn Jahren – mit tatkräftiger Unterstützung US-amerikanischer Berater – der Kapitalismus eingeführt. Danach gab es einige Tausend Millionäre und sogar etliche Milliardäre, die ihren Reichtum jetzt ungeniert zur Schau stellen. Am anderen Ende der Skala leben dagegen zig Millionen Arme am Rande des Existenzminimums. »Gefühle der Anerkennung und ihres Selbstwertes als Persönlichkeit« sind bei ihnen sicher nur schwach entwickelt.
Fukuyama bezeichnet mit Recht die Demokratie als Kernstück einer fortschrittlichen Gesellschaftsordnung und behauptet, dass dieses Prinzip nur im Kapitalismus umfassend wirksam werden kann. Robert Reich, einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler der USA, erklärt dagegen: »Lange glaubten wir, dass Demokratie und Kapitalismus untrennbar miteinander verbunden sind. Aber heute stimmt das nicht mehr.« In seinem neuen Buch »Superkapitalismus – wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt« weist er nach, wie die politische Entwicklung in den USA in den vergangenen 30 Jahren dazu geführt hat, dass die Bürger in seinem Lande immer weniger Rechte und Einflussmöglichkeiten haben.
Selbst George Soros, der 1992 an der Börse gegen die britische Währung spekulierte und dabei eine Milliarde Dollar verdiente, warnte bereits 1998 in seinem Buch »Die Krise des globalen Kapitalismus – offene Gesellschaft in Gefahr« vor den verheerenden Auswirkungen eines Marktfundamentalismus. Der Journalist Hans-Ulrich Jörges spricht im »Stern« von einem neuen Kalten Krieg, »aber er wird nicht mehr mit Waffen ausgetragen, sondern mit Geld. Schauplätze sind die Finanzmärkte.« In jenem »asymmetrischen Wirtschaftskrieg« greifen mächtige Investmentbanken und kapitalstarke Hedgefonds »ganze Staaten oder Staatengruppen und deren Währungen an«. Warren Buffet, einer der reichsten Männer der Welt, nennt die dabei eingesetzten Finanzprodukte »Massenvernichtungswaffen«: »Es ist Klassenkampf, und meine Klasse gewinnt. Aber das sollte sie nicht.«
Die weltpolitischen Widersprüche sind also nach dem Ende des Kalten Krieges nicht etwa zu einem Ende gekommen, sie werden nur in anderen Formen ausgetragen.
Fukuyamas in »Newsweek« vorgetragene Einschätzung über Verlauf und Auswirkungen der gegenwärtigen Krise auf die kapitalistische Weltwirtschaft gehen völlig an der Realität vorbei. Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, kommt zu entgegengesetzten Erkenntnissen. Er weist darauf hin, dass als Folge der Krise jeder Sechste in den USA nach einem Vollzeitjob sucht, dass bei mehr als zwölf Millionen Hausbesitzern wegen der Höhe ihrer Verschuldung der Bankrott droht. Besondere Gefahren gehen von der durch die Krise ausgelösten Erhöhung der Staatsschulden und dem daraus resultierenden Inflationspotenzial aus. Die Staatsdefizite der OECD-Länder haben sich seit 2007 fast versiebenfacht, ihre gesamte Schuldenlast ist auf 43 Billionen Dollar gestiegen, allein für die Euro-Länder auf 7,7 Billionen. Die Konsequenzen aus dieser Schuldenkrise sind unabsehbar. Sie werden auch noch die Lebensbedingungen der nachfolgenden Generationen beeinflussen.
Fukuyamas Behauptung von einem endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus ist nicht haltbar. Sie widerspricht den historischen Entwicklungstendenzen und negiert die neuen Herausforderungen unserer Zeit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges haben nicht zu dem erhofften Aufschwung der kapitalistischen Weltwirtschaft und zu einer Verbesserung der Lage der Weltbevölkerung geführt. Das Gegenteil ist eingetreten. Die derzeitige strukturelle Krise des Kapitalismus hat alle Bereiche der Gesellschaft erfasst. Es zeigt sich, dass der Kapitalismus nicht in der Lage ist, die gewaltigen im 21. Jahrhundert vor uns stehenden Probleme wie die Erhaltung der natürlichen Ressourcen, den Schutz der Umwelt, die Beseitigung der tiefen Kluft zwischen wenigen Reichen und vielen Armen sowie die Gewährleistung ausreichender Lebensbedingungen für alle Menschen auf dieser Erde zu lösen. Ein Systemwechsel ist notwendig.
Der Versuch, im 20. Jahrhundert in einigen europäischen Ländern den Sozialismus einzuführen, ist zwar gescheitert. Neben schwerwiegenden äußeren Faktoren als Teil des Kalten Krieges war die mangelnde Demokratie eine Hauptursache dafür. Hinzu kam, dass Bestrebungen, anstelle des sowjetischen Modells einer starren, zentralistischen Planwirtschaft andere Methoden anzuwenden wie z. B. das von Ota Sik im »Prager Frühling« 1968 vorgestellte Konzept einer »sozialistischen Marktwirtschaft«, von der Sowjetunion mit aller Härte unterbunden wurden. Dennoch lebt die Idee von der Schaffung einer gerechteren sozialistischen Gesellschaft weiter. Nach einer vor Kurzem durchgeführten Umfrage halten 74 Prozent im Osten, aber auch 47 Prozent im Westen der BRD den Sozialismus für »eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde«.
Gegenwärtig erleben wir in einigen Ländern Lateinamerikas Tendenzen, die Wirtschaft nach sozialistischen Prinzipien zu organisieren. Aber so wie die Entwicklung des Kapitalismus sich in mehreren Stufen über einen längeren Zeitraum vollzog, wird auch der Aufbau des Sozialismus im Weltmaßstab nur schrittweise möglich sein und eine längere Zeit benötigen. Ein »Ende der Geschichte« jedenfalls ist noch lange nicht in Sicht.
* Aus: Neues Deutschland, 14. August 2010 (Forum)
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