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Rätselraten um Standardgewehr der Bundeswehr – Wie treffsicher ist das G36?

Ein Beitrag von Christian Peter in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Die Bundesregierung hat beschlossen, die kurdischen Peschmerga bei ihrem Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Liefern will man u.a. 8.000 Sturmgewehre vom Typ G36. Das G36 ist das Standardgewehr der Bundeswehr. Mehr als 170.000 dieser Waffen hat das Verteidigungsministerium gekauft. Allerdings hat es in letzter Zeit immer wieder Berichte über Probleme mit diesem Gewehr gegeben. Einzelheiten von Christian Peter:


Manuskript Christian Peter

Die Standardwaffe der deutschen Soldaten macht bereits seit längerem Negativ-Schlagzeilen. Bereits vor zwei Jahren gab es eine parlamentarische Anfrage des Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele von den Grünen. Darin war von – so wörtlich - „erheblichen Mängeln“ die Rede. Und im vergangenen Jahr berichtete das ARD-Fernsehmagazin Report Mainz über eine fehlende Präzision heißgeschossener Waffen. Die Bundeswehr wiegelte ab. Anfang des Jahres präsentierte sie dann das Ergebnis einer Untersuchung. „Das G36 der Bundeswehr ist treffsicher“, lautete die Überschrift der Pressemitteilung. Danach ist es in der Vergangenheit lediglich aufgrund einer fehlerhaften Munitions-Charge zu Problemen bei der Treffgenauigkeit gekommen. Das Sturmgewehr sei technisch zuverlässig und ohne Mängel. Es erfülle – so wörtlich - „vollumfänglich die Anforderungen der laufenden Einsätze“.

Also alles geklärt? – Offenbar weit gefehlt. Denn wenig später stellte der Bundesrechnungshof diesen Befund in einem Bericht an den Haushaltsausschuss in Frage. Die Munition wurde in dem als Verschlusssache eingestuften Papier nicht als allein in Frage kommende Ursache gesehen. Anders als von der Bundeswehr behauptet.

Für Jürgen Hardt , Mitglied des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag, bedarf dieser Vorgang der Aufklärung. Der CDU-Politiker:

O-Ton Jürgen Hardt
„Das G36 ist das seit Mitte der neunziger Jahre in der Bundeswehr eingeführte Sturmgewehr für alle Teilstreitkräfte. Es ist im Grunde die Hauptwaffe der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und deswegen gilt dem G36 und seiner Qualität und seinem Zustand natürlich die besondere Aufmerksamkeit auch des Verteidigungsausschusses.“

Der Streit um die Interpretation von Gewehruntersuchungen der Bundeswehr hat im Haushaltsausschuss zu einer gemeinsamen Haltung von Regierungsparteien und Opposition geführt. Es sollen gemeinsame Untersuchungen des G36 von Bundeswehr und Bundesrechnungshof stattfinden. Tobias Lindner, Abgeordneter der Grünen, der sowohl dem Haushalts- als auch dem Verteidigungsausschuss angehört:

O-Ton Lindner
„Wir haben als Haushaltsausschuss einstimmig beschlossen, dass solange diese Erkenntnisse nicht vorliegen, wir bei jeder neuen Beschaffung, die vorgenommen würde, uns ein Mitspracherecht ausbehalten. Also nicht erst, wenn es über 25 Millionen Euro geht. Man kann auch sagen: es gibt jetzt erst mal einen Beschaffungsstopp für dieses Gewehr!“

Die Bundeswehr kauft also vorerst keine neuen G36-Sturmgewehre. Zuständig für die Ausstattung der Soldaten mit dem Gewehr ist bei der Bundeswehr das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr, kurz BAAIN. Zu detaillierten Fragen von NDR Info wollte die Behörde nicht Stellung nehmen. Ein Sprecher war lediglich zu einem allgemeinen Statement bereit. Der Tenor: Mit der Waffe sei alles in Ordnung. Sie sei zuverlässig und erfülle alle geforderten Vorgaben. Man werde aber in Abstimmung mit dem Bundesrechnungshof weitere Untersuchungen durchführen. Kurz: Aus Sicht der Bundeswehr gibt es überhaupt kein Problem mit dem G36.

Der Hersteller des Sturmgewehrs, Heckler & Koch, sieht das ähnlich. In einer Pressemitteilung Ende Juni heißt es, der „Bundesrechnungshof agiere rufschädigend“. Betont wird, es gebe keine Mängel an der Waffe. Mehrfache Anfragen von NDR Info wurden von Heckler & Koch allerdings nicht beantwortet.

Weniger zurückhaltend ist dagegen die Presse. Das Magazin STERN berichtete im Juli, der Wehrbeauftragte, Hellmut Königshaus , habe bereits im März 2012 den damaligen Verteidigungsminister de Maiziere auf Berichte von Soldaten aus den Auslandseinsätzen zur mangelhaften Treffsicherheit des G36 hingewiesen. Aus dem Bericht des Rechnungshofes zitiert die Zeitschrift einen ähnlich lautenden Passus - Zitat:

Zitat
„Einsatzmeldungen und Erfahrungen der Bundeswehr im Schießbetrieb bestätigen unverändert eine von der Munition unabhängige mangelnde Treffgenauigkeit.“

Demnach gibt es also offenbar Klagen und Beschwerden von Soldaten über das Gewehr - auch aus Einsatzgebieten wie Afghanistan. Sind diese möglicherweise von der Bundeswehrführung ignoriert oder nicht ernstgenommen worden?

Der Sprecher des für die Ausrüstung der Bundeswehr verantwortlichen Bundesamtes, Andreas Nett, beharrt allerdings in seinem Statement gegenüber NDR Info darauf, es gebe keine entsprechenden Berichte von Soldaten aus Einsätzen:

O-Ton Andreas Nett
„Mängelberichte liegen uns trotz mehrfacher Nachfragen nicht vor!“

Das sieht der Verteidigungsexperte der Grünen, Tobias Lindner, anders. Zudem kommen ihm Zweifel an der richtigen Interpretation von bundeswehrinternen Untersuchungen:

O-Ton Lindner
„Wenn man sich da reinkniet, dann merkt man, dass es Meldungen, viele Meldungen, von Soldaten gab, dass es bundeswehreigene Untersuchungen gab, die enorme Zweifel an der These rühren, es läge nur an der Munition. Und plötzlich und völlig unerklärbar tauchen diese Probleme dann in den Vorlagen, die an die Staatssekretäre gingen, nicht mehr auf. Das kann sich eigentlich niemand erklären. Und mein Ergebnis ist, dass es tatsächlich bei der Bundeswehr ein systematisches Problem gibt, wenn es darum geht, wie mit Problemen umgegangen wird und wie man solche Probleme erkennt und sie dann hoffentlich auch abstellt.“

Gibt es bei der Bundeswehr eine unzureichende Fehler-Kultur? Neigt der Apparat dazu, Probleme schönzureden und Schwierigkeiten unter den Teppich zu kehren? Erinnerungen an die Euro Hawk-Affäre werden wach.

Warum aber gibt es möglicherweise Probleme mit dem Standardgewehr der Bundeswehr? Der Vorteil des G36 ist sein mit rund 3,5 kg relativ geringes Gewicht. Dies wird durch leichte glasfaserverstärkte Kunststoffkomponenten am sogenannten Waffengehäuse erreicht. Das Magazin STERN sieht in dem Kunststoff die Ursache für die festgestellten Probleme und beruft sich dabei auf den Rechnungshofbericht. Bereits bei starker Sonneneinstrahlung und erst recht bei Dauerfeuer könne der Kunststoff weich werden, das Gewehr sich verziehen. Darunter könne die Zielgenauigkeit leiden. Und das Blatt schreibt weiter – Zitat:

Zitat Stern
„Bereits im Juni 2010 hatte laut Bundesrechnungshof ein Mitarbeiter der Güteprüfstelle der Bundeswehr gewarnt: Die ‘durch häufige Schussabgabe in schneller Folge erzeugte Hitze‘ könne ‘bei allen Gewehren vom Typ G36 zu deutlichen Präzisionseinschränkungen führen‘.“

Ein fatales Fazit der Fachleute. Kommt es im Gefecht mit Kriegswaffen doch darauf an, dass die Waffe auch dort trifft, wohin der Soldat gezielt hat.

Ein anderes Detail verblüfft Ralph Herrmann. Er ist Spezialist für militärische Waffentechnik. Für den Waffensachverständigen sind klare Anforderungen zum Hitzeverhalten bei der Beschaffung einer Kriegswaffe ein Muss:

O-Ton Herrmann
„Ich halte das für einfach für erforderlich! Das ist einfach auch wichtig bei solchen Waffen! …. Bei einer Waffe, die sozusagen seriell gefertigt ist und jedem Soldat übergeben wird, sollte man da besonders darauf achten. Ich bin ja auch erstaunt darüber, wenn ich Pressekommentare lese, dass solche Dinge nicht im Vorfeld gemacht worden sind!“

Auch der Verteidigungsexperte der Grünen, Tobias Lindner ist irritiert:

O-Ton Lindner
„Wenn Berichte [der Presse] stimmen, wonach es in den vertraglichen Reglungen mit der Herstellerfirma überhaupt keine Spezifikationen gibt, was das Hitzeverhalten betrifft, dann muss da nachgebessert werden. Nachdem was in der Presse zu lesen war, hat man wohl bei der Beschaffung des Gewehrs Mitte der neunziger Jahre gar nicht daran gedacht. Die Erfahrung auch aus Einsätzen zeigt jetzt aber, dass das Hitzeverhalten ein ganz relevanter Punkt ist. Und da will ich natürlich schon, dass das, was der Hersteller uns schuldet, auch tatsächlich den Erfordernissen der Einsätze angemessen ist.“

Hat die Bundeswehr also auf wichtige Vorgaben bei der Beschaffung verzichtet? Wurden Kenntnisse von Mängeln beim Gebrauch der Waffe im Einsatz nicht weitergegeben? Wurden vorliegende Untersuchungen zu Trefferabweichungen falsch interpretiert? Und wenn ja, warum? Hat das Qualitätsmanagement der Waffennutzung versagt? Fragen über Fragen. Sollten sich Fehler im Sturmgewehr G36 bestätigen, stünden auch das Verteidigungsministerium und seine Arbeitsabläufe bei Beschaffung und Nutzung mit auf dem Prüfstand. Tobias Lindner von den Grünen:

O-Ton Lindner
„Ich erwarte, dass wir in diesem Herbst noch diese Untersuchung vorgelegt bekommen, woran es denn endlich liegt. Und was das Problem mit dem G36 ist, ob es nun die Munition ist, das Gewehr ist oder ob es eine andere Ursache gibt. Und dann müssen Konsequenzen daraus gezogen werden. Entweder, wenn es an der Waffe liegen sollte, beim Gewehr selbst. Oder man muss dann auch nochmal über die Handwaffenkonzeption neu nachdenken.“

Für Lindner hat die Verteidigungsministerin eine Bringschuld. Im Frühjahr hat sie ihren Rüstungsstaatssekretär entlassen. Seit dem Sommer gibt es eine Nachfolgerin. Die neue Staatssekretärin Katrin Suder steht vor keiner leichten Aufgabe. Denn letztlich geht es darum, die Beschaffungsprozesse bei der Bundeswehr zu verbessern und transparenter zu machen. Eine Herkules-Aufgabe.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 7. September 2014; www.ndr.de/info


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